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Nur wie?
Ihr fiel nichts ein, er lief schweigend neben ihr her und konzentrierte sich auf die Linien zwischen den Pflastersteinen. Sie kamen zum Musikhaus Horn.
Vielleicht so?
Vor der Vitrine blieb Anna stehen. „In so einem Laden wollte ich mal über Nacht eingesperrt werden und alles ausprobieren.“
Er hielt mit zwei Schritten Verzögerung an. „Aha.“
„Wahrscheinlich wäre es ein Cello geworden. Weil meine Patentante … meine Güte, ich texte Sie hier zu.“
„Sie texten mich nicht zu. Ihre Patentante …?“
„War einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.“ Sie sah wieder ins Schaufenster. „Sie hat Pavarotti geliebt. Kennen Sie …“ Leise summte sie ein paar Töne und hoffte, dass er von alleine auf Nessun dorma kommen würde.
„Vincerò! Vincerò!“, antwortete er prompt. „Und was hat das mit Cello zu tun?“ Er lächelte.
„In cielo, habe ich damals verstanden und es hat einige Jahre gedauert, bis ich irgendwo dem Text begegnet bin. Da war dann natürlich überhaupt kein Himmel drin und ich kam mir ziemlich bescheuert vor.“ Sie sah seinen ernsten Blick.
„Gar nicht. Sie können das von jedem Cellisten hören, dass er ein himmlisches Instrument spielt, wenn Sie ihn fragen.“ Mehr sagte er nicht.
Sie hätte ihn gerne gefragt, ob er ein Cellist war, dass er das so genau wusste, aber sie traute sich nicht mehr. In der kurzen Zeit hatte sie schon genug geredet. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für eine der einsamen Frauen, die für jedes Wort dankbar waren, das einer an sie richtete.
Sie kamen am U-Bahn-Abgang an.
„Wiedersehen“, sagte er und verschwand auf der Rolltreppe in den Untergrund.
Sie sah dem Mann nach. Ohne Koffer hätte er wahrscheinlich immer zwei Stufen auf einmal genommen, um noch schneller ganz unten anzukommen.
Der Weißwein, den ihm die kleine, schwarzhaarige Stewardess vorhin im Kunststoffbecher serviert hatte, arbeitete in ihm. Croissants und Nussschnecken waren keine gute Grundlage, das hätte er eigentlich wissen müssen. Aber den Weg vom Hamburger Flughafen zum Bahnhof hatte er noch gefunden und er saß auch im richtigen Zug, in dem nach Stralsund.
Der letzte Halt war Schwerin gewesen, jetzt stand eine weißhaarige Frau vor Robert im Abteil. Sie ignorierte sämtliche anderen freien Plätze, als hätte sie sich ihn ausgesucht. Wie ein Hund aus dem Tierheim sein neues Herrchen.
Strample hier nicht im Treibsand rum, verteil lieber dein Gewicht, sagte er sich, gab sich einen Ruck und stand auf. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Die Frau ließ im selben Moment ihren Koffer los. „Junger Mann, das is‘ aber sehr zuvorkommend. Dass es so was noch gibt unter den Menschen …“
Als er das lederne Gepäckstück mit den abgewetzten Ecken ins Netz wuchtete, dachte er an seine Bandscheiben.
Was war bloß in dem Koffer? Goldbarren?
Was, wenn dieses Ding ihm sein Kreuz endgültig ruinierte? Der Dank für seine Pfadfindertat würde ihm ewig nachschleichen, zuallererst zur Krankengymnastik.
„Besten Dank.“ Die Weißhaarige setzte sich in Fahrtrichtung, Robert gegenüber.
Sein Rückgrat hatte gehalten.
„Ich besuche meine Schwägerin, die wird morgen fünfundachtzig“, sagte sie wie zur Eröffnung ihres persönlichen Damenkränzchens. „Und, wissen Sie, im Zug sind die Viererplätze mit Tisch die besten. Da lernt man die Leute kennen!“ Sie sah ihn prüfend an. „Oder man schweigt gemeinsam.“
Er nickte.
Sie zog ihre Lesebrille an der Kette aus der Tasche, zückte einen dicken Schmöker, versank darin und schmatzte ihr Bonbon, dessen baldiges Ende sich Robert schon nach zwei Minuten sehnlichst wünschte. Als sie es endlich zerbiss, war es wie eine Erlösung.
Er schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als die Bonbontüte raschelte. Die Schmatzerei ging von vorne los. Das würde kein Ende nehmen, bis diese Frau ausstieg, so viel war ihm klar.
Robert überlegte, ob er aufstehen und sich einen Kaffee im Bistro genehmigen sollte. Gab es überhaupt eines in solchen Zügen?
Er blieb sitzen und schaute aus dem Fenster, vor dem kleine weiße Flocken auf grünbraunem Grund vorbeizogen. Wenn er als Kind Schafherden gesehen hatte, war das Ziel nicht mehr weit gewesen. Inzwischen standen überall Windräder herum, denen man in Bodennähe unterschiedlich grüne Ringe verpasst hatte, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie sich dadurch besser ins Landschaftsbild einfügten.
Die Veränderungen in Roberts Leben ließen sich auch nicht schönfärben, er hatte sie zu akzeptieren.
Schwamm drüber.
Das Schicksal war in erster Linie hart zu Kai gewesen, nicht zu ihm. Mehr als Begleitung hatte Robert nicht sein können und damit doch nichts erreicht. Außer, dass sich Fiona in derselben Zeit von einem ihrer Arbeitskollegen hatte schwängern lassen.
Schluss jetzt, ermahnte er sich, hör auf zu zappeln, sinkst ja doch nur tiefer ein.
Dieser IC würde ihn jetzt ans Meer bringen. Und wieder daheim würde Robert die Abteilung wechseln, weil er eine junge Frau auf dem Gewissen hatte, die vielleicht zu retten gewesen wäre. Kein Polizeipsychologe der Welt hätte es geschafft, ihm in einem akzeptablen Zeitrahmen das Gegenteil einzureden.
Die Landschaft zog vor Roberts Blick vorüber, es gab keine Bäume am Bahndamm und er war dankbar dafür. Licht- und Schattenspiele hätten ihn jetzt wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben.
Robert sah die alte Dame an. Wie sie da leise lächelnd saß, hatte sie Ähnlichkeit mit seiner Mutter, die mit fünfundsechzig noch viel zu jung gewesen war fürs Altersheim. Als die elterliche Wohnung aufgelöst werden musste, hatte er mit seiner Schwester die Bücher geteilt. Um genau zu sein, war nur eines zu seinem geworden, weil ihm das Cover mit dem Ausschnitt vom Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle schon zu Zeiten gefallen hatte, als der Geschmack von Bierschinkensemmel und Apfel für ihn noch das größte Glück auf Erden bedeutet hatte.
Die uralte Ausgabe von Stones Michelangelo stand nun daheim im Regal und Robert wollte sie eines Tages als Reisevorbereitung lesen. Nicht heute, sein Ziel war nicht Rom, sondern Rügen.
Robert fiel ein, dass der Zettel mit den Ausflugstipps seiner Schwester noch zu Hause herumlag. Seine Packliste hätte er sich demnach sparen können. Er wurde langsam alt. Bis er fünfundachtzig war, fehlte allerdings noch die Hälfte.
Grausame Vorstellung.
„Schneller, Mama“, sagte ein kleiner Rotschopf und zerrte seine Mutter an der Hand durch den Mittelgang.
„Langsam, ‘ne alte Frau is‘ doch kein D-Zug“, sagte sie und lächelte scheu in Roberts Richtung.
„Ich will aber ganz schnell zum Fahrer vor!“, krächzte der Kleine.
Ein angehender Lokführer.
Robert überlegte. Er selbst war damals elf gewesen, als er endlich und endgültig herausgefunden hatte, was er einmal werden wollte.
„Wir nehmen den Nachtzug. Dann wird das eine Zauberfahrt“, hatte seine Mutter ihm und seiner Schwester versprochen. „Man geht quasi Zuhause ins Bett und wacht kurz nach Sonnenaufgang am Meer wieder auf.“
Nach der Durchsage des Schaffners, ob ein Arzt an Bord wäre, war sein Vater mitten in der Nacht von der Liege in seine Hose gesprungen und auch nach dem ewig langen Halt des Zuges im nächsten Bahnhof nicht wiedergekommen. Robert hatte sich die aufregendsten Geschichten ausgemalt und musste darüber eingenickt sein, denn Vaters Rückkehr ins Abteil hatte er ebenso wie die Weiterfahrt verschlafen.
Die Informationen am nächsten Tag waren spärlich gewesen.
„War nicht so schön. Wir haben die Polizei gebraucht“, hatte sein Vater gesagt.
Mehr war aus ihm über den Grund für die zweistündige Zugverspätung nicht herauszubekommen gewesen, bis heute nicht. Damit sich so etwas nie mehr wiederholte, hatte Robert an dem Tag beschlossen, zur Kripo zu gehen, und er war dabei geblieben.
An eines konnte er sich noch erinnern: Da war nicht der versprochene Sonnenaufgang am Meer gewesen, es hatte junge Hunde geregnet.
Wie heute früh. Und wie vor knapp drei Monaten.
Als Fiona ausgezogen war, hatte sich der werdende Papa, ein breit grinsender Pfeffersack, auf der Ladeluke stehend wichtiggemacht. Robert war in sein Auto gestiegen und in irgendeinem Wald spazieren gegangen. Ohne Schirm im kalten Sommerregen, er hätte nicht mehr sagen können, wie lang, aber die Reste der Erkältung, die er sich dabei eingefangen hatte, lagen ihm immer noch auf den Bronchien, er wurde das Zeug einfach nicht los. Die Raucherei, die er wieder für sich entdeckt hatte, tat vermutlich das Ihrige dazu.
Geschieht dir ganz recht, du Oberhirsch, dachte er bei jedem größeren Hustenanfall, der ihn an Kais Buch von damals erinnerte. Das war ein ausgemustertes internistisches Lexikon gewesen, voll mit eindrucksvollen Bildern von geteerten Lungen und Raucherbeinen. Sein Freund hatte es schon mit zwölf von seinem Vater bekommen.
Und jetzt?
Jetzt lebte Kai nicht mehr, obwohl er nicht geraucht hatte. Und wie Robert bei Bea mitansehen musste, brachte Verzicht auch nichts. Aus welchem Grund sollte ein Mensch auch hundert werden wollen?
Er spürte Bitterkeit aufsteigen.
Die Spiro-Geschichten lagen noch im Drucker, er hatte sie vergessen. An den Memory Stick zu denken war ihm gelungen, aber der eignete sich mit Sicherheit nicht für eine lange Reise als Flaschenpost. Andererseits überlegte Robert schon jetzt, ob er dieses Vermächtnis dadurch loswerden würde. Er hatte seine Zweifel. Was, wenn er sich danach für den Rest seiner Tage wie ein Verräter fühlte?
Er erschrak, als die Frau ihm gegenüber ihr Buch zuklappte.
„Wären Sie gleich nochmal so nett, junger Mann?“, fragte sie.
War der nächste Halt schon Rostock? Dann musste er die Durchsage überhört haben. Abgesehen davon war die Frau eine schlechte Lügnerin. Man konnte viel über ihn sagen, aber nicht, dass er jung aussah. Schon allein der Vollbart mit den ersten grauen Flusen darin musste ihr verraten, dass er die Vierzig gerissen hatte. Er half ihr trotzdem mit dem Koffer.
Früher, als Kind, hätte er sein Gepäck auf dem Bordstein stehen gelassen und wäre an den Strand gelaufen. Robert hielt inne, spürte den kühlen Wind auf der Haut und holte einmal tief Luft. Zu tief. Sein Husten rächte sich, ließ ihn an Teerlungen und Raucherbeine denken, ehe er sein Gepäck aufnahm und die pompöse Lobby betrat.
Der blonde Jüngling an der Rezeption war eifrig, verkniff sich die lehrbuchgemäße Frage nach der Anreise und kam gleich zum Geschäftlichen. „Wenn Sie das hier bitte durchlesen wollen, ob wir Ihre Angaben richtig übernommen haben“, sagte er mit breitem, sächsischem Akzent.
Robert las und nickte.
„Ihr Zimmer ist im vierten Stock, Nummer vierhundertsechs, fast ganz am Ende des Gangs … und wenn ich das richtig sehe, brauchen Sie tatsächlich nur eine Karte?“
Die blondgefärbte Kollegin des Jünglings zuckte leicht zusammen, Robert blieb gelassen.
„Das sehen Sie richtig“, sagte er.
„Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen: Wir sind jederzeit und immerzu für Sie da.“
Die Kollegin deutete auf eine Liste. „Wenn wir Sie noch auf unser Restaurant aufmerksam machen dürften …?“
„Ah ja“, sagte der Jüngling und wurde rot. „Sie können sich hier eintragen. Jeweils bis mittags für den nächsten Abend zum Essen bei uns.“ Er sah zur Wanduhr. „Also für heute nicht mehr, aber dann für morgen.“
„Danke für den Hinweis“, sagte Robert und fragte sich, ob es wohl möglich war, den Tisch im Restaurant als Dauerauftrag für den gesamten Aufenthalt zu reservieren. Denn dass er zwei Wochen lang an der Promenade entlanglaufen und sich jeden Abend damit beschäftigen würde, wo er nun was essen sollte, konnte er sich nicht vorstellen.
„Dann, wie gesagt, einen schönen Aufenthalt und hier ist Ihre Karte.“
Robert nahm sie entgegen und danach den Aufzug in den vierten Stock. Der dicke blaue Teppich auf dem Flur bremste die Kofferrollen, aber der war ihm lieber als unsauber verfugte Pflastersteine.
Er sah das Meer durchs Fenster am Ende des Gangs und las die Zimmernummer. Vierhundertzehn. Robert war zu weit gegangen.
Zwei Türen davor gab ihm der Sensor grünes Licht. Der Raum war in grauen und weinroten Tönen eingerichtet und gefiel ihm sogar besser als auf dem Foto im Netz.
Als Robert das Doppelbett sah, war ihm klar, warum ihm der Azubi zwei Karten geben wollte.
Das war einmal.
Er konnte sich trotzdem noch gut an ihre Urlaube und sogar an die frühen Freitagabende daheim erinnern. Einmal hatte er Fiona, eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa liegend, gefragt: „Weißt du eigentlich, wie sich das Warten auf den ersten Kuss nach einer Woche anfühlt?“
„Nein. Wie denn?“ In ihrer Stimme keine Spur von Neugier.
„Wie das Warten auf den Weihnachtsabend.“
Kopfschütteln an seiner Schulter. „Spinner.“
Er hatte trotzdem einen Kuss bekommen. „Spürst du das eigentlich nicht? Bei mir kribbelt es spätestens seit Mittwoch am ganzen Körper.“
„Hm. Nein. Das kenne ich nicht.“
Er war tatsächlich ein Spinner gewesen. Gescheitert an seinem Traum von der ewigen Beziehungsromantik trotz des Alltags. Selbst in der Fernehe hatte sie die Routine eingeholt und die Gespräche waren kürzer geworden.
„Hier gibt’s nichts Neues“, war ihr Dauerbrenner gewesen. Und: „Viel Arbeit, neue Aufträge, noch dazu ein Frischling zum Einarbeiten. Ich komme gar nicht mehr dazu, an andere Sachen zu denken.“
Sachen wie mich, hatte er an solchen Stellen zunehmend stiller ergänzt.
War es um seine Arbeit gegangen, hatte er oft das Gefühl gehabt, sie hätte nebenbei E-Mails gelesen oder SMS getippt.
Am Ende, als der Frischling sich anders als erwartet bewährte, hatte Fiona nur noch gesagt: „Mach dir um mich keine Sorgen.“
Sie hatte da schon keine mehr. Sie hatte für neues Leben gesorgt, während er Bea dabei zusehen musste, wie sie …
Robert drehte den Griff an der Fenstertür und trat über die Schwelle auf den Balkon. Von dort hatte er den seitlichen Meerblick, wie versprochen. Das Hotel lag direkt an der Strandpromenade, einen Katzensprung vom Wasser entfernt. Das war purer Luxus, den er sich da leistete.
Als er wieder ins Zimmer trat, zeigte ihm der Spiegel neben der Garderobe einen Typen, den er auf der Straße weder gegrüßt noch bedauert hätte. Weil jeder seines Glückes Schmied war und wenn einer sich so gehen ließ …
Was Robert jetzt brauchte, hatte er: ein Badezimmer und eine Rasierklinge. Er musste es nur noch tun.
„Mach das Ding bloß nicht auf, bevor ich unter der Erde liege!“, waren Claras Worte gewesen. Annas Patentante hatte ihr schon Jahre vor ihrem Tod diese Schuhschachtel übergeben. Nicht besonders gestaltet, nur ein weißer Karton mit einem dunkelblauen Deckel und einem braunen Paketband verschlossen, vom Gewicht her kaum der Rede wert.
„Du weißt, dass ich nicht an ein Wiedersehen glaube, aber wenn sich deine Meinung über mich dadurch ändert, will ich das wenigstens nicht erleben!“
„So schlimm?“ Anna hatte den Kopf geschüttelt. „Dann möchte ich, dass du die Sachen verbrennst.“
„Aber du schreibst doch noch, oder?“ Clara klang heiter.
Anna zuckte die Schultern. „Ab und zu.“
„Dann heb die Schachtel auf. Vielleicht inspiriert sie dich eines Tages zu einem Roman. Also, ich an deiner Stelle würde sie aufheben. Es geht um Liebe, um nichts anderes.“
Anna war nie neugierig gewesen, sie hatte die Schachtel angenommen und nicht geöffnet. Wollte sie, dass sich ihr Bild von Clara jetzt, fünf Jahre nach deren Tod, wandelte? Anscheinend war sie nun auf dem Trip, neugierig zu sein. Die Sachen waren für sie bestimmt, da durfte sie guten Gewissens hineinschauen.
Anna nahm die Schere und ritzte das Paketband an. Ihre Finger zitterten, als sie den Deckel anhob.
In der Schachtel lagen Postkarten, darunter einige Briefe, mit einer silbernen Schleife zusammengehalten. Dem Absender nach handelte es sich um Post von Claras Mann. Der war fünfzehn Jahre vor ihr ohne jede Vorwarnung am Sekundenherztod verstorben und Clara hatte danach keinen anderen mehr angeschaut.
Als Anna einmal hatte wissen wollen, warum, war die Antwort eine Gegenfrage gewesen: „Glaubst du wirklich, ich würde die Liebe meines Lebens ein zweites Mal finden?“ Clara hatte die Augenbrauen gehoben. „Und nimm an, es wäre so. Was mache ich, wenn der Mann mich auch wieder so Knall auf Fall verlässt wie mein Heiner?“
Unter den gebündelten Briefen lag ein großes Kuvert. Für mein Paten- und Wahlkind stand darauf. Jetzt war es kein Zittern mehr, der Umschlag bebte in Annas Händen. Sie nestelte die Seiten heraus. Die waren auf derselben elektrischen Schreibmaschine geschrieben, auf der sie damals als Kind an so manchem Wochenende das Zehnfingersystem geübt hatte, das war vermutlich kein Zufall. Dem Datum des Briefes nach hätte es zu der Zeit in Claras Haushalt durchaus schon einen Drucker gegeben.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das ich schon kannte, als es drei Stunden alt war, und das ich groß werden sah. Neugierig, wissbegierig, mit einer bestechenden Logik gesegnet oder gestraft – wie man es nimmt– und von Tag zu Tag hübscher und charmanter, ohne sich dessen bewusst zu sein, und das war gut so.
Als dieses Mädchen zur jungen Frau geworden war, stellte es mir einen Mann vor. Nicht leibhaftig, sondern in Form von Anekdoten. Ich konnte mir ein Bild von ihm und seinem Charakter malen. Das war kein gutes.
Ich spürte, dass dieses Mädchen einen Menschen ausgewählt hatte, der nicht zu ihm passte, und ich spürte auch, dass es das tief in seinem Herzen wusste, aber nicht zugeben wollte. Es war verliebt, jedoch nicht naiv. Die rosa Brille hielt lange, doch als die Gläser klarer wurden, hörte das Mädchen immer noch nicht auf zu denken, alles könne gut werden, wenn es das nur genug wollte. Es nahm sich vor, sich noch mehr Mühe zu geben, es wollte mit dem Kopf durch die Wand, und es sagte Ja, als der Mann es schließlich fragte, ob es ihn heiraten wolle.
Ich dachte: Nein.
Man kann einen Mann nicht verändern, wenn er in dem Alter noch immer eine kindliche Vorstellung von der Liebe zwischen Mann und Frau hat. Es ist egal, warum er so empfindet, nur eines hätte Dir an der Stelle klar sein müssen: Liebe wird für ihn nie das bedeuten, was sie Dir bedeutet, mein Mädchen. Und ich befürchte sogar Schlimmeres: Er wird sich eines Tages so zeigen, wie er wirklich ist. Vielleicht sogar lieblos, was ich nicht hoffe, aber für möglich halte, nach all dem, was ich gehört habe. Für mich ist er ein seelentauber Mensch, wofür er vermutlich nichts kann. Aber genau deswegen ist er nichts für Dich. Ein Partner ist in seinen Augen ein Besitz, der mit Zähnen und Klauen verteidigt werden darf. Er wird seine Vorstellung davon, wie er geliebt werden soll, durchsetzen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt. Solchen Menschen traue ich alles zu, nur nicht das Einfühlungsvermögen für ein lebenslanges Miteinander auf Augenhöhe.
Er ist ein Mann, dessen erklärtes Ziel es nicht ist, seiner Frau die Welt zu Füßen zu legen oder ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Auch nicht, wenn er mit ihr schläft. Er wird immer die Dunkelheit bevorzugen, weil er Angst vor dem Licht hat, und er wird sich auch in der Liebe hauptsächlich um sich selbst kümmern.
Einer wie er kann sich nicht öffnen, er kann nicht loslassen, er kann nicht vertrauen, weil er sich selbst und seine Gefühle nicht kennt und sie sich auch nicht zeigen lassen wird, denn er glaubt, schon alles zu wissen und vor allem besser.
Ich kann Dir nur eines sagen, von Frau zu Frau: Seitdem die Sklaverei und all die anderen abscheulichen Dinge dieser Art abgeschafft wurden, gibt es keinen Besitzanspruch mehr! Der Mensch bleibt auch als Partner frei!
In einer echten Partnerschaft darf jeder stets ein eigenständig denkendes und fühlendes Individuum bleiben. Wer wirklich liebt, gibt dem anderen den Freiraum, den er braucht, denn er vertraut ihm.
Wenn zwei einander im Gespräch nahe bleiben, wird es keine Defizite geben, die sich nicht ausräumen ließen. Es gibt keinen Grund auszubrechen oder sich in fremden Gärten umzusehen, wenn die Basis stimmt und über Jahre und Jahrzehnte gefestigt wird. Mit Festigen meine ich nicht die Macht der Gewohnheit, immer wieder sonntags seinen Lieblingskuchen gebacken zu bekommen wie bei Mama, oder aus Bequemlichkeit beim anderen zu bleiben! Damit meine ich Liebe, die wächst, Liebe, die dadurch stärker wird, dass man sich miteinander entwickelt und einander mit jedem Tag mehr zu schätzen weiß.
Was mich so sicher macht? Meine Erfahrung. Heiner und ich haben uns Treue geschworen und hatten nie das Gefühl, zu ihr gezwungen zu sein. Wir haben einander geachtet und immer mehr dafür geliebt, dass wir einander hatten und füreinander da sein konnten. Wir haben jeden Tag bewusst miteinander gelebt und den Humor nie aus den Augen verloren. Sogar ein Lachen kann ein Liebesbeweis sein, glaub mir.
Als wir noch verlobt waren, hat er mich einmal gefragt, ob ich glaube, dass man eine Liebe wie unsere in einer Ehe aufrechterhalten kann.
„Ja“, habe ich gesagt. „Weil wir uns nicht darauf verlassen, dass sie von alleine hält.“
Er wollte von mir wissen, ob uns nicht eines Tages der Alltag einen Strich durch die Rechnung machen würde. Das war zu einer Zeit, als wir noch dachten, eines Tages würden unsere eigenen Kinder ins Schlafzimmer gelaufen kommen. Ja, habe ich ihm geantwortet, denn ich war von der Kraft unserer Liebe überzeugt. Auch als Eltern bleibt man ein Paar, das sich Zeit füreinander nehmen darf und sich Inseln der Zweisamkeit schafft.
Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus, sondern auf Folgendes: Man muss nicht alle vierundzwanzig Stunden Sex haben, um zu zweit glücklich zu sein. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, dem anderen zu zeigen, wie sehr man ihn liebt.
Bist Du schon einmal von seinem Blick geküsst worden? Hat er Dich schon einmal kurz angerufen, um Dir zu sagen, dass er Dich noch spürt? Hattest Du schon einmal das Gefühl, dass er Dir in einem Gespräch über Alltagsdinge mit jedem Wort sagt, dass er Dich liebt? Bist Du von ihm nach einem harten Tag schon einmal umarmt worden, Wange an Wange, bis Du Dich ganz wohl gefühlt hast und wieder lächeln konntest, weil er einfach für Dich da war und spürte, was Du gerade brauchtest?
Du musst es mir nicht sagen, ich weiß es.
Solche Dinge würden Dich für den Augenblick alles rundherum vergessen lassen, Du wüsstest, dass Du angekommen bist, dass dieser Mensch der ist, der für Dich geboren wurde. Du wüsstest, dass es nie hätte besser werden können, weil eine solche Liebe das Größte ist, was Dir im Leben passieren kann. Weil Dich Dein Mann so nimmt, wie Du bist, und Du bei ihm so sein darfst, wie Du bist. Und weil Du bei ihm Kraft tanken kannst für die Aufgaben, die Dir das Leben stellt, und für die Herausforderungen, denen Du Dich stellen möchtest, um an ihnen zu wachsen.
Du darfst erst aufhören zu suchen, wenn Du Dich ergänzt fühlst. Dann wirst Du nie denken, Du hättest kostbare Lebenszeit vergeudet, hättest wartend sinnlose Wochen abgesessenen und es gäbe kein Kämpfen um ein bisschen Freude am Leben.
Es gibt nicht nur Sonnenschein auf der Welt, das dörrt sie doch nur aus.
Man kann sich auch nicht versöhnen, ohne zuvor gestritten zu haben. Gewitter tun gut, wenn es zu lang drückend schwül war und kaum auszuhalten. Aber selbst im Streit muss man einander respektieren und den anderen akzeptieren, wie er ist. Nicht wie er sein könnte.
Wer sich vor der Ehe nie nahe gekommen ist, wird es auch in ihr nicht. Außer er wacht auf… und darauf haben schon viele gewartet. Frag mich, ich habe unzählige Beziehungen scheitern gesehen!
Jetzt zu erfahren, dass dieses, mein Mädchen, sich vor dem Gesetz für einen Mann entscheiden wird, dem ich all das nicht zutraue, was mir so immens wichtig erscheint, tut unendlich weh. Es ist schade um die Jahre Deines Lebens und um den Kummer und das Leid, die auf Dich zukommen werden. Ja, es wird viel Leid geben, und das zu wissen macht es für mich noch schlimmer. Es geht ja eines Tages wahrscheinlich nicht mehr nur um Dich allein, sondern auch um Deine Kinder.




