Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war

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Er verbrachte zehn Tage im Krankenhaus, wurde ständig mit seinem Bett durch kahle Gänge zu neuen Untersuchungen geschoben und an weitere Maschinen angeschlossen. Er hatte keine Vorstellung gehabt, was die moderne Medizin für Patienten wie ihn bereithielt. Seine Frau besuchte ihn täglich und ließ ihn wissen, wer von den Freunden und Bekannten angerufen hatte und ihm eine baldige und völlige Genesung wünsche. Er wunderte sich, dass so viele Leute an seinem Schicksal Anteil nahmen. Manche von den Namen, die seine Frau erwähnte, sagten ihm nicht viel, aber er freute sich über jeden.
Wenn er nicht gerade an einem Schlauch oder Kabel hing, durfte er sich auf den Gängen des Krankenhauses frei bewegen. Kam seine Frau in solchen Momenten zu Besuch, lud er sie zu Kaffee und Kuchen ins Restaurant im Erdgeschoss ein. Sie saßen dort im Halbdunkeln zwischen Patienten in Trainingsanzügen und Bademänteln und deren Besuchern. Im Raum herrschte gedrückte Stimmung und Marder fühlte sich dann ziemlich krank. Er war froh, danach wieder in sein helles Einbettzimmer zurückkehren zu dürfen. Diesen Luxus hatte er sich gegen einen Aufschlag geleistet, weil er Angst gehabt hatte, mit einem oder mehreren Kranken in einem Zimmer eingesperrt zu sein, die nachts schnarchten und tagsüber dummes Zeug redeten.
Am Wochenende besuchte ihn sein Sohn Andreas, der mit seiner Familie in Aachen wohnte. Er brachte Grüße und beste Wünsche von seiner Schwiegertochter und eine selbst gebastelte Karte »für meinen libsten Oppa« von seiner Enkelin mit. Er freute sich darüber sehr, denn so etwas Schönes hatte sie vorher noch nie zu ihm gesagt. Andreas meinte, er sei vor allem deswegen gekommen, weil er dienstlich ohnehin in Hamburg zu tun habe. Das hielt Marder für die halbe Wahrheit, sein Sohn wollte wahrscheinlich sichergehen, dass sein Vater nicht im Sterben lag und es nicht an der Zeit war, von ihm Abschied zu nehmen. Als Andreas verkündete, dass in einigen Monaten ein weiteres Enkelkind das Licht der Welt erblicken würde, fand Marder, das war ein weiterer Grund, noch nicht ans Sterben zu denken.
Martin, sein jüngerer Sohn, meldete sich über das Telefon. Er entschuldigte sich, dass er nicht kommen könne, da er ja vor wenigen Wochen wieder Vater geworden sei und er seine Frau im Moment nicht gern allein lasse. Sollte sich der Zustand jedoch verschlechtern, würde er natürlich sofort –
»Nein, nein«, unterbrach Marder ihn. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Mir geht es wirklich schon viel besser. Ich habe volles Verständnis für dich, und liebe Grüße an Melanie und Paula, und natürlich auch an den kleinen … also den kleinen …« Der Name des Kleinen wollte ihm partout nicht einfallen, vielleicht hatte der Schlaganfall doch mehr Schaden angerichtet, als er bereit war einzugestehen.
Sein Bruder Manfred aus der Nähe von Hannover besuchte ihn ebenfalls und umarmte ihn kräftig, ohne auf seinen Krankenstand Rücksicht zu nehmen. Ihre Leben waren in ähnlichen Bahnen verlaufen, beide waren bei der Kriminalpolizei gelandet. Das war kein Zufall, sondern seit ihrer Jugend so geplant. Als Kinder hatten sie mit Leidenschaft Bücher gelesen oder im Kinderfunk Hörspiele gehört, in denen kleine Jungen große Verbrecher zur Strecke bringen. Sie hatten sich gegenseitig versprochen, das auch zu tun, wenn sie einmal groß waren. Niemand hatte sie ernst genommen, aber als sie erwachsen geworden waren, hatten sie ihr Versprechen eingelöst. Sie hatten, ohne sich darüber Gedanken zu machen, stets im Gleichschritt gelebt, waren in die gleiche Schule gegangen, hatten ein gleich gutes, nach Ansicht ihrer Eltern eher gleich schlechtes Abitur gemacht und sich danach bei der Polizei beworben. Erhard Marder immer zwei Jahre später als sein Bruder Manfred. Nur den Schlaganfall hatte Manfred ihm nicht »vorgemacht«.
Nach zehn Tagen im Krankenhaus meinten die Ärzte, dass die größte Gefahr vorbei sei, und Marder durfte nach Hause. Man ließ ihn wissen, dass er aus medizinischer Sicht großes Glück gehabt habe. Die Ursache für den Schlaganfall sei mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Blutgerinnsel in der rechten Halsschlagader gewesen und das hätte schlimm enden können. Man riet ihm dringend zu einer Rehabilitationskur in einer entsprechenden Klinik. Das Beste für ihn sei, nie wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, sondern den vorgezogenen Ruhestand zu beantragen. Da er bereits in der zweiten Hälfte seiner Fünfziger sei, meinten die Mediziner, ließe sich das im Rahmen der sozialen Gesetzgebung problemlos einrichten, es sei ja bekannt, wie ernst die Bundesrepublik die Fürsorgepflicht gegenüber ihren Bediensteten nehme.
Marder fand das nicht gut. Rehabilitation okay, das musste wohl sein, aber ein derart früher Ruhestand kam nicht in Frage. Er wollte noch einige Jahre das Verbrechen bekämpfen, nicht aus Idealismus, sondern weil er nicht wusste, wie er ohne Beruf seine Tage ausfüllen sollte. Jeden Tag nur Frau, Kinder und Enkel, dazu war er noch nicht bereit. Der Gedanke an einen Sessel vor dem Fernseher für den Rest des Lebens erfüllte ihn mit Schrecken. Tagesschau oder Sportsendungen, das war in Ordnung, auch der eine oder andere Spielfilm, solange es kein Tatort war. Von Krimis im Fernsehen hatte er sich vor Jahren verabschiedet, nicht, weil er sie unrealistisch fand, sondern eher, weil sie nach seiner Auffassung übertrieben realistisch und unnötig grausam waren. Wenn jede Ermittlung so aufregend wäre, jeder Verbrecher so gewissenlos oder gnadenlos wie die im Fernsehen, hätte er seinen Beruf wahrscheinlich längst an den Nagel gehängt. Auf gefälschte Dokumentarberichte oder Reality-Soaps mit schlechten Laienschauspielern hatte er erst recht keine Lust. Lieber noch ein paar Jahre hinter seinem Schreibtisch verbringen, auch wenn es dort nicht immer so heiter zuging wie im Büro des Kommissars im Tatort in Münster.
Seine Frau stand auf der Seite der Ärzte, sie konnte sich einen vorzeitigen Ruhestand ihres Mannes gut vorstellen und sah sich bereits die Länder der Welt bereisen, die sie immer schon hatte erkunden wollen. Es gab die eine oder andere erregte Diskussion zwischen ihnen, bis man sich auf einen Kompromiss einigte. Er würde um Versetzung bitten, weg von der stressigen Dienststelle im Hamburger Umland, hin zu einem ländlicheren, wenn möglich romantischeren Umfeld. Das musste nicht unbedingt in Niedersachsen sein. Besser, irgendwo südlicher in Deutschland, wo man sich für den kommenden Ruhestand einrichten konnte. Das Rheinland wäre nicht schlecht, meinte die Gattin, dann käme man den Kindern und den sich vermehrenden Enkeln näher, denn beide Söhne hatten sich mit ihren Familien im Rahmen ihrer beruflichen Karrieren am Rhein oder in dessen Nähe angesiedelt.
Das Rheinland war nicht unbedingt Marders Traumziel, das klang nach Karneval während vieler Monate im Jahr. Von den Dienstvorschriften her war es ohnehin nicht üblich, in ein anderes Bundesland versetzt zu werden, Polizeiarbeit sowie Versetzungen des Personals waren schließlich Ländersache. Nur wenn alle betroffenen Dienststellen guten Willens waren, konnte das Unmögliche möglich gemacht werden. Vor allem, wenn man einen guten Ruf genoss und sich über Jahre und Landesgrenzen hinweg Freunde gemacht hatte. Seine Frau war der Ansicht, das treffe auf ihn zu. Das Rheinland sei von allen schönen Landschaften in Deutschland eine der besten Alternativen. Man brauche nur die wunderbaren Burgen und die Fröhlichkeit der rheinischen Menschen zu bedenken. Natürlich setzte sie sich mit ihrer Meinung durch.
So waren die Marders in Remagen gelandet. Eine Stadt nahe genug an Köln und Aachen, um die Beziehungen mit den nächsten Generationen der Familie zu intensivieren, ohne in ihrer direkten Nachbarschaft zu wohnen. Das war gut so, fand er jedenfalls.
Remagen war eine kleine Stadt am linken Rheinufer mit einer langen Geschichte, die bis in die Römerzeit zurückging. Wenn ihre Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten gestiegen war, lag das vor allem an der Gebietsreform und den Eingemeindungen weiterer Ortschaften der Umgebung. Die Region war unterwegs in die Zukunft. Um auf diesem Weg Kosten zu sparen, befand man sich jedes Mal, wenn eine Position in einer Behörde frei wurde, in Versuchung, diese zu streichen oder zumindest erst einmal abzuwarten, ob es auch ohne sie ging. Die Stelle des Remagener Kommissars, der in den Ruhestand gegangen war, sollte trotzdem neu besetzt werden.
Die dafür zuständige Behörde hatte mit dem Gedanken gespielt, diese Position dem Assistenten des ehemaligen Kommissars anzuvertrauen, diesen Plan aber wieder verworfen. Dafür war Benjamin Hofrichter zu jung und unerfahren. Er hatte in seiner bisherigen Karriere mehr als einmal seine Unerfahrenheit bewiesen und deutlich gemacht, dass er noch nicht bereit war, den Kampf gegen das Verbrechen in der Stadt anzuführen. Er benötigte weitere Lehrjahre. Marder mit seiner Erfahrung schien der vorgesetzten Dienststelle ein geeigneter Lehrmeister zu sein. Der Kommissar hielt das für ein ausgezeichnetes Arrangement; mit dem jungen Mann hatte er jemanden, der ihm Laufwege abnehmen und den Teil von Ermittlungen führen konnte, die den Einsatz eines hochkarätigen Fachmannes wie ihn selbst nicht wert waren.
Hofrichter war in Marders Augen der Urtyp eines Rheinländers. Niemand käme auf die Idee, ihn für einen Zugereisten zu halten, vor allem nicht, wenn er redete. Dann war seine tiefe Verbundenheit mit dem Rheinland nicht zu überhören. So wie sich im Gegensatz Marder nicht einbildete, jemals für einen gebürtigen Rheinländer gehalten zu werden. Seine Sprache würde ihn immer und ewig als einen Mann aus dem kühlen Norden verraten.
Selbstverständlich hatte Benjamin Hofrichter trotz seiner mangelnden Erfahrung auch gute Eigenschaften, und Marder wusste sie durchaus zu schätzen. Er war kommunikativ, freundlich und hilfsbereit, nur eben noch nicht klarsichtig und entscheidungsfähig genug, um die Verantwortung eines leitenden Kriminalbeamten zu übernehmen. Er war auf jeden Fall ein geselliger Mensch. Das sah Marder als typisch für die Rheinländer an. Nicht nur luden Hofrichter und seine Freunde sich unentwegt gegenseitig zum Essen ein, er erzählte auch ausführlich am Morgen danach, wie köstlich die gestrige Mahlzeit geschmeckt hatte. Das nervte Marder mitunter. Es interessierte ihn einfach nicht, wie gut es seinem Assistenten am letzten Abend gemundet hatte und welchen Wein er zum Essen getrunken hatte.
Marders Vorgänger, Bernhard Kampfer, war bedauerlicherweise ebenfalls von einem Schlaganfall getroffen worden. Leider mit schlimmeren Auswirkungen als für seinen Nachfolger, und er galt für den Rest seiner Dienstzeit als arbeitsunfähig. Das Tragische daran war, dass er einige Jahre jünger als Marder war, er hatte erst vor einem Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Marder hatte ihn nach seiner Ankunft in Oberwinter, einem Ortsteil von Remagen, besucht, wo der Mann liebevoll von seiner Frau und seiner Tochter gepflegt wurde. Marder erhoffte sich von ihm hilfreiche Ratschläge für seine neue Aufgabe, allerdings konnte sich der Kranke nicht mehr an viel erinnern, was vor dem Schlaganfall an seinem Arbeitsplatz vorgegangen war. Bernhard Kampfer weihte Marder in das ein, was er in seiner Jugend in diesem schönen Ort am Rheinufer erlebt hatte, alles, was danach in seinem Leben geschehen war, war ihm weitgehend entfallen. Marder wurde sich dadurch bewusst, welches Glück er trotz seines Schlaganfalls gehabt hatte, und schickte dem lieben Gott ein verspätetes Danke.
D er Tunneleingang hinter der Brücke auf der rechten Seite des Rheins ist noch in dem gleichen trostlosen Zustand wie im Frühjahr 1945. Seit dem Einsturz der Brücke vor mehr als einem Jahr hat sich kaum jemand in diese dunkle Höhle gewagt. Hier soll nach wie vor Munition gelagert sein, die jederzeit hochgehen kann. Engelbert hat gehört, dass es Pläne gibt, das Gewölbe in der nächsten Zeit zu untersuchen und auszuräumen. Er befürchtet, dass man dabei die dort vergrabenen Schmuckstücke finden könnte. Dass sie schon jemand entdeckt hat, kann und will er sich nicht vorstellen. Auf jeden Fall hat er nichts darüber gehört oder gelesen.
Es wird höchste Zeit, sein zukünftiges Vermögen auszugraben, es ist genug Gras über die Vorgänge kurz vor dem Kriegsende gewachsen. Seltsamerweise hat sich niemand der Bestohlenen beschwert, dass in den letzten Kriegswochen Wertsachen oder Schmuckstücke von der Wehrmacht beschlagnahmt wurden. Entweder haben die Leute ein schlechtes Gewissen, weil sie selbst Nazis gewesen waren, oder sie glauben, dass alles, was man ihnen genommen hatte, ohnehin längst eingeschmolzen und unwiederbringlich verschwunden ist. Es konnte ja niemand ahnen, dass die Soldaten nicht von Adolf Hitler aus Berlin, sondern von einem gewissenlosen Offizier bei der Brücke geschickt worden waren.
Noch weniger können die Betrogenen vermuten, dass die Gegenstände, die sie dem Deutschen Reich geopfert hatten, in ihrer unmittelbaren Nähe vergraben liegen. Engelbert ist der einzige Überlebende, der das weiß. Der Offizier und die zwei Kameraden, mit denen er gemeinsame Sache gemacht hat, sind tot, das hat er inzwischen herausgefunden. Die hatten vor ihrem Tod bestimmt niemandem von dem genialen Einfall um den Auftrag des Führers erzählt, die alten Kameraden können ihm also seinen baldigen Reichtum nicht mehr streitig machen. Das Problem ist, dass der Schatz auf der anderen Seite des Flusses schlummert. Das wäre nicht weiter schlimm, gäbe es die Brücke noch, aber die ist ja seit ihrem Einsturz Vergangenheit. Er muss einen Weg finden, den Schatz über den Fluss zu holen. Er hofft, das Problem mithilfe einer der Fähren zu lösen, die nach und nach ihren Dienst über den Rhein wieder aufgenommen haben.
Er hat vor, einen Teil des zukünftigen Vermögens für seine Hochzeit zu verwenden. Gerlinde Meinartz, das Mädchen, mit dem er seit 1943 verlobt ist, das er damals geliebt hat und immer noch liebt, wird erst später merken, dass sie einen wohlhabenden Mann geheiratet hat. Sie hat ihm während seiner Militärzeit und der Zeit im Gefangenenlager die Treue gehalten. Über das Rote Kreuz hatte sie herausgefunden, dass er in dem Lager am Rheinufer festgehalten wurde. Sie hatte versucht, die Wachmannschaften an den Lagertoren zu überreden, ihm etwas von den Nahrungsmitteln zu bringen, die sie für ihn zuhause eingepackt hatte. Das funktionierte wegen der Unübersichtlichkeit des Lagers nicht, keiner der Soldaten am Eingangstor wusste, wo ein Engelbert Bergmeister gerade biwakierte.
Er rechnet Gerlinde hoch an, dass sie zumindest versucht hatte, ihm zu helfen. Sie soll durch die Ehe belohnt werden und später an seinem Wohlstand teilhaben. Sie ist ein gutes Mädchen mit einem großen Herz, das Wert auf Anstand und Ehrlichkeit legt. Sie stammt aus einer alten katholischen Familie mit einem frommen, aber weltfremden Glauben an das Gute in den Menschen. Wenn er ihr jemals erzählen würde, wie sein Reichtum zustande gekommen ist, würde sie ihm nie erlauben, den Schmuck zu behalten.
Sie würde darauf bestehen, dass er zur Polizei geht, damit die Wertgegenstände ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden können. Doch wie sollte er der Polizei erklären, wie die Gegenstände in das Versteck im Tunnel gekommen sind, ohne sich selbst des Diebstahls und Betrugs zu beschuldigen? Selbst, wenn er Gerlinde davon abbringen könnte, die Polizei einzuschalten, würde sie vermutlich verlangen, dass er persönlich die Schmuckstücke den Leuten zurückgibt, denen sie einmal gehört hatten. Wie soll er sich noch daran erinnern, was wem gehört hat? Bestenfalls würde sie zufrieden damit sein, einen Teil des Geldes, oder alles, der Kirche zu vermachen. Doch das hat er nicht vor, das kann niemand von ihm verlangen. Das wäre nicht fair, nach so viel Leid war er jetzt an der Reihe, die schöneren Seiten des Lebens zu genießen.
Er hat in der letzten Zeit genug gelitten, er ist immer noch nicht völlig von der Lungenentzündung genesen, die ihn in dem Gefangenenlager in den Wiesen am Rhein heimgesucht hat. Dort hat er über Monate dahinvegetiert. Es war die härteste Zeit gewesen, die er in seinem Leben durchgemacht hat. Schlimmer als die Zeit als Soldat, wo es manchmal mit der Verpflegung auch nicht so toll war, aber es immer irgendetwas gab, das satt machte. Einige seiner Kameraden waren in dem Lager elendig zugrunde gegangen. Die, die starben, wurden ohne Zeremonien und Feierlichkeiten in aller Eile vergraben, um die Verbreitung von Seuchen zu vermeiden. Es war ein kaltes und nasses Frühjahr gewesen und die Gefangenen hatten nicht gewusst, wie sie sich vor dem Regen und dem Wind schützen sollten. Es waren zu viele Menschen, die auf einem zu kleinen Gelände zusammengepfercht waren. Ihm war es vorgekommen, als müssten sie allein die Zeche für den verlorenen Krieg bezahlen. Dabei waren ihm und seinen Mitgefangenen die Gräueltaten der Nazis nicht wirklich bewusst, die waren in der Truppe nie ein Gesprächsthema gewesen. Die kamen erst in den Monaten nach Kriegsende nach und nach ans Tageslicht. Damit hatte er als einfacher Soldat nichts zu tun gehabt, und im Vergleich zu den Verbrechen der Nazi-Elite in Berlin kam ihm die Sache mit dem Schmuck, den sie von den Reichen eingesammelt hatten, eher harmlos vor.
Die Wachsoldaten im Lager waren nicht so bösartig, wie man es kurz nach dem Ende eines mörderischen Kriegs befürchten konnte. Sie waren jedoch durch die Menge der Inhaftierten und den Mangel an sanitären Anlagen total überfordert. Es war nicht ihre Schuld, dass es nicht genug Decken gab, sodass die Insassen des Lagers nachts oft vor Kälte wimmerten. Einige von ihnen steckten den Gefangenen sogar gelegentlich Zigaretten zu, die sie von ihren eigenen Rationen abzweigten. Das war auch ihm passiert und er hatte die Marlboros trotz seiner aufkeimenden Lungenentzündung hastig und dankbar geraucht. Der Soldat, der sie ihm gegeben hatte, hatte ihn dabei mitleidvoll angelächelt und gesagt: »I’m so sorry for you. But lucky you, I don’t smoke.«
Er hat das alles überlebt, aber wenn er heute in sich hinein-hört, weiß er, dass längst noch nicht alles wieder gesund ist, was in seinem Körper Schaden genommen hat. Er wird die besten Ärzte suchen, damit sie ihn endlich heilen. Dafür braucht er Geld, wahrscheinlich viel Geld. Wenn das mit Hilfe der im Tunnel versteckten Wertgegenstände geschehen ist, wird es endlich Zeit für ein bisschen Freude im Leben, von dem er sich noch viele Jahre erhofft.
Er muss den Schatz, wenn er ihn ausgegraben hat, wieder verstecken, an einer Stelle, bei der er sicher ist, dass ihn niemand dort suchen wird. Es muss ein Ort sein, der in der Nähe von seinem Zuhause liegt, um sich nach Bedarf bedienen zu können. Er hat seine Kindheit und Jugend in Remagen verbracht, ist mit seinen Freunden zwischen Felsen und hinter Büschen herum-gekrochen, deshalb hat er eine Vorstellung, wo das sein könnte.
Er betet, dass alles so abläuft, wie er es geplant hat.
Endlich wollte Olaf die alten Sachen aufräumen. Den wertlosen Krempel entsorgen, der seit eh und je in der leeren Wohnung herumlag, der nur noch Spinnen dazu diente, Netze zwischen ihm zu weben. Jetzt, wo sein Vater seit zwei Jahren tot war, brauchte er keine Hemmungen mehr zu haben. Der alte Mann war auf tragische Weise umgekommen, ein Raser hatte ihn auf einer kurvenreichen Landstraße bei Wachtberg im falschen Moment überholt. Beide konnten einem entgegenkommenden Lastwagen nicht mehr ausweichen. Im Krankenhaus hatte man ihn drei Tage am Leben halten können, dann war alles sehr schnell gegangen. Dass der Raser dabei auch zu Tode gekommen war, war nur gerecht. Alles sehr traurig, aber das Leben musste weitergehen.
Das Haus war fast noch in dem Zustand, wie es sein Großvater Engelbert Bergmeister kurz nach dem Krieg hinterlassen hatte. Olafs Vater hatte nie Anstalten gemacht, es zu renovieren, er lebte in dem Haus bis zu seinem Ende und hob alles auf, was vom Großvater darin geblieben war, und zusätzlich das, was in seinem eigenen Leben dazugekommen war. Nachdem der Vater gestorben war, war Olaf durch das Haus gegangen und hatte alles herausgeholt, was ihm Wert zu haben schien. Das war nicht viel, antike Möbel oder Schmuck erst recht nicht. Wenn es etwas von Wert darin gegeben hätte, hätte der Vater es längst verscherbelt, um seine Rechnungen in den Gastwirtschaften von Remagen zu bezahlen.
Das Haus war ein kleines, altes Gebäude, eingeklemmt zwischen ebenso kleine und unansehnliche Gebäude im ältesten Teil der Stadt. Von hier war es nicht weit zum Rhein und zu den Kneipen, wo der Vater den größten Teil seiner Freizeit verbracht hatte. Olaf war lange vor dem Tod seines Vaters aus dem Haus ausgezogen und hatte sich in der Nachbarschaft eine kleine Wohnung gemietet. Nun stand das Haus leer und verfiel immer mehr und damit auch sein Wert. Die Leute in der Straße behaupteten, das Haus sei ein Schandfleck in der Nachbarschaft, es sei an der Zeit, dass etwas damit passiere. Das müssen die gerade sagen, hatte Olaf sich beruhigt, ihre Häuser sehen auch nicht viel besser aus.
Die Mutter hatte den Vater vor Jahren verlassen, sie war mit einem jüngeren Mann durchgebrannt. Olaf hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in seiner eigenen Wohnung gewohnt und sich längst daran gewöhnt, ohne ihre Fürsorge auszukommen. Sie lebte jetzt, soweit er wusste, irgendwo im Süden Europas. In den ersten Jahren nach der Trennung war wenigstens zu Weihnachten eine Postkarte von ihr gekommen, aber das hatte inzwischen aufgehört. Dass sie noch lebte, war alles, was er von ihr wusste, er hatte ihre Anschrift und E-Mail-Adresse in einem Verzeichnis im Internet gefunden. Er hatte sich kurz überlegt, ob er ihr eine Mail schicken sollte, den Gedanken aber wieder fallen gelassen. Er konnte heute verstehen, dass die Mutter das Weite gesucht hatte, als sich die Gelegenheit durch einen anderen Mann geboten hatte. Sie hatte es wohl satt, jeden Abend in der Wohnung auf ihren Mann zu warten, bis er von seinen Kneipentouren zurückkam. Kneipen hatte es damals in Remagen in Hülle und Fülle gegeben, es sollen vor dreißig, vierzig Jahren an die hundert gewesen sein. Kein Wunder, dass der Vater schwer den Weg nach Hause gefunden hatte. Die Mutter jedenfalls hatte ihre Familie in Remagen hinter sich gelassen, als ob sie nie Teil ihres Lebens gewesen war. Olaf hatte sich damit arrangiert und sich daran gewöhnt, keine Mutter mehr zu haben.
Nachdem er das Haus geerbt hatte, war es nie seine Absicht gewesen, dort einzuziehen. Dafür waren die Erinnerungen an seine Kindheit nicht schön genug. Um es zu verkaufen, hatte er sich an einen Makler gewandt, der ihm klar machte, wie wenig Geld er für dieses Haus in seinem vernachlässigtem Zustand erwarten konnte. Daraufhin hatte er das Haus vom Markt genommen und gehofft, dass steigende Immobilienpreise das Problem lösen würden. Das war nicht geschehen, ganz im Gegenteil, es wurden in der Nachbarschaft ständig ähnlich renovierungsbedürftige Häuser zum Verkauf angeboten, die nur schwer Käufer fanden.
Das war ihm mittlerweile gleichgültig, er war das Warten auf steigende Immobilienwerte leid. Er wollte das Haus um jeden Preis loswerden, denn in Anbetracht seiner finanziellen Lage war ein bisschen Geld besser als überhaupt kein Geld. Sein Großvater war früh gestorben, als er beinahe noch ein junger Mann gewesen war. Welch eine traurige Geschichte. Er überlebte den Krieg und die Gefangenschaft und heiratete kurz nach dem Krieg seine Gerlinde. Das hatten sie sich schließlich versprochen, bevor er zur Armee eingezogen wurde. So waren die Menschen damals eben, vor allem wenn sie gute Katholiken waren wie die Großmutter. Ein Eheversprechen war ein Versprechen für die Ewigkeit, selbst wenn ein Weltkrieg dazwischenkam. Es soll für die Zeit kurz nach dem Krieg eine prunkvolle Hochzeit gewesen sein. Die geladenen Gäste hatten sich wohl über den Glanz des Festes gewundert, aber es war nicht überliefert, dass sich jemand über die großzügige Bewirtung beschwert hatte. Die alten Leute in der Stadt, die dabei gewesen waren und noch lebten, schwärmten davon, wenn sie über die guten alten Zeiten sprachen. Zeiten, die nach heutigem Maßstab alles andere als gut gewesen waren.
Es war eine Zeit der Dürftigkeit und Bescheidenheit am Rhein gewesen, wie überall in Deutschland. Die Menschen hatten im Krieg gelitten, einige hatten alles verloren. Am schlimmsten waren die betroffen, deren Söhne nicht aus dem Krieg zurückkamen. Das Wirtschaftswunder hatte noch nicht angefangen und die Menschen lebten oft von der Hand in den Mund. Wer es sich leisten konnte, holte sich ein bisschen Luxus vom Schwarzmarkt. Vielleicht hing die Hochzeitfeier von Engelbert Bergmeister und seiner Braut Gerlinde deswegen so lange in den Gedächtnissen nach. Man fragte sich damals, woher Engelbert das Geld hatte, um all die Speisen und Getränke zu besorgen.




