Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war

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Das alles wusste Olaf von seiner Großmutter. Sie meinte, auch sie hätte sich über den Wohlstand ihres Bräutigams gewundert, aber als glückliche Braut hätte sie natürlich nicht nachgefragt, wo das Geld herkam, und von sich aus hätte Engelbert nie darüber gesprochen. Er habe nur gesagt, dass er vor dem Krieg genug gespart hatte, um sich diese Hochzeit zu leisten, es sollte schließlich der schönste Tag in ihrem Leben werden.
Leider hatte der Großvater das Eheleben mit seiner Frau nicht lange genießen können, er ließ sie schon am Ende des gleichen Jahres als Witwe zurück. Eine Lungenentzündung, die er sich während der Zeit in dem Gefangenenlager auf den Rheinwiesen zwischen Remagen und Sinzig zugezogen hatte, war nicht in den Griff zu kriegen. Sie machte seinem Leben ein plötzliches und trauriges Ende. Die Kraft des Großvaters reichte noch, um einen Sohn zu zeugen, aber danach ging es mit ihm rapide bergab. Dieser Sohn war Olafs Vater Johannes gewesen, der nun auch nicht mehr auf der Erde war. Was für ein Segen, dass das mit der Zeugung noch geklappt hat, dachte Olaf Bergmeister, wenn das dem Großvater nicht gelungen wäre, gäbe es mich nicht. Manchmal fragte er sich, ob es Leute gab, die ihn vermissen würden. Viele wollten ihm nicht einfallen.
Die Großmutter hatte nie wieder geheiratet und nur selten über ihren Engelbert gesprochen. Wenn sie es tat, bestand sie stets darauf, dass sie ihn über alles geliebt habe und sich keinen anderen Mann an ihrer Seite vorstellen konnte. Erst spät in ihrem Leben, als sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, hatte sie Olaf die Wahrheit anvertraut, die ihr seit ihrer Hochzeit zu schaffen gemacht hatte. Sie sagte, sie wolle sich etwas von der Seele reden, wovon niemand ahne, dass es dort schlummere. Sie würde sich nicht einmal trauen, mit einem Priester in der Beichte darüber zu sprechen. Denn was würde der dann von ihr denken? Selbst die Angst vor einem unendlich langen Aufenthalt im Fegefeuer oder in der Hölle konnte sie nicht dazu bewegen.
Sie hatte Olaf erzählt, dass sie sich ihr Leben lang geschämt hatte, keine echte Trauer empfunden zu haben, als ihr Mann weniger als ein Jahr nach der Hochzeit an den Folgen der Krankheit starb, an der er seit der Kriegsgefangenschaft gelitten hatte. Zum Glück habe sie als Ergebnis der Ehe mit Engelbert wenigstens einen Sohn auf die Welt gebracht, der sei ihr Ein und Alles gewesen und habe ihr Trost für ihr Versagen als Ehefrau gegeben.
Sie sagte, sie hätte den Großvater eigentlich nicht heiraten dürfen, wenn sie auf ihr Gefühl gehört hätte. Als er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkam, sei er eine andere Person geworden, als er es vorher gewesen war. Manchmal machte er einen verwirrten Eindruck und sagte Dinge, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Er war nicht mehr der offene und liebenswerte Mann, der um sie geworben hatte. Sie hatte in ihrem Herzen gemerkt, dass ihre Liebe für ihn längst nicht so mehr bedingungslos war wie vor seiner Einberufung zum Militär. Aber weil er so viel Schlimmes durchgemacht hatte, tat er ihr leid und sie hatte nicht die Kraft gefunden, ihn mit ihren wahren Gefühlen zu konfrontieren. Sie hatte geglaubt, die Liebe würde sich mit der Zeit wieder einstellen. Außerdem war es für ihre ganze Familie selbstverständlich, dass sie Engelbert heiratete, als er nach all den Leiden wieder zuhause war. Er habe ein Recht darauf, nun die schönen Seiten des Lebens zu genießen. Dazu gehörten eine Ehefrau und die Freuden, die sie mit sich brachte. Sie habe ihm schließlich versprochen, ihn zu lieben, zu achten und zu ehren in guten und in schlechten Tagen.
Wenige Wochen, nachdem sie Olaf in dieses Geheimnis eingeweiht hatte, starb sie einen ruhigen Tod.
Olaf hatte inzwischen den Unrat seines Vaters aussortiert, den er in den Müll schmeißen wollte. Für die alten Möbel würde mit Sicherheit niemand etwas bezahlen wollen, die würde er einem karitativen Verein in der Stadt kostenlos anbieten. Was die nicht wollten, würden sie hoffentlich als Gegenleistung für seine Großzügigkeit kostenlos zur Deponie für Sperrmüll in Niederzissen bringen.
Im Schlafzimmer herrschte ein muffiger Geruch, damit unterschied es sich nur wenig von den anderen Räumen des Hauses. Die Matratzen waren feucht und wiesen unübersehbar Flecken von Schimmel auf, in einer Ecke lagen noch alte Bettlaken, in denen Generationen von Motten Hochzeit gefeiert und ihre Jungen großgezogen hatten. An den Wänden befanden sich Wasserflecken, die Nässe hatte über die Zeit ihren Weg durch das Dach und die Mauern gefunden. Überall Dreck. Egal, was er anfasste oder wohin er sich bewegte, alles verursachte unerträgliche Staubwolken.
Olaf wollte schnell wieder aus dem Haus, hier hielt ihn nichts, keine schönen Erinnerungen an Kindertage, vor allem nicht an liebevolle Eltern. Nur den Papierkram, den er in einer Schublade in dem Wrack des Küchenschranks findet, blätterte er schnell durch, um sicherzugehen, dass auch hier nichts Wertvolles darunter war. Das konnte er sich ohnehin bei bestem Willen nicht vorstellen. Alte Bücher, vergilbte Postkarten von vergessenen Ferien, Briefe aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Absendern, die ihm nichts bedeuteten, dazu jede Menge belanglose Zettel. Weg damit. Offizielle Dokumente wie zum Beispiel den Entlassungsschein des Großvaters aus der Kriegsgefangenschaft oder die Geburtsurkunde von seinem Vater aus dem Jahr 1946 wollte er lieber aufheben, man wusste ja nie, wofür.
Als er die gefalteten Urkunden zur Seite legen wollte, fiel ein loses Blatt heraus. Das Material des Papiers war grob und grau, wie Papier nach dem Krieg wohl gewesen war. An den Rändern hatte es kleine Einrisse. Es handelte sich um ein Schriftstück in altmodischer, verwaschener und verwackelter Schrift, als sei es dem Autor nur mit Mühe gelungen, den Text zu verfassen. Die Worte waren schwer lesbar. Am oberen Rand des Blattes konnte Olaf die Worte Wichtige Notiz entziffern, die im Gegensatz zum Rest des Textes in säuberlicher Druckschrift geschrieben waren.
Er fragte sich, ob es die Mühe wert war, das alte Ding zu lesen. Wahrscheinlich ein Schriftstück, das vielleicht vor sechzig Jahren oder mehr wichtig gewesen war, aber heute mit Sicherheit irrelevant und wertlos war. Er wollte es zerknittern, aber dann erwachte doch noch seine Neugier. Er drehte das Papier um und sah, dass es auf beiden Seiten beschrieben war. Er zog es nahe an seine Augen heran und begann zu lesen, mühsam und langsam, Zeile für Zeile. Nachdem er damit fertig war, ging sein Atem schwer. Er las es noch einmal, Wort für Wort, mit ungläubigem Staunen.
Das mehrstöckige Gebäude vor dem Olaf stand, wirkte kalt und bedrohlich.
Er konnte kaum glauben, was der Großvater geschrieben hatte. Wenn es stimmte, was er gelesen hatte, würde sich sein Leben schlagartig ändern. Heute würde es sich entscheiden, ob er für den Rest seines Lebens ein reicher Mann sein würde. Es sei denn, er war einer Lügengeschichte aufgesessen. Er hatte den Großvater nie kennengelernt, aber er erinnerte sich, dass seine Eltern, als sie noch miteinander sprachen, sich manchmal über sein tragisches Ende unterhalten hatten. Der Großvater soll in den letzten Wochen vor seinem Tod nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen sein. Die Großmutter, die er als Kind noch gekannt und geliebt hatte, hatte erwähnt, dass ihr Engelbert manchmal wirres Zeug geredet hatte, nachdem er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückgekommen war. Er habe Dinge behauptet, die man einfach nicht ernst nehmen konnte. Vielleicht gehörte das, was in dieser Notiz stand, dazu. Als er wegen der verschleppten Lungenentzündung gestorben war, hatte man wahrscheinlich alles, was er in seinen letzten Tagen oder Wochen von sich gegeben hatte, den Wahnvorstellungen eines Sterbenden zugeschrieben.
Warum hatte er diese Notiz geschrieben? War es seine Absicht gewesen, dass sie von seinem Sohn gefunden wurde? Dass erst sein Enkel sie finden würde, hatte er sich wohl kaum vorstellen können.
Es schien, Olafs Vater hatte sich nie die Mühe gemacht, die alten Unterlagen seines Vaters zu durchsuchen, und so hatte die Notiz zwischen den anderen Papieren über all die Jahre unentdeckt und ungelesen vor sich hingedöst.
Es war windig, aber er spürte den Wind kaum. Die Wolken ließen nur gelegentlich das Licht des Mondes auf die Erde fallen. Olaf war aufgeregt, er wusste nicht, ob seine Hoffnungen oder seine Zweifel überwogen. Er machte sich keine Sorge, entdeckt zu werden. Niemand konnte wissen, dass er hier war. Seine Zweifel an der Notiz ließen ihn aber auch jetzt nicht los, jetzt, wo er wahrscheinlich kurz davor stand, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, fingen immer wieder von vorne an. Konnte es wirklich wahr sein, was sein Großvater geschrieben hatte? Oder waren es nur die Hirngespinste eines Mannes, der viel gelitten hatte und darüber zum Spinner geworden war? Ein alter Mann, der Dinge für real hielt, die in Wirklichkeit nie geschehen waren?
Nein, Olaf korrigierte sich, der Großvater war er kein alter Mann, als er nach Krieg und Gefangenschaft nach Hause kam. Er musste gewusst haben, was er tat, auch wenn die Gefangenschaft in dem Lager auf den Wiesen am Rhein ihm sicherlich schwer zugesetzt hatte. Dieses Lager musste für die Insassen die Hölle auf Erden gewesen sein. Eigentlich waren es nur Löcher im Schlamm mit losen Planen darüber gewesen. Es sollte ein kalter Winter und Frühling gewesen sein. Die Alliierten wussten offensichtlich nicht, wo sie mit den Tausenden von Kriegsgefangenen hin sollten, die ihnen bei der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in die Hände gefallen waren. Dieses Chaos, ein Zusammentreffen von Hunger und Frieren und damit großem Leiden für die gefangenen Männer war wahrscheinlich keine böse Absicht der Sieger gewesen, aber für die Betroffenen eine Katastrophe. Die Fotos, die Olaf von den Zuständen in dem Lager gesehen hatte, hatten das deutlich gezeigt. Viele Männer waren dort gestorben, wie viele genau, konnte niemand mit Sicherheit sagen, die Historiker stritten darüber.
Das graue Gebäude wirkte wie eine verlassene Festung, die in die Nacht ragte. Olaf kannte dieses alte Haus mit den vielen Fenstern, aus denen kein Licht mehr auf die Erde fiel. Es war lange eins der größeren Gebäude in der Stadt gewesen, auf einem Abhang nicht weit unterhalb der Apollinaris Kirche. Es war früher, bevor er geboren wurde, eine Schule gewesen, die einem Orden gehörte, der darin seinen Nachwuchs großgezogen hatte. Das war vor der Nazi-Zeit gewesen. Von den Nazis war es als Heim für Mädchen und Unterkunft für Fremdarbeiter genutzt worden. Es sollten Sachen darin geschehen sein, über die man damals in der Stadt wohl nicht sprach und es immer noch nicht tat.
Nach dem Krieg hatte die Bundeswehr es übernommen, restauriert und ein Institut darin eingerichtet. Zu dieser Zeit war das Gebäude zur Straße und den Nachbargrundstücken sorgfältig vom Rest der Welt abgeschirmt gewesen. Das hatte er selbst als Kind noch miterlebt. Das Institut war vor ein paar Jahren aufgegeben worden, weil es nach der Wiedervereinigung überflüssig geworden war, so hieß es jedenfalls. Olaf hatte den Verdacht, dass es in Wahrheit auch von der Bundeswehr für geheime Zwecke benutzt worden war, die nie in die Öffentlichkeit drangen. Nun stand es leer und rottete vor sich hin. Wenn alles so war, wie er es erhoffte, und er fand, was er suchte, musste er der Bundeswehr dankbar sein, dass sie den Schatz über Jahre bewacht hatte.
Das Tor, das den Zugang auf das Grundstück früher versperrt hatte, existierte nicht mehr. Links und rechts standen rostige Pfosten, dazwischen gab es nichts, das ihn aufhalten könnte. Olaf ging die Einfahrt hinauf, rechts war eine freie Fläche, auf der in einer Ecke ein altes Auto abgestellt war. Hier schien die Welt zu Ende zu sein. Da war sie, die Felswand, in die nach der Notiz von seinem Großvater ein Stollen oder Tunnel hineinführen sollte.
Ob dieser Tunnel tatsächlich existierte, konnte er nicht erkennen. Es war dunkel und die Felswand war von Büschen und Kletterpflanzen überwuchert. Wenn es den Tunnel gab, musste er dahinter versteckt sein, es sei denn, der alte Mann hatte sich in seinem kranken Gehirn doch alles nur eingebildet. Der Gedanke, sich vor sich selbst lächerlich gemacht zu haben, ließ Olaf nicht zur Ruhe kommen. Aber nur, weil Opa Engelbert eine Lungenentzündung gehabt hatte, musste das nicht heißen, dass er verrückt oder unzurechnungsfähig gewesen war.
Olaf leuchtete mit seiner Taschenlampe die Büsche vor sich an, dann ging er mit vorsichtigen Schritten zwischen ihnen durch. Er blieb vor der Felswand stehen. Er tastete die Wand ab. Nichts, nur Felsen. Er machte einige Schritte nach rechts, dann nach links. Noch einen Schritt und noch einen. Seine Hände griffen plötzlich ins Leere. Vor ihm war eine Öffnung, der Eingang in einen Tunnel. Der Schein der Lampe verlor sich im Dunkeln, stieß in der Tiefe des Tunnels an eine Wand. Er ging vorsichtig in den Stollen hinein. Ein Windzug begegnete ihm. Der Tunnel musste am hinteren Ende eine Öffnung ins Freie haben. Langsam ging er weiter. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Wände ab. Er machte ein paar Schritte vorwärts, blieb immer wieder stehen, um sich zu orientieren. Er musste bald an die Stelle kommen, wo der Schatz vergraben sein sollte. Nun war er fast überzeugt, dass sein Großvater nicht gesponnen hatte, dass er hier gewesen war, dass er hier einen Schatz vergraben hatte.
Fast wäre er an einen Felsvorsprung gestoßen, der in der Höhe seines Kopfes aus der Wand herausragte. Das musste der Stein sein, von dem der Großvater geschrieben hatte, dass der Schatz direkt darunter vergraben war. Olaf fing an zu graben. Es war eine mühselige Arbeit, denn er hatte nur eine kleine Schaufel mitgebracht, mit der man normalerweise Blumen in einem Balkonkasten umsetzte. Aber er kam voran, es war kein felsiger Untergrund, wie man hätte vermuten können, sondern nur Erde. Wenn es die richtige Stelle war, hatte sich der Boden über die Jahre zwar verfestigt, er wehrte sich aber nicht gegen die Schaufel. Nach einer Weile hatte Olaf fast einen halben Meter tief gegraben. Er fand vermoderte Holzstücke, die sich mit Erde vermischt hatten. Das ermunterte ihn weiterzumachen. Er warf die Holzreste auf den Haufen, den er neben seinem rechten Knie aufgetürmt hatte. Das Holz schien der Rest einer Kiste zu sein. Die Kiste, in der vielleicht der Schatz transportiert worden war. Das hoffte er jedenfalls. Er vergaß alles um sich herum, er war sicher, kurz vor dem Ziel zu sein. Er grub und grub, war entschlossen, so lange weiter zu machen, bis er den Schatz finden würde, denn seine Zweifel, ob es ihn tatsächlich gab, hatten sich in Luft aufgelöst.
Die Schaufel stieß auf einen harten Gegenstand. Er griff mit der Hand in den Boden. Da war etwas. Ein Stein? Nein, es fühlte sich an wie Metall. Er hob es hoch. Es war tatsächlich ein Gegenstand aus Metall. Er wischte ihn ab und leuchtete ihn mit seiner Taschenlampe an. Es war ein Schmuckstück. Es war golden … ja, es war aus Gold. Woraus sonst sollte es sein? Er grub weiter. Er fand mehr Holzreste und immer wieder Schmuckstücke. Er grub und grub. Er geriet in einen Rausch und schrie: »Halleluja!« Und noch einmal: »Halleluja! Ich bin reich!« Er grub tiefer und tiefer, weitere Schmuckstücke kamen an das Licht der Taschenlampe. Er legte sie neben sich. Er nahm nicht mehr wahr, was um oder hinter ihm geschah. Der Großvater hatte recht. Alle Mühe hatte sich gelohnt. Er wusste, dass er für den Rest seines Lebens unendlich reich sein würde.
Wenige Atemzüge später war er tot.
Er war eine halbe Stunde bergauf gelaufen. Als er auf dem Hügel ankam, war er erschöpft und musste sich ausruhen. Er setzte sich auf eine Bank, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Als er die Augen wieder öffnete, wusste er nicht, ob er nur ein paar Minuten oder eine Stunde geschlafen hatte. Um ihn war ein dichter Wald, in dem die Sonne kaum den Boden berührte. Hinter ihm zwitscherten Vögel. Er ging einige Schritte und stand vor einer Ackerfläche, die sich grün über sanfte Hügel erstreckte. Zwei Männer joggten auf einem Weg zwischen den Feldern. Sie kamen an ihm vorbei und er hörte, wie sie schwer atmeten, sah, dass sie trotzdem versuchten, ihm zuzulächeln. Er grüßte zurück. Eine Reiterin kam ihm entgegen, am Sattel des Pferdes war eine Leine befestigt, an deren Ende ein Hund hing, der das Tempo des Pferdes mitgehen musste. Die Frau hat es gut, dachte Marder, sie hat einen, der sie trägt, und einen, der sie beschützt.
Zwei Bauernhöfe lagen in einiger Entfernung zwischen den Feldern, flache Gebäude, von Bäumen halb verdeckt. Einer war eine Schweinefarm, man roch es bis hier her, der andere war ein Reiterhof, bei dem weder Bewegungen noch Geräusche wahrzunehmen waren. Ein friedliches Bild, wäre nicht aus dem Schweinestall ein angstvolles, vielleicht auch nur aufgeregtes Quieken zu hören. Das störte die Idylle. Kommissar Marder hoffte, dass dort nichts Grausames geschah. Die Szene war so, wie er sie aus seinem früheren Leben auf dem Land im Norden kannte. Sie hatte wenig, eigentlich nichts, mit dem Rheintal gemeinsam, das nur einen Spaziergang entfernt lag Es gefiel ihm hier, er hatte fast das Gefühl, als wäre er wieder zuhause, in Niedersachsen.
Er ging zurück in den Wald, schlenderte über eine Lichtung, einen leicht abfallenden Hang hinab. Da war er, der Rhein. Tief unter ihm floss er Köln und dann dem Ruhrgebiet entgegen, danach in die Nordsee, wenigstens das hatte er mit der Elbe gemeinsam. Am Ufer auf der anderen Seite befanden sich bewaldete Höhenzüge, an manchen Stellen schroffe Felsen.
Eine Bank forderte ihn zum Sitzen auf. Direkt zu seinen Füßen lag das übersichtliche Häusermeer von Remagen, auf der anderen Seite des Flusses sah er die Stadt Erpel, rechts davon die Erpeler Ley, ein Plateau, auf dem sich ein beliebter Aussichtspunkt befand. Die dem Fluss zugewandte Seite des Berges war steil und abweisend. An der Erpeler Ley war von der Römerzeit bis ins zwanzigste Jahrhunderts Basalt abgebaut worden. Die Rinnen im Basaltgestein, die aus der Ferne wie Säulen aussehen, waren an der steilen Felswand deutlich zu erkennen. Auf halber Höhe klaffte ein großes Loch in der Wand. Als Marder es zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er vermutet, dass es eine Plattform war, auf der man Kanonen aufgestellt hatte, um die Brücke zwischen Remagen und Erpel im Krieg gegen die heranrückenden Feinde aus dem Westen zu verteidigen. Inzwischen wusste er es besser: Dieses Loch war das Ende eines Tunnels, der durch den Berg getrieben worden war. Von hier hatte man den Basalt, den man an der anderen Seite des Berges abgebaut hatte, einfach in das Tal gekippt, um ihn auf Kähne zu verladen.
Am Fuß des Hügels blickten zwei massive schwarze Türme auf den Fluss. Das waren die rechtsrheinischen Brückenköpfe der ehemaligen Ludendorff-Brücke, von der Marder wusste, dass sie als Die Brücke von Remagen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle gespielt hatte. Er hatte vor etlichen Jahren, als er gerade bei der Polizei angefangen hatte, den Film mit dem gleichen Titel im Kino gesehen. Er war in Amerika mit bekannten Filmstars produziert worden und hatte ihn damals mehr gepackt als die meisten Filme dieser Zeit. Er konnte sich noch an viele Details erinnern. Der Film handelte von der Überquerung des Rheins durch amerikanische Truppen und den vergeblichen Versuchen der deutschen Wehrmacht, sie daran zu hindern.
Von seiner Sitzbank aus wirkte der Kirchturm der kleinen Stadt Erpel nicht glorreich göttlich, sondern eher malerisch verschlafen. Die Häuser an den Hängen über dem Ort glänzten in der Abendsonne, ein wunderbar in sich ruhendes Bild. Hundert Prozent Rhein-Romantik. In zwei Stunden würde die Sonne untergegangen sein und die Hügel auf der anderen Seite des Stromes würden sich in eine dunkle Wand mit tausend Lichtpunkten verwandelt haben. Großartig und mysteriös.
Im Tal unter ihm pulsierte das Leben. Hier oben war er nicht Teil davon, sich jedoch der Hektik an beiden Seiten des Stroms bewusst. Bundesstraßen an den Ufern, Bahngleise eingeklemmt zwischen Wasser und Hügel. Schnellzüge, Bahnen des Nahverkehrs und Frachtzüge drängelten sich hier Tag und Nacht und belästigten Bewohner des Tales mit Lärm. Auf dem Fluss Schiffe, die unermüdlich Güter brachten und holten.
Er blieb einige Minuten auf der Bank sitzen, dann ging er ins Tal hinab, vorbei an stattlichen Häusern mit gepflegten Gärten. Hier wohnten die besser gestellten Leute in der Stadt. Menschen, deren Familien vermutlich ihren Wohlstand über Generationen weitergereicht haben. An der Sinziger Straße angekommen, die gleichzeitig die B9 war, nahm er allen Mut zusammen und überquerte die Fahrbahn in einer Lücke der endlosen Autokarawane, der nächste Fußgängerübergang war dreihundert Meter entfernt, diesen Umweg wollte er sich ersparen. Er musste sich beeilen, um nicht unter die Räder der Autos zu kommen, von denen sich kaum eins an die zulässige Höchstgeschwindigkeit hielt.
Am Rheinufer suchte er sich einen Platz vor einem Lokal an der Promenade, wo Besucher die Abendsonne genossen. Einheimische und Touristen. Wer von ihnen in der Mehrheit war, traute er sich nicht zu entscheiden. An einem Tisch vor einer Eisdiele sah er Benjamin Hofrichter, seinen Assistenten. Er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, und tat, als bemerke er ihn nicht. Er bestellte ein Alsterwasser und musste wieder einmal feststellen, dass in diesem Teil Deutschlands ein Alsterwasser nicht dasselbe wie in Niedersachsen war. Er hätte einen Radler bestellen sollen. Er nahm sich vor, sich das nun und endgültig zu merken. Er beobachtete die Möwen, die dicht über der Wasseroberfläche dahinsegelten. Am Rand des Stroms kämpfte eine Gruppe Enten gegen die Strömung. Er fragte sich, wo diese Tiere Plätze für ihre Nester finden, ohne dass sie von der Strömung oder von dem wechselnden Wasserstand des Flusses weggeschwemmt werden.
Ein Musiker mit seinem Akkordeon ging zwischen den Tischen und Stühlen auf und ab, spielte Wiener Kaffeemusik und bat mit traurigen Augen um milde Gaben. Manche Besucher gaben ihm etwas Kleingeld, die meisten ignorierten ihn, sie fühlten sich mehr belästigt als unterhalten. Radfahrer in Freizeitkleidung, davon einige in aufwendig bunten Rennoutfits, fuhren am Ufer entlang. Eigentlich war hier eine Fußgängerzone, aber das kümmerte die Radler wenig. Marder streckte seine Beine aus und schenkte der Welt um sich herum nicht länger Beachtung. Er dachte, wie so oft, über das Land am Rhein nach. Seine erste Erkenntnis war, dass am Fluss hier unten im Tal und im Gegensatz dazu in den Feldern und Wäldern nur hundertfünfzig Meter höher, wo er noch vor einer halben Stunde gewesen war, zwei unterschiedliche Welten existierten.
Seine zweite Erkenntnis betraf sein eigenes Leben. Alles in allem, dachte er, sind das Rheinland und die Menschen, die hier leben, keine schlechte Wahl für die Zeit vor meinem Ruhestand und erst recht nicht für die Zeit danach. Was ich kaum zu hoffen gewagt habe, ist eingetroffen. Meine letzten Dienstjahre werden, wenn alles gut geht, friedlich und harmonisch ohne Mord und Totschlag verlaufen. Mit Benjamin Hofrichter werde ich mich arrangieren. Ein typischer Rheinländer, aber ich denke, er ist lernfähig. Bis zu meinem Abgang als Pensionär werde ich ihm genug beigebracht haben, um ihn mit gutem Gewissen als meinen Nachfolger vorschlagen zu können.
Marder wusste nicht, wie weit er von der Realität der nächsten Zukunft entfernt war und wie zerbrechlich die Welt seiner Naivität war.
Wo war der Mann geblieben? Er hatte gesehen, wie er zwischen die Büsche verschwunden war. Er konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Etwas ging da vor. Er würde gern wissen, was es war.
Langsam öffnete er die Tür seines Autos. Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken. Man konnte ja nicht wissen, ob man schnell abhauen musste. Stehlen würde den Wagen in den nächsten Minuten bestimmt niemand. Er wartete einige Sekunden, dann stieg er aus. Leise drückte er die Autotür zu. Bloß kein unnötiger Lärm. Er blieb stehen und erschrak, ein Schatten huschte über den Boden. Eine Ratte oder eine Maus. Der Mond warf für Sekunden ein diffuses Licht über den Hof, dann verkroch er sich wieder hinter einer Wolke. Er lauschte. Nichts ist zu hören. Der Mann, er war sicher, dass es ein Mann war, könnte jederzeit aus den Büschen wieder hervorkommen. Er wartete einige Atemzüge, dann bewegte er sich vorsichtig auf das Gebüsch zu. Das Licht der Taschenlampe des Mannes war nirgends zu sehen. Alles war ruhig. Ihm wurde unheimlich, seine Neugier war jedoch größer als seine Angst. Er ging zwischen die Büsche, wo er den Mann hatte verschwinden sehen. Ein Zweig wischte ihm übers Gesicht, traf ihn im Auge. Er schob ihn unwirsch zur Seite. Er wollte fluchen, traute es sich aber nicht. Beim nächsten Schritt stieß er an die Felswand. Es musste irgendwo weitergehen. Er war unsicher, was er tun sollte.





