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Falls es wirklich einen Gott gibt (ich behaupte nicht, dass er existiert), lässt er sich mit einem Footballteam vergleichen, das eine ausgeglichene Bilanz vorweist. Manchmal kriegt er alles auf die Reihe und manchmal nicht. Ich muss ehrlich sein: Sogar die amerikanische TV-Wahrsagerin Ms. Cleo kann bessere Statistiken vorweisen, und sie hatte darüber hinaus noch eigene Werbespots. Wenn du jetzt erwiderst: „Klar, es gibt einen Gott“, dann brauchst du nicht dein Kristallkreuz zu schwenken, denn das zählt für mich nicht. Es ist nicht cool, das Vaterunser darin zu sehen und wie ein scheinheiliger Fernsehprediger aufzutreten – das ist doch nur gruselig und beängstigend. Diese Typen sind doch die gleichen Leute, die dir einen Grillwagen verkaufen, der von den Amischen hergestellt wurde, dieser täuferisch-protestantischen Glaubensgemeinschaft, die die moderne Technik ablehnt. Wir würden diesen angeblichen Vertrauenspersonen keinen Glauben schenken.
Das ist der erste Schritt auf dem Weg, die mythologischen Regeln abzuschaffen, damit sie von einer menschlichen, sehr menschlichen, aufrichtigen und herzlichen Sichtweise abgelöst werden, um so zur nächsten Stufe der Evolution zu gelangen. Wir sollten unsere kleinen Götter und die Grundrichtlinien, die sie uns auferlegen, hinter uns lassen. Wir sollten unsere veralteten Ideen wie eine Tasche in den Müll werfen und uns am Flughafen was Neues zulegen. Wir sollten dem künstlichen Schoß der Gottheiten entfliehen, die wir kreieren, und einen neuen „Anbieter“ in Craig’s List suchen [Online-Netzwerk für Dienstleistungen]. Hört auf solchen Druck auszuüben! Die Menschen haben gerade erkannt, dass sie ihren Willen frei umsetzen können. Ich frage dich: Wenn du Gott wärst, mit nur einem Gedanken alles haben und verändern könntest, warum würdest du noch länger als nötig auf dieser experimentellen Ameisenfarm rumhängen, statt eine neue zu erschaffen? Wir sind nicht Puppen von Papisten [Glaubensgemeinschaft im England des 17. Jahrhunderts; Demokratiefeinde und Dogmatiker]. Wir sind kein Beiwerk in einem verdammten, experimentellen Film der Zeugen Jehovas. Wir sind viele Menschen auf der Suche nach Antworten, und für mich hat die Religion den gleichen Wert wie das Lehrbuch aus dem letzten Jahr – längst überholt und verunstaltet durch viel zu viele Randbemerkungen des letzten Lesers.
Vielleicht wird den Leuten ein Licht aufgehen. Na ja, möglicherweise auch nicht. Der Kampf liegt in unserer Natur, genau wie die Tendenz Führern zu folgen. Ehrlich, das soll jetzt keine Warnung sein, sondern nur das menschliche Verhalten beschreiben. So sind wir nun mal. Wir Menschen wollen uns verändern, aber unsere Seelen sind mit genug Pisse und Senf beschmutzt, dass wir gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, um uns aus der moralischen Spirale, dem Loop, zu befreien und Erleuchtung zu finden.
Versuche zu verstehen und lies weiter. Denk an das Leben, wie es ist, und beweg dich vorwärts. Da ich mich schon auf die möglichen Konsequenzen dieses Buchs vorbereitet habe, solltest du dich auf meine winzigen, kleinen Rügen, Sticheleien und Provokationen einstellen. Wenn das Buch des Lebens fortgeschrieben wird, können wir Drehungen und Wendungen einbauen, zu Gunsten einer besseren Zeit und neuer Wege. Wenn das geschieht, sitzen wir wieder auf der Schulbank, dazu bereit, unsere Prüfungen mit Bravour zu bestehen. Mein Credo lautet: Behandele alle Menschen wie Geburtstagskinder, aber sei vorsichtig, denn sie könnten in der nächsten Sekunde auf die Geburtstagstorte kotzen. Wir leben nicht in einer Zeit, in der wir uns gemütlich auf einen Zaun setzen können – es ist an der Zeit, diesen verfluchten Zaun niederzureißen. Setze ein Zeichen auf dem Weg der Selbstfindung und versuche diese Mühlsteine namens Sünden hinter dir zu lassen.
Der Glaube an sich ist großartig, denn er eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Ich möchte, dass du dir das holst, was dir schon immer gehört hat. Wenn das Licht, das du suchst, hell genug leuchtet, wird sich ein Weg eröffnen. Wenn du dich bedrückt fühlst, kannst du immer eine neue Glühbirne in die Fassung drehen. Lasse es niemals zu, dass die Beschränkungen deines Verstehens dich daran hindern, weiter zu kommen. Wir können bessere Menschen werden und damit bessere Menschen sein. Vertraue mir – es ist so einfach, wie es klingt.


Bevor es weitergeht, muss ich erst mal was klarstellen. Mir ist bewusst, dass ich einige Leute provozieren werde und mich somit zahlreichen Beschimpfungen aussetze, aber offen gesagt, habe ich so was schon erlebt. Hier kurz eine Tatsache. Ich weiß es und du weißt es. Tief in uns, in diesem bizarren Wartezimmer, das wir Seele nennen, sind wir uns alle einig, dass die bekannte Komikerin Roseanne Barr niemals lustig war – das ist eine unumstößliche Wahrheit. Niemand traut sich eine weitere Meinung offiziell zu verkünden, und so bin ich der Motherfucker, der das macht.
Kino-Nachos sind keine echten Nachos.
Sie sind es nicht! Kino-Nachos sind nicht mehr als Chips und Dip. Zuallererst haut man sich seine Nachos nicht selbst zusammen, und schon recht nicht in einem großen, dunklen Saal ohne Tisch. Zweitens: Echte Nachos sind mehr als beschissene Tortilla-Dreiecke in luftdicht verschlossenen Plastikbecherchen, voller würzigem, glibberigem Käse – und mir ist es scheißegal, wie lange der Mist in der Mikrowelle gebrutzelt wird.
Wahre Nachos sind ein unvergleichliches Erlebnis, eine den Gaumen betörende Mischung aus Fleisch, Käse, Pfeffer, Hühnchen, saurer Soße, Avocado-Pürree und knusprigen Maiswürstchen, zubereitet für zwei oder mehr Personen, die es darauf abgesehen haben, einen Frontalangriff auf die Magenwände zu starten. Nachos müssen eine gigantische Feuersbrunst im Mund entfachen, eine majestätische Tex-Mex-Erfahrung sein, bei der jeder Biss zu einer einzigartigen Delikatesse wird.
Kino-Nachos dagegen sind eine verdammte Verarsche. Sie sind der deutliche Hohn auf alles Essbare und eine Verarschung der Moral. Die Industrie hat so eine beschränkte Sichtweise, dass sie nicht mehr weiß, was einen Snack ausmacht, versucht damit eine ehemalige Gaumenfreude wieder ins Spiel zu bringen. Es ist nicht unsere Schuld, dass sich ihre Verkaufsschlager seit Jahren nicht geändert haben – Popcorn, Limo und Süßigkeiten. Das haben sie sich selbst zuzuschreiben. Hätten sie uns eine breitere Palette an Leckereien angeboten, wäre jetzt diese dämliche Diskussion überflüssig. Ich aber werde nicht meine geliebten Nachos dem Diktat der Konzerne opfern. Mit jedem Atemzug werde ich für meine unverfälschten, reinen und unglaublich raffinierten Nachos kämpfen. Mit jedem Atemzug, ihr Motherfucker.
Gut, jetzt bin ich so richtig angepisst. Also ist es der ideale Zeitpunkt, um über Zorn zu sprechen.
Du kennst das Gefühl. An beiden Seiten deines Blickfelds tauchen schwarze Balken auf. Deine klare Sicht verschwimmt. Du kannst schon die Dämonen erkennen, die deinem Blick folgen, der durch den Raum schweift. Deine Mundhöhle wird trocken. Statt der Spucke scheint sich ein gefährliches Gift gebildet zu haben. Die Fäuste ballen und öffnen sich, und aus der Handinnenfläche rinnt Blut, das sich auf die traurige Reise zu deinen Fingern begibt, eine Art Karte von den Ereignissen zeichnet, die zu dieser labilen Gemütsfassung führten. Psychologisch betrachtet sind jetzt unterschiedlichste Ausdrucksformen möglich. Du kannst laut und aggressiv werden, deine Freunde und die Familie beschimpfen, fluchen und/oder intellektuell auf das unterste Niveau abstürzen. Es ist auch möglich in eine Todesstille zu verfallen, der so genannten Ruhe vor dem Sturm. Mit der Stille erstickst du die Umwelt, die ahnt, dass gleich die Hölle aus den Tiefen ausbrechen wird. Doch es gibt eine Parallele zu einer anderen Emotion. Die Leidenschaftlichkeit des Zorns oder der Wut lässt sich in ihrer Intensität kaum von der Liebe unterscheiden – beide bilden jeweils ein episches Ende des Malstroms, der uns zu Menschen macht.
Klar, das ist leicht gesagt. Es ist leicht, sich poetisch über diesen simplen Mechanismus auszulassen. Wir alle kennen das Gefühl nur zu gut. Einige Menschen weinen, die anderen schreien sich den Hals blutig. Aber letztendlich ist es die „Sünde“ auf unserer Liste, die uns alle eint. Die meisten können mit ihrer Lust, ihrem Appetit, der Antriebslosigkeit, der Eigennützigkeit und der Begierde umgehen oder unterdrücken sie ganz einfach.
Aber bei uns allen brennt mal eine Sicherung durch.
Gib es zu.
Gib es verdammt noch mal zu.
Wir alle rasten mal aus.
Persönlich kann und möchte ich das nicht verurteilen.
Wut empfinden, bedeutet zu fühlen. Auch Liebe und Hass sind starke Emotionen. Aber die beiden zuletzt genannten Gefühle zählen nicht zu den „Tödlichen Sieben“.
Das stimmt doch, oder?
Es gibt einen feinen Unterschied, warum die Wut/der Zorn keine Sünden sind. Als Ventil wirken sie kathartisch, also befreiend. Es gibt ein gutes Gefühl, sich den Scheiß von der Seele zu schreien, auch wenn dieser Scheißhaufen in den Haaren eines anderen landet. Wir nörgeln, schreien, beschweren uns, lassen Dampf ab, zetern, toben, giften uns an und versuchen so etwas loszuwerden, weil es sich wirklich gut anfühlt. Das kann doch nichts Negatives sein! Für uns ist das eine Art auszuatmen, die stickige Luft zu reinigen und zu dem zurückzukehren, womit sich diese Spezies namens Mensch die Zeit vertreiben sollte – in den Straßen zu tanzen und Freude am Leben zu empfinden.
Wie dem auch sei, der Zorn ist die einzige „Sünde“ auf der Liste, der eine Dunkelheit ausstrahlt, die sofort wahrgenommen werden kann. Die Emotion kann augenblicklich ausgelöst werden. Mit anderen Worten – der Zorn ist ansteckend. Er kann wie ein Blitz in deine Realität fahren und eine Trauer verursachen, die dein ganzes Leben lang anhält.
Glücklicherweise wird ein starker Charakter den Menschen beschuldigen und nicht den Zorn.
Unglücklicherweise habe ich selbst erlebt, welch ein Schaden Wut anrichten kann.

Mit elf Jahren machte ich diese Erfahrung, und danach fühlte ich mich nie wieder unschuldig. Ich musste schnell erwachsen werden, und das war ein Job, den ich vermasselte, zumindest in einigen Bereichen. Es ist schon erstaunlich und traurig, was wir manchmal über uns ergehen lassen müssen, nur um zu überleben. Als ich mit der hässlichen Seite der Menschheit konfrontiert wurde, zerbrachen mein Weltbild und das Gefühl des Schutzes und des Geborgenseins.
Meine Schwester und ich blieben nach einem Barbecue in dem Haus eines „Freundes“ meiner Mutter. Es lag nur einige Meilen von unserem Zuhause entfernt. Ich glaube, alle Gäste übernachteten da, denn jeder war voll bis obenhin und wollte nicht besoffen zurückfahren. Vielleicht wollten sich die Leute am Morgen aber noch einen genehmigen, um dann wieder zu den „Verpflichtungen“ des realen Lebens zurückzukriechen. Was für ein Schwachsinn! Niemand fühlte sich zuständig, mich und meine Schwester zu beschützen und abzuschirmen. Schon jahrelang peinigten uns alle nur erdenklichen Schattierungen des Hasses und der Wut, doch an diesem Abend sollte es noch schlimmer kommen. Was geschieht mit dir, wenn plötzlich die ganze Welt auf dich einstürzt?
Meine Schwester und ich hielten uns im Wohnzimmer auf. Wir hatten beide jeweils eine Couch zum Pennen. Die Bewohner des Hauses möchte ich mal Jim und Sadie nennen, vor allem, weil ich mich lange Zeit bemüht habe, ihre Namen zu vergessen. Sie stellten so was wie „professionelle Jugendliche“ dar, denn obwohl in den Dreißigern, verhielten sie sich noch wie 16-Jährige. Delinquenten beim Bluffen zuzuschauen wirkt manchmal so, als würden Affen Poker spielen. In dem Moment, in dem es so scheint, als wüssten sie, was sie machen, scheißen sie andere Leute an. Jim war arbeitslos, aber im Grunde genommen noch am meisten „beisammen“. Er verbrachte sogar die Zeit mit uns, machte Lunch und kümmerte sich um alles. Sadie lässt sich, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, als eine miese, versoffene Drogenabhängige beschreiben – einfach ein Loch, in das Männer ihr Ding rein steckten. Und sie dachte noch, diese Typen gäben wirklich was auf sie. Sie hatte drei Kinder von drei verschiedenen Kerlen, und um alle kümmerte sich Jim – Respekt, mein Freund! Sie war eine zweitklassige Frau in drittklassigen Klamotten – unausstehlich, laut und ignorant. Sadie scherte sich um nichts, und machte keinen Hehl daraus. Ich werde nie verstehen, wie Jim es mit so einer schäbigen Schlampe aushalten konnte. Aber er lebte ja nicht allzu lang mit ihr zusammen.
In dieser Nacht, nach dem Barbecue, hatte sich Sadie abgesetzt, um auf eine andere Party zu gehen – ohne jemanden Bescheid zu sagen. Sie verließ die Kids ohne nachzudenken, um noch mehr Alkohol zu kippen und sich anderen Scheiß zu besorgen. Ich glaube, meine Mutter begleitete sie, denn ich kann mich nicht erinnern, wo Mum in dieser Nacht schlief. Ich beobachtete Jim, der stündlich wütender und wütender wurde, denn Sadie ließ auf sich warten. Er brachte ihre Kinder ins Bett. Immer noch kein Zeichen von ihr. Er setzte sich mit mir und meiner Schwester vor den Fernseher. Nichts. Kurz danach schliefen wir auf der Couch ein. Jim schlummerte in seinem Lehnstuhl. Noch immer war sie nicht aufgeschlagen.
Ich wachte auf, als jemand an die Haustür hämmerte und laut schrie. Gerade als ich neugierig meinen Kopf hob, wurde klar, dass es kein Hämmern, sondern lautes Treten war. Da trat jemand mit voller Kraft gegen die Tür, weil der Sicherheitsriegel das Schloss blockierte.
Alles lief in Zeitlupe ab: Jim sprang aus dem Sessel, die Tür sprang mit einem lauten Bersten auf und Sadie stand da, ein Fuß noch auf dem Treppenabsatz.
Dann schlug ihr Jim voll ins Gesicht.
Sadie flog rückwärts in den Vorgarten, viel zu besoffen um sich zu verteidigen. Sie schrie um Hilfe und verdammte Jim mit jedem nur erdenklichen Fluch. Er hatte die ganzen Stunden der Stille ertragen, in denen sie eine Party feierte, um ihre Leere zu überspielen, und ihn ohne schlechtes Gewissen mit einem Haus voller Kinder zurückließ – die noch nicht mal seine eigenen waren. Er konnte nur noch seine Füße spüren, mit denen er ihr in den Rücken trat. Dann fiel er über Sadie her und würgte sie. In der Ferne hörte ich eine unbekannte Stimme, die die beiden „heißblütigen Liebenden“ warnte, dass gleich die Cops kämen. Aber Jim war das egal – er empfand sich als Mensch, der verarscht und ausgenutzt wurde, in Bezug auf seine Wünsche und Bedürfnisse degradiert auf einen flüchtigen Gedanken seiner „Freundin“. Wie ein außer Kontrolle geratener Dampfkessel stand er vor dem Platzen, würde nicht schnell jemand das Sicherheitsventil aufdrehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Wut abzulassen, die sich aufgestaut und angesammelt hatte. Er wirkte wie eine Bombe mit zwei Fäusten, wie ein Vesuv auf zwei Beinen. Er wollte zerstören.
Ich beobachtete das alles, auch das unvermeidbare Nachspiel. Sadie versuchte zu flüchten und Jim verfolgte sie, ohne dabei an die Kinder zu denken. Ich setzte mich hin und wartete mit den jüngeren Kids. Die Cops tauchten auf, Hände auf die Pistolen gelegt. Meine Schwester fing an zu weinen und steckte damit die anderen an. Ich erklärte den Polizisten, dass die beiden weggerannt waren. Einige Cops liefen in die ungefähre Richtung. Irgendwann später führten sie Jim in Handschellen ab, während Sadie in einem Polizeiauto saß und wie wild schrie. Ein Beamter fragte mich nach der Telefonnummer.
Ein entfernter Freund meiner Mutter kam, um uns abzuholen und nach Hause zu bringen. Die Sonne ging auf. Mehrere Tage lang sagte meine Schwester nichts mehr. Wir sahen diese Leute nie wieder.
Die Wut an sich ist keine Sünde, kann aber ein Auslöser sein, Sünden zu begehen. Wenn wir Gefühle aufstauen und uns nicht eingestehen, dass wir den Ärger zulassen müssen, wird das zu einem richtigen Problem. Es kann ziemlich viel Mist passieren, wenn sich die Leute selbst täuschen und einreden, alles wäre in Ordnung. Ich bin mir sicher, dass Jim ein echt anständiger Kerl war, und Sadie sich um ihre Kinder Gedanken machte. Dieses Urteil basiert natürlich auf den vagen Erinnerungen eines Elfjährigen. Die genauen Geschehnisse sind im Rückblick eher verschwommen, die damit verbundenen Gefühle empfinde ich aber nach wie vor umso deutlicher. Diese Erfahrung blieb wie Scheiße an mir kleben. Niemand schützte mich und meine Schwester vor dem puren Hass und der tobenden Wut. Damit wurde mir klar, dass ein Mensch mit dem „richtigen“ Schubs und dem „richtigen“ Druck zu jeder Zeit verletzt werden kann. Das wiederum machte mich wütend, brachte mich dazu, die Welt zu hassen und anderen zu misstrauen. So eine Kindheit war ganz einfach nicht gerecht – ich hätte nicht so aufwachsen dürfen. Für die meisten Menschen ist das der Beginn einer kriminellen Karriere. Ich verwandelte diese Erfahrungen in Musik.
Aber trotz alledem bleibe ich dabei, dass Zorn keine Sünde ist. Wut und Zorn können einen Nutzen haben, wenn sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Viele der bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften wirken wütend, erschütternd und zerrissen. Mäßigung ist hier das Schlüsselwort – versuche dich zu mäßigen. Aus einem offensichtlichen Grund kann nicht der „Sünde“ die Schuld zugeschoben werden. Wenn einer beschuldigt wird, müssen auch alle anderen beschuldigt werden. Die Leute, die einfach zusahen und nicht handelten, sind schuldig. Die, die lachten und das lustig fanden, sind schuldig. Die, die still litten, statt etwas zu sagen, sind schuldig. Stell dir einen Stammbaum vor, in dem nur die Namen der Leute stehen, die an dem Abend dabei waren – dann wird klar, was ich meine.
Zorn hat aber auch eine Kehrseite, da wir in so einer Lage oft merkwürdige Dinge veranstalten. Warst du jemals so sauer, dass du nichts mehr sagen konntest? So sauer, dass aus deinem Mund der größte Scheiß kam, der der Menschheit je in die Ohrmuscheln gedrückt wurde? Diese Dummheit kann genau so ansteckend sein wie die Wut selbst. Versuch mal mit einem anderen zu reden, wenn dich alles ankotzt – die Worte sprudeln nur so hervor, alles wird lauter und lauter bis zu dem Punkt der einsilbigen Stammeleien, die wie ein luftloses Bellen klingen. Das klingt wie ein Auktionator mit Tourette-Syndrom.
Auf einen außenstehenden Beobachter können die offensichtlichen Anzeichen eines Wutanfalls sehr komisch wirken. Er sieht ein rotes Gesicht, dessen Farbe in Purpurrot umschlägt. Es mag sein, dass der Wütende zu lächeln oder zu lachen beginnt und dabei den Kopf schüttelt. Die Lippen pressen sich zusammen und die Augen verschleiern sich, während der Kampfgeist eines Clint Eastwood oder Steven Seagal in ihn fährt. Beobachte die Hände – je nach Mentalität beginnen sie entweder zu schwitzen oder sie verkrampfen sich. Wenn die Kinnlade nicht wie von einem Schock der Fassungslosigkeit runterklappt, mahlen die Zähne aufeinander. Das zu beobachten wirkt auf mich verflucht komisch, und ich ertappe mich oft beim Kichern, während sich andere Leute vor Zorn aufplustern. Das wiederum verschärft die Situation noch weiter, aber ich kann nichts dagegen machen. Es beeindruckt mich immer aufs Neue. Aber wenn ich das Ziel der Wut bin, raste ich aus und kann mich nicht mehr kontrollieren. Dann ist es das Beste, einfach zu verschwinden.
Sünden sind Schmutzflecken des spirituellen Lebenslaufs. Warum soll uns also ein Gefühl, das schon fast zum Alltag gehört, angekreidet werden? Ah, ich verstehe – der Zorn bringt uns auf einen verwirrenden Weg, auf dem wir Taten vollbringen, die unsere Reinheit beflecken. Aber angepisst zu sein, sollte nicht mit der Aussicht verknüpft sein, in der Hölle zu schmoren. Auszurasten ist die Reaktion auf einen Moment im Leben, der sich deiner Kontrolle entzieht. So ein Gefühl zählt zu den menschlichsten Empfindungen. Und warum, bitte, soll das eine Sünde sein?
Ich möchte euch mal eine Sünde aufzeigen, vielleicht eher eine traurige Tatsache, etwas wofür man sich schämt. Ungefähr zu Beginn der Neunziger war es im Heavy Metal angesagt zu schreien. Ich fand das nicht schlecht, gehörte ich doch zu den Vorläufern dieser ganzen Bewegung und schrie mir jeden Abend mein kleines, dunkles Herz aus dem Hals. Aber dann entwickelte sich was wirklich Beschissenes daraus. Die Leute hielten die Schreierei für ein ehrliches Gefühl, die Wut wurde zum Synonym aller Gefühle. Um leidenschaftlich zu erscheinen, musste man also nur in einer Metal-Band spielen – „Oh, er hat ja so viel Feeling.“ Ihr verfluchten Judas Priest, wollt ihr mich verarschen? Jeden Abend stellen sich Jazz-Sänger auf die Bühne und offenbaren uns ihre ganze Seele, und keinen interessiert das. Fuckbucket, der Lead-Sänger der Band Fill (deren Logo der Musik ähnelt – verworren, unlogisch, abgedroschen), bölkt das gesangliche Äquivalent von Kotze in ein SM57-Mikrofon, schmeißt noch eine gehörige Portion „Dad“ und „Fuck“ da rein und die Leute feiern ihn als den nächsten Jim Morrison.
Hier zeigt sich folglich keine reale Emotion, die wirklich gefühlt wird, sondern eine alte Erfahrung, die beim Schreien im Metal zur Schau gestellt wird. Es ist also vollkommen unmöglich über eine Emotion definiert zu werden, wenn keiner weiß, was genau man fühlt und ob dies wirklich gefühlt wird. Die besagte „Sünde“ bezieht sich also nur auf ein von außen wahrgenommenes Gefühl. Warum hat die Kirche so viel Angst vor fühlenden Menschen? Ich habe da eine Theorie. Die institutionalisierte Religion versucht alles, um das Handeln der Menschen zu kontrollieren, und so ist es auch sinnvoll, die Emotionen zu kontrollieren, besonders den Zorn, da dieser eine natürliche Reaktion auf Institutionen oder Einzelne darstellt, die andere unterdrücken wollen. Wie können Menschen also an einem zornigen Reflex gehindert werden, wenn ihnen ihre Taten und Gedanken vorgeschrieben werden? Erzähl ihnen einfach, dass es eine Sünde ist. Es ist eine Philosophie, die die Selbstverwirklichung verhindert. Je weiter man sich von dem Ursprung entfernt, desto undurchdringlicher wird das Ganze. Zur Zeit von Martin Luther mag es noch möglich gewesen sein, solch einen manipulativen Mechanismus umzukehren. Heute jedoch, nach Hunderten Jahren des Dogmas und der erfolgreichen Gehirnwäsche, kann man sich die Fäuste an der Mauer der blinden Akzeptanz blutig hämmern – so lange man will. Am Ende hast du dann nur blutüberströmte Knöchel und fühlst einen Anflug der Frustration der Moderne.
Ja, und falls du es bis jetzt nicht bemerkt haben solltest – ich habe ein großes Problem mit Religionen. Die organisierte Religion wurde schon immer als Blaupause für unzählige Fehltritte missbraucht, häufiger als alle anderen Institutionen, die mir in meinem Leben begegneten. Schon früh wurde mir eins klar: Für eine Glaubensgemeinschaft, die das Glorreiche der Liebe preist und Zorn als Sünde auffasst, sind sie aber eine Gruppe voreingenommener und aggressiver Menschen, nicht wahr? Wie ich schon sagte – die Scheinheiligkeit ist eine der größten Sünden in der Welt, denn die Auswirkungen sind verheerend. Die Gläubigen werden in eine Richtung gelenkt, während sich die „Rechtschaffenen“ alles erlauben können.
Letztere sollten sich genüsslich selbst ficken!
Ähnlich der Wollust, die einzige andere „Sünde“, die vordergründig als Emotion falsch interpretiert werden kann, ist der Zorn mit einem Stigma behaftet, das sich durch jahrhundertelange Falschdarstellung und Furcht ins Unendliche gesteigert hat. Wenn ein Mensch wütend wird, denken die anderen zwangsläufig, dass etwas Schlimmes geschehen wird – darauf sind sie konditioniert. Das lässt sich zum Teil auf das, ich will es mal scherzhafterweise „Höhlenmenschen-Gen“ nennen, zurückführen, aber auch auf die Propaganda der Religionen. Wenn ich wütend werde, denkt ein Großteil der Menschen automatisch, dass ich jemanden umbringen, meine Kinder schlagen, ein Pferd vergewaltigen oder etwas ähnlich „Langweiliges“ machen werde. Was ist denn hier die größere Sünde? Der Zorn oder die ganze Schlammschlacht, die um dieses Gefühl geschlagen wird?
Wut wird zu einer Sünde, wenn Eltern ihre Kinder schlagen. Ein wahrer Sünder ist der Mörder, der sein Opfer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Oder ein Lehrer, den seine negativen Gefühle zu Kindern davon abhalten, ihnen etwas beizubringen. Zu den Sündern zählt eine Frau, die ihren Mann betrügt, nur weil er ihr keinen großen Diamantring zum Geburtstag gekauft hat. Die Räder eines Busses mögen „rundlaufen“, aber ein Bus wird dich überrollen, wenn kein Fahrer am Steuer sitzt und ihn lenkt.