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Der vorliegende Aufsatz beantwortet daher zwei wesentliche Fragen:
•Welche (Marketing-)Projekte sollte das Unternehmen realisieren (und welche nicht)?
•Falls mehrere Projekte um Managementaufmerksamkeit oder Ressourcen konkurrieren: Welches Projekt ist zuerst dran? Welches Projekt soll warten?
Unbegrenzte Möglichkeiten
Die Menge der Möglichkeiten, was ein Unternehmen tun könnte, um seine Marktposition zu verbessern, erscheint viel größer als die dem Unternehmen zur Verfügung stehenden Ressourcen (Managementaufmerksamkeit, Mitarbeitende, Geld).
Es versteht sich daher von selbst, dass nicht alles, was möglich und denkbar wäre, auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Eine Auswahl ist erforderlich. Jede Auswahl hat allerdings ihren Preis: Was nicht umgesetzt wird, kann auch keine Wirkung entfalten.
Aus diesem Grund tendieren Unternehmen dazu, mehr Projekte zu starten, als das Unternehmen gleichzeitig verkraften kann. Der „Work in Progress“ (WIP) ist hoch. Bei hohem „Work in Progress“ ist klar, dass ein Teil dessen, was man sich für einen bestimmten Zeitraum vorgenommen hat, in diesem Zeitraum nicht fertig wird.
Das ist unproblematisch, sofern es sich um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Ist die Überlast allerdings – wie in den meisten Unternehmen – chronisch, müssen die aktiven Projekte laufend um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen konkurrieren, oft sogar „kämpfen“ (weil: Projektleitende sind für „ihr“ jeweiliges Projekt verantwortlich und werden entsprechend beurteilt).
In diesem Kampf um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen kommt es typischerweise zu verschiedenen Effekten, die die Projekte ausbremsen:
•Dünne Ressourcenverteilung: Die Projekte erhalten weniger Ressourcen, als sie für höchstmögliche Geschwindigkeit brauchen.
•Multitasking: Mitarbeitende und Führungspersonen fühlen sich gezwungen, zwischen verschiedenen Aufgaben in verschiedenen Projekten hin und her zu wechseln.
Infolgedessen
•steigt der Aufwand für die Projekte (im Wesentlichen durch Multitasking),
•verlängert sich die Dauer der Projekte,
•werden Projekte später abgeschlossen als geplant oder mit Abstrichen am Content,
•treten die wirtschaftlichen Wirkungen der Projekte später ein und/oder sind deutlich kleiner als vorgesehen.
Um diese unerwünschten Effekte zu kompensieren, werden
•Projekte früher gestartet (um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das Projekt zum jeweils notwendigen/vereinbarten/vorgegebenen Zeitpunkt fertig wird).
•Mehr Projekte gestartet (um „mehr Wirkung“ zu erzeugen).
Ein Teufelskreis! Das Unternehmen ist träge geworden; es reagiert langsam (Abbildung 1).

Abb. 1: Der WIP-Teufelskreis [1]
Befindet sich ein Unternehmen in dieser Situation (bei den meisten Unternehmen ist das der Fall), entsteht ein zunehmend drängender Bedarf nach mehr Transparenz, klaren Prioritäten, mehr Ressourcen, neuen/besseren Projektmanagementmethoden, Einführung schlankerer/besserer Prozesse, neue Steuerungssoftware, …
Die schlechte Nachricht allerdings ist: Jede einzelne dieser potenziellen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation erhöht zunächst den Work in Progress, belastet Mitarbeitende und Führungspersonen noch mehr, verschärft den Kampf um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen, macht das Unternehmen langsamer und träger.
Nur wenn es gelingt, die Menge der Arbeit so weit zu reduzieren, dass Projekte quasi durch das Unternehmen hindurch „fließen“ können (ohne auf Managementaufmerksamkeit oder Ressourcen warten zu müssen), bekommen wir schnelle Projekte und eine agile Organisation, die flexibel und wirksam auf Veränderungen reagieren kann.
Daher stellt sich die Frage: Welche (Marketing-)Projekte soll das Unternehmen jetzt realisieren (nämlich sehr wenige) und welche anderen (Marketing-)Projekte (oder Projektmöglichkeiten) sollte das Unternehmen jetzt streichen oder zumindest zurückstellen (nämlich sehr viele)?
Strategische Auswahl der Projekte
Marketing ist (wie jede andere Unternehmensfunktion) dazu da, das Unternehmen darin zu unterstützen, nachhaltig zu florieren, das heißt, den Nutzen/Wert, den das Unternehmen für seine Interessengruppen (Mitarbeitende, Kundschaft, Eigentümerinnen und Eigentümer) stiftet, zunehmend zu steigern, und zwar ohne die Welt zu beschädigen.
Eine (im aktuellen Weltwirtschaftssystem) unbestreitbare Tatsache ist, dass ein Unternehmen (mehr und mehr) Geld verdienen muss, um den Nutzen für seine Interessengruppen immer wieder zu steigern.
Marketing – egal ob „strategisch“ oder „taktisch“ – muss also dazu beitragen, dass das Unternehmen (mehr und mehr) Geld verdient. Das mag banal erscheinen, ist es aber nicht, denn: Für viele Marketingprojekte nimmt man zwar an, dass sie zu „(mehr und mehr) Geld verdienen“ (mehr oder weniger) signifikant beitragen, klar ist das in vielen Fällen allerdings nicht.
Das klingt zunächst unproblematisch, bis man sich Folgendes klar macht: Ein Marketingprojekt, das nicht signifikant zum Unternehmensergebnis beiträgt, schadet dem Unternehmen. Warum ist das so?
1.In der Regel nimmt sich ein Unternehmen – auch im Marketing – mehr vor, als aufgrund der vorhandenen Ressourcen (Managementaufmerksamkeit, Mitarbeitende, Geld) leistbar ist. Dadurch konkurrieren Aktivitäten/Projekte um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen. Aktivitäten, die wenig zum Unternehmensergebnis beitragen, bremsen dann andere Aktivitäten/Projekte, die viel zum Unternehmensergebnis beitragen, potenziell aus. Das schadet dem Unternehmen (siehe zuvor).
2.Intuitiv (und oft auch rational) erkennen Mitarbeitende und Führungskräfte, ob das, was sie gerade tun, dem Unternehmen als Ganzes tatsächlich signifikant nützt oder nicht. Ist die Verbindung zwischen Arbeit und deren Wirkung auf die Unternehmensergebnisse schwach oder gar kontraproduktiv, sinkt das Vertrauen der Mitarbeitenden in die Führungskräfte und die Organisation. Das schadet dem Unternehmen.
Wenigstens unter diesen beiden Gesichtspunkten ist es zwingend erforderlich, aktuelle und geplante Marketingaktivitäten daraufhin zu prüfen/zu beurteilen, ob sie signifikant (im Verhältnis zum mit ihnen verbundenen Aufwand) zum Unternehmensergebnis beitragen.
Wie das Unternehmen Geld verdient
Das Unternehmen verdient Geld, indem es gebundenes Geld (Investitionen und Bestände) in Durchsatz (Deckungsbeitrag 1 = Differenz zwischen Umsatz und tatsächlich variablen Kosten) verwandelt. Der so entstehende Durchsatz muss immer schneller wachsen als die Betriebskosten des Unternehmens. Denn: Aus dem Durchsatz müssen auf jeden Fall die Betriebskosten gezahlt werden; erst danach steht dem Unternehmen Geld für die Steigerung des Nutzens zur Verfügung [2].
Jedes Projekt muss daher dazu beitragen
•den Durchsatz zu steigern (indem es den Umsatz erhöht oder den Anteil der tatsächlich variablen Kosten am Umsatz senkt),
•das im Unternehmen gebundene Geld zu verringern (ohne den Durchsatz zu gefährden) oder
•die Betriebskosten langsamer wachsen zu lassen als den Durchsatz (ohne den Durchsatz zu gefährden oder das gebundene Kapital zu erhöhen).
Marketing ist auf „Umsatz“ ausgerichtet. Die tatsächlich variablen Kosten, das gebundene Kapital und die Betriebskosten (abgesehen von den Betriebskosten des Marketings) liegen in der Verantwortung anderer Unternehmensbereiche.
Die Wirkung von Marketing auf „Umsatz“ kann durch höheres Volumen und/oder durch höhere Preise für die – an sich – gleiche Leistung entstehen. Um zu erkennen, wie ein Marketingprojekt auf die Unternehmensergebnisse wirkt, können wir uns also darauf konzentrieren, wie „Marketing“ auf „mehr Volumen“ und „höhere Preise“ wirkt.
Nun ist jedem klar, dass weder „höheres Volumen“ noch „höhere Preise“ allein durch Marketingmaßnahmen erzielt werden können (obwohl die Ziele von Marketingleitenden oft gerade von dieser Annahme auszugehen scheinen), denn:
•Kunden brauchen einen guten Grund, um mehr (als bisher) vom Unternehmen zu kaufen oder höhere Preise zu bezahlen. Daran müssen andere Unternehmensbereiche signifikant mitwirken.
•Dass Kunden bereit sind, mehr vom Unternehmen zu kaufen und/oder höhere Preise zu zahlen, nützt nichts (sondern ist sogar schädlich), wenn das Unternehmen die angebotenen Leistungen nicht verkaufen (Vertriebsfähigkeiten oder -kapazität) oder zuverlässig liefern (Operationsfähigkeiten oder -kapazität) kann.
Mehr Volumen und höhere Preise
Wann sind Kunden gewillt, mehr von einem Unternehmen zu kaufen oder höhere Preise zu zahlen?
1.Die Kapazität des Marktes, die die Anforderungen der Kunden erfüllen kann, ist kleiner (wächst langsamer) als die Nachfrage.
2.In umkämpften Märkten: Ein Unternehmen erscheint für (einen Teil der) Kunden „irgendwie“ attraktiver als der Wettbewerb, sodass – unter ansonsten gleichen Bedingungen – die emotional geprägte Entscheidung zugunsten des Unternehmens ausfällt.
3.Dem Markt ist bekannt, dass das Unternehmen – unter ansonsten gleichen Bedingungen – (wenigstens) ein entscheidendes Kundenbedürfnis entscheidend besser befriedigt als jeder entscheidende Wettbewerber. Mit anderen Worten: Das Unternehmen verfügt über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung.
Fall 1 (Marktkapazität kleiner als Nachfrage) ist komfortabel. Marketing kann kaum etwas „falsch“ machen. Das Unternehmen wird auch ohne „Marketing“ wachsen und gedeihen (allerdings nur so lange, wie die genannten Bedingungen erfüllt sind und kein entscheidender Wettbewerber über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt). Sich darauf zu verlassen, dass man mit dem Markt mitwächst, ist daher kein sicheres Rezept dafür, nachhaltig zu florieren.
Fall 2 (umkämpfter Markt) ist mühsam. Die Vorteile, die den Kunden durch Marketingaktivitäten suggeriert werden, sind substanzarm und sprechen den emotionalen Teil der Kaufentscheidung an. Der Wettbewerb setzt dieselben Mittel ein. Das Unternehmen befindet sich im „Kampf“ gegen den Wettbewerb. Wächst der Markt nicht oder langsamer als die im Markt verfügbare Kapazität, nimmt der Kampf immer weiter zu. Das Unternehmen lebt in einem „roten Ozean“ [3]. Es geht immer weniger um tatsächliche Kundenbedarfe, sondern immer mehr um emotionale Anteile. Einen Vorsprung auf diesem Gebiet aufzubauen und aufrecht zu erhalten, ist sehr anstrengend und aufwendig. In diesem Fall ist es ein hoffnungsloses Unterfangen, aus den vielen Möglichkeiten die „genau richtigen“ schlüssig auszuwählen.
Fall 3 (entscheidender Wettbewerbsvorsprung) ist eine große Herausforderung und zugleich das einzig wirksame Szenario für ein nachhaltig florierendes Unternehmen. Wenn das Unternehmen über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt, steht es außerhalb des Wettbewerbs. Es gestaltet einen neuen, wachsenden Markt. Das Unternehmen lebt in einem „blauen Ozean“ – so lange, bis ein Wettbewerber ebenfalls die erforderlichen Fähigkeiten erworben hat.
Entscheidender Wettbewerbsvorsprung
Die entscheidende Frage für die Fokussierung von Marketingaktivitäten ist daher: Verfügt das Unternehmen über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung? Das heißt: Befriedigt das Unternehmen durch seine Leistungen und Produkte (wenigstens) ein entscheidendes Kundenbedürfnis entscheidend besser als dies jeder entscheidende Wettbewerber kann und will?
•Ja? Dann kann Marketing sich darauf fokussieren, die Awareness im Markt (für das Kundenbedürfnis und die Leistungen des Unternehmens) zu erhöhen. Jedenfalls sofern das Unternehmen die für ein wachsendes Geschäft erforderliche Kapazität in anderen Unternehmensbereichen entsprechend aufbauen kann.
•Nein? Dann muss Marketing sich darauf fokussieren, dem Unternehmen zu helfen, einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung aufzubauen und (anschließend) in lukratives Geschäft zu verwandeln (gleichzeitig sollte Marketing alle anderen Projekte unterlassen).
Die Diskussion, ob das Unternehmen über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt oder nicht, kann mühsam sein. Man räumt ungern ein, dass sich das Unternehmen „kaum“ vom Wettbewerb unterscheidet.
Wie kann man zu einer pragmatischen Einschätzung gelangen, ob das Unternehmen über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt oder nicht?
•Zum einen durch Ausschluss: Die Fälle 1 und 2 sind leicht zu erkennen. Befindet sich das Unternehmen in einer dieser beiden Situationen, verfügt es eben nicht über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung.
•Zum anderen durch die Beantwortung der Frage: „Ist ‚Preis‘ ein entscheidender Faktor?“ Wenn ja, ist das Unternehmen dem Wettbewerb sehr ähnlich; es hat keinen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung.
Umfangreiche Erfahrungen zeigen für die meisten Unternehmen:
•„Preis“ ist ein entscheidender Faktor.
•Der Markt, in dem das Unternehmen agiert, ist „rot“.
•Das Unternehmen hat keinen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung.
Königsaufgabe im Marketing: Wettbewerbsvorsprung erzeugen
Anders formuliert: Die Königsaufgabe von Marketing besteht darin, dem Unternehmen zu helfen, einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung aufzubauen, diesen Vorsprung in lukratives Geschäft zu verwandeln und diesen Vorsprung aufrecht zu erhalten (in dieser Reihenfolge).
Bevor man also die verschiedenen (aktiven und geplanten) Marketingaktivitäten und -projekte betrachtet, beantwortet man rigoros die Frage, ob das Unternehmen über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt oder nicht. Abhängig von der Antwort auf diese Frage sind vollkommen unterschiedliche Marketingprojekte erforderlich (während die jeweils anderen Aktivitäten/Projekte dem Unternehmen schaden).
Wenn das Unternehmen (noch) nicht über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt, ist damit eine „bittere“ (aber vielleicht auch entlastende) Erkenntnis verbunden: (Fast) alle (aktiven und geplanten) Marketingprojekte sind (zum aktuellen Zeitpunkt) kontraproduktiv, sie helfen dem Unternehmen nicht signifikant weiter, vermutlich schaden sie sogar (indem sie Aufmerksamkeit und Ressourcen von den Aktivitäten abziehen, die das Unternehmen signifikant voranbringen würden).
Die jetzt „richtigen“ Projekte sind:
1.Identifikation entscheidender (nicht erfüllter) Kundenbedürfnisse.
2.Finden von (verhältnismäßig schnell umsetzbaren) Veränderungen, durch die das Unternehmen die identifizierten Kundenbedürfnisse entscheidend besser befriedigen kann als jeder entscheidende Wettbewerber. Das heißt: Herausarbeiten, wie das Unternehmen den Kunden einen signifikant größeren Wert stiften kann als bisher.
3.Entwicklung von Geschäftsmodellen – passend zum signifikant größeren Nutzen – für eine sinnvolle Auswahl der unter 2. entwickelten Ansätze.
4.Entscheidungen, welche der unter 2. und 3. konzipierten „Business Innovationen“ realisiert werden sollen.
5.Definition von Gates und Abbruchkriterien, um schnelles Lernen aus Realität zu ermöglichen.
Wenn das Unternehmen dagegen bereits über einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verfügt (was nur sehr selten der Fall ist), muss bei der Definition erforderlicher Marketingprojekte berücksichtigt werden, dass dem Unternehmen nun – aufgrund seines vorhandenen Vorsprungs – andere Marketinginstrumentarien zur Verfügung stehen (und genutzt werden sollten) als im „roten Ozean.
Workload-Kontrolle
Um Agilität zu ermöglichen, muss das Unternehmen also dafür sorgen, dass nur so wenig Projekte gleichzeitig aktiv sind, dass sie nicht mehr chronisch (womöglich aber temporär) um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen konkurrieren. Dazu braucht das Unternehmen die Fähigkeit, zu entscheiden, welche Projekte jetzt notwendig sind und welche jetzt zurückgestellt oder gestrichen werden sollten. Da Managementaufmerksamkeit der Engpass des Unternehmens ist, sollte besonders auf die Konkurrenz um Managementaufmerksamkeit geachtet werden.
Aus diesen Annahmen lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen:
•Je mehr Managementaufmerksamkeit in einem Projekt (voraussichtlich) erforderlich ist, damit es in Höchstgeschwindigkeit vorankommt, umso weniger Projekte können und sollten gleichzeitig realisiert werden.
•Wenn zwei Projekte inhaltlich miteinander verbunden sind, sollten sie entweder zu einem Projekt verbunden werden oder nacheinander realisiert werden. Denn: Es ist sehr wahrscheinlich, dass zwischen den beiden Projekten sonst inhaltliche Widersprüche entstehen, die durch Einsatz von Managementaufmerksamkeit gelöst werden müssen, was Managementaufmerksamkeit verschwendet und so den Fortschritt aller Projekte und Initiativen bremst.
Der Fluch der Termine
Termine sind der größte Feind von Agilität, obwohl sie in bester Absicht gesetzt und verfolgt werden. Termine sind allerdings ein wesentliches Element unsere Sozialisierung: Eine große Aufgabe (ein Projekt) wird dadurch termingerecht fertig, dass die einzelnen Meilensteine und Projektschritte jeweils termingerecht fertig werden.
Diese fast überall praktizierte Vorgehensweise hat allerdings dramatische Implikationen: Wer danach beurteilt wird, ob sie/er zuverlässig liefert, wird sich mehr Zeit einplanen als durchschnittlich für eine Aufgabe notwendig ist (sonst kann man nicht zuverlässig sein) und diese Zeit auch selbst vollständig verbrauchen (damit auch zukünftig die eigene Zeitschätzung ungekürzt in der Projektplanung berücksichtigt wird).
Kommt es innerhalb des Projektes nun aber zu einer starken Verzögerung („Murphy schlägt zu“), kann diese Verspätung nur schwer eingeholt werden, da niemand seinen Planaufwand unterschreiten „darf“.
Staffelläufer-Prinzip
Um Agilität zu ermöglichen, muss das Unternehmen also nicht nur dafür sorgen, dass so wenige Projekte gleichzeitig aktiv sind, dass diese nicht mehr chronisch um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen konkurrieren. Das Unternehmen muss auch auf Termine verzichten und stattdessen den Menschen ermöglichen, einer Arbeitsweise zu folgen, die als „Staffelläufer-Prinzip“ bezeichnet werden könnte:
•Hat jemand gerade keinen Staffelstab (keine Projektaufgabe), wartet sie/er darauf und bereitet sich vor.
•Hat jemand gerade den Staffelstab (diese Projektaufgabe), hat sie/er nicht anderes zu tun, als diesen Staffelstab (diese Aufgabe) auf dem richtigen Weg so schnell wie möglich zu transportieren (zu bearbeiten) und ordentlich an die/den nächste/n zu übergeben.
Diese Arbeitsweise kann allerdings nicht erzwungen werden, sondern wird dadurch ermöglicht, dass die einzelne Person sich voll auf eine Aufgabe konzentrieren kann (statt mehrere Aufgaben gleichzeitig jonglieren zu müssen) (Abbildung 2).

Abb. 2: Das Staffelläufer-Prinzip.
Termine sind irrelevant
Da Termine in unserem Wirtschaftsleben eine derart große Bedeutung zu haben scheinen, klingt die Forderung „auf Termine verzichten“ geradezu widersinnig. Deshalb müssen wir uns etwas intensiver mit der Notwendigkeit von Terminen befassen:
Für die meisten Projekte ist es „in Wirklichkeit“ völlig irrelevant, wann genau sie fertig werden. Viel wichtiger für das Unternehmen ist es, dass möglichst viele der Projekte, die für das Unternehmen wichtig (weil ergebnisrelevant) sind, so schnell wie möglich fertig werden. Ein Unternehmen, das es schafft, pro Jahr mehr Projekte abzuschließen (allerdings „unpünktlich“) ist agiler, effizienter, effektiver und lukrativer als ein Unternehmen, das – unter ansonsten gleichen Bedingungen – fast jedes Projekt pünktlich fertigstellt, dafür allerdings pro Jahr weniger Projekte fertigstellt.
Nun werden einige vielleicht einwenden, dass es aber doch Projekte gibt, die total terminkritisch sind. Zum Beispiel wäre es fatal, mit der notwendigen Vorbereitung für eine Messe nicht zu Beginn der Messe fertig zu sein. Das stimmt selbstverständlich. Allerdings gibt es überhaupt keine Notwendigkeit, genau am Tag vor Messebeginn mit den Vorbereitungen fertig zu werden; vier Wochen früher wäre überhaupt kein Schaden.
Es mag paradox erscheinen, ist aber dennoch wahr:
•Eine Multiprojektorganisation auf Termintreue zu steuern (insbesondere durch das Prinzip „Projektzuverlässigkeit soll durch Vorgangszuverlässigkeit bewirkt werden“) erzeugt eine langsame, träge, unflexible Organisation.
•Eine Multiprojektorganisation auf Geschwindigkeit zu steuern (ohne dabei mit Terminen zu arbeiten), macht sie schnell, flexibel, hochgradig effektiv und erhöht (im Nebeneffekt) auch ihre Termintreue (bezüglich der sehr wenigen Projekte, für die es eine echte physikalische „Deadline“ gibt).
Man sollte sich die besonders erfolgreichen Unternehmen dieser Welt anschauen. Man wird überall erkennen, dass „Geschwindigkeit“ viel wichtiger ist als „Zuverlässigkeit“.
Taktische Prioritäten
Auch wenn deutlich weniger Projekte gleichzeitig aktiv sind, kann es immer noch temporär vorkommen, dass Projekte um Managementaufmerksamkeit und Ressourcen konkurrieren. Für diesen Fall benötigen die Führungspersonen und Mitarbeitenden klare, eindeutige taktische Prioritäten.
Wie genau diese Prioritäten zustande kommen, ist im Grunde irrelevant. Relevant ist, dass die Menschen geneigt sind, sich entsprechend dieser Prioritäten zu verhalten. Die beiden besten Methoden dafür sind:
1.First in, first serve: Ein Projekt, das früher begonnen hat, bekommt im Zweifelsfall Vorfahrt. Diese Vorgehensweise ist ideal, wenn die Projekte etwa gleich lang/groß sind.
2.Verhältnis zwischen Projektfortschritt und Pufferverbrauch: Ein Projekt, das langsamer vorankommt (als geschätzt), bekommt höhere Priorität als ein Projekt, das schneller vorankommt (als geschätzt). Diese Vorgehensweise ist ideal, wenn die Projekte sich in Größe, Dauer, Aufwand, … stark unterscheiden (was der Normalfall ist).
Um die Methode „Verhältnis zwischen Projektfortschritt und Pufferbrauch“ verwenden zu können, ist es erforderlich, einen expliziten Projektpuffer auszuweisen. Gängige Praxis ist, die Gesamtplandauer des Projekts um ein Drittel zu verkürzen und dieses Drittel als explizite Sicherheit zu verwenden. Sowie Vorgänge länger dauern als der Plan vorsieht, wird Sicherheit verbraucht; die taktische Priorität des Projekts steigt. Geht etwas schneller als der Plan vorsieht (was im Staffellauf durchaus vorkommen kann), wird Sicherheit zurückgewonnen; die taktische Priorität des Projekts sinkt (Abbildung 3).

Abb. 3: Explizite Planung von Sicherheiten.
Steuerung der Projektumsetzung
Wie kann man nun konkret vorgehen, um die Multiprojektorganisation zu planen und zu „agil“ zu steuern? Eine praxiserprobte und vielfach erfolgreiche Vorgehensweise dazu besteht aus den folgenden Phasen und Schritten: