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Rian ließ den Stadtplan und die Schlüsselkarte in ihre Umhängetasche fallen und drehte sich zu David um. In diesem Moment kreischte die junge Frau an der Bar auf und ließ ihr Glas fallen. Blass deutete sie auf die Flasche auf der Theke.
»Der … der Wurm … er hat sich bewegt! Er ist rumgeschwommen! Da, schau!«
»Aber Mausi, das kann doch nicht sein, der ist tot!« Der junge Mann lachte auf.
Der Mann vom Empfang murmelte eine Entschuldigung und hastete zur Bar, um die Scherben aufzusammeln.
»Pirx, lass das!« zischte Rian dem Pixie zu.
»Tut mir leid«, piepste er. »Manchmal geht es einfach mit mir durch …«
»Tunichtgut«, brummte Grog leise und packte den Pixie mit geübtem Griff durch die Mütze hindurch an den Kopfstacheln, um ihn hinter David und Rian her zum Aufzug zu ziehen. »Man weiß manchmal wirklich nicht, was man mit dir anfangen soll.«
Am nächsten Morgen standen die Elfen bei Sonnenaufgang auf und bedienten sich am Frühstücksbuffet an Früchtesalat und süßen Brotaufstrichen. Grog und Pirx bekamen ebenfalls unauffällig ein paar Früchte zugesteckt mit der geflüsterten Anweisung, sich aufs Zimmer zurückzuziehen. Durch die Fenster des Frühstücksraums konnte man sehen, dass die Regenwolken des Vortags zum Großteil vom Wind davongetrieben worden waren, und als die Elfen später auf die Straße traten, spiegelten sich die Strahlen der Morgensonne in den verbliebenen Pfützen und tauchten das Städtchen in ein angenehmes goldgelbes Licht.
»Es ist schön hier, wenn es nicht gerade regnet«, sagte Rian, während ihr Blick an einer stuckverzierten Hausfront ein Stück weit die Straße hinunter hängenblieb. Die Verzierungen zeigten ineinander verschlungene Blumenranken und Blüten, die in Rian erneut die Erinnerung an ihr Heimweh vom Vortag weckten.
»Wie du meinst«, meinte David. »Aber das hilft uns nicht weiter. Wo ist dieser Stadtplan?«
Rian zog den Plan aus ihrer Tasche und entfaltete ihn. Gemeinsam mit ihrem Bruder enträtselte sie die Einträge darauf, bis sie schließlich einigermaßen einig waren, welchen Weg sie wählen mussten. Rian steckte den Plan wieder weg und eine zweistündige Odyssee durch die Straßen von Worms begann.
Als sie schließlich zum fünften Mal auf den alles überragenden gotischen Dom zuhielten, um sich von dort aus neu zu orientieren, fanden sie sich unvermittelt an einer Kreuzung wieder, auf deren anderer Seite neben einer zurzeit geschlossenen Eisdiele einige Marktstände und -wagen aufgebaut waren. Erfreut stopfte sich Rian einen von den Nougattrüffeln in den Mund, die sie umgehend erworben hatte, und zeigte auf die Kirche, die sich darüber erhob.
»Das muss diese Heilig-Geist-Kirche sein«, rief sie. »Dahinter ist es!«
»Wenn du nicht an jedem Laden mit Süßigkeiten oder Glitzerzeug angehalten hättest, könnten wir schon längst da sein«, bemerkte David lakonisch. »Also gehen wir.«
Sie warteten nicht bis zur nächsten Grünphase, sondern eilten schnell über die ohnehin leere Straße. Die Aufregung ließ Rian wie ein junges Reh weiterrennen, zwischen den wenigen Marktbesuchern hindurch und zur Ecke der Kirche. Dort erhob sich ein zweistöckiger Brunnen, auf dessen Spitze ein steinerner Krieger sein Schwert in einen schlangenartigen Drachen trieb. Erstaunt blieb sie stehen und starrte hinauf, bis sie Davids Schritte neben sich hörte.
»Schau mal!«, rief sie aus und wandte sich ihm zu. »Glaubst du, dieser Siegfried hat tatsächlich einen der Drachen getötet?«
»Ist mir einerlei«, antwortete David gereizt. »Aber da drüben ist das große I für Information, und da gehe ich jetzt hin!«
»Oh.« Rian warf einen letzten Blick auf die Statue, ehe sie David folgte. Als Grog keuchend zu ihr aufschloss, Pirx hinter sich im Schlepptau herziehend, sah sie zu ihm hinunter und lächelte. »Sag mal, Grog, hast du welche von den alten Drachen gekannt?«
»Uff«, antwortete der Kobold und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während er neben ihr in einen gleichmäßigen Trott fiel, um ihren langen Schritten zu folgen. »Schon. Ich habe den einen oder anderen von ihnen getroffen. Ist aber eine ganze Weile her. Ich schätze, die sind noch seltener geworden als die Riesen.« Grog blinzelte leicht, und Rian musste schlucken, als sie an ihren Vater dachte.
In diesem Moment erklang vor ihr die leise Glocke der Eingangstür zur Touristeninformation, und Rian beeilte sich, die Tür für Grog und Pirx aufzuhalten, ehe sie selbst eintrat. Eine Viertelstunde später kamen sie wieder heraus, um einige Karten und Broschüren zu Worms, dem Nibelungenlied und der Siegfriedstraße reicher.
Rian seufzte. »Das ist zwar nett, und sie waren hilfsbereit, aber zu den Siegfriedsbrunnen wissen wir auch nicht viel mehr als vorher.«
»Scheint kein so beliebtes Touristenthema zu sein – was für uns nur gut sein kann«, meinte David. »Sie sagten etwas von einem Nibelungenmuseum. Lass uns auf deiner Karte schauen, wo das ist, vielleicht weiß dort jemand mehr.«
Rian nickte, schob mit bedauerndem Blick die letzte Praline in den Mund und warf die Schachtel in den Abfalleimer. Sie kramte in ihrer Tasche zwischen den Tütchen mit Modeschmuck und Süßigkeiten, die sich unterwegs darin angesammelt hatten, bis sie den Plan gefunden hatte. David war derweil ein Stück weiter zu einer großen Tafel gegangen und winkte sie zu sich. Es stellte sich heraus, dass die Tafel eine Karte von Worms war. Seufzend ließ Rian ihren Stadtplan wieder in der Tasche verschwinden.
Gründlich studierten sie gemeinsam den Plan.
»Sieht doch einfach aus«, meinte Rian. »Hier die Straße runter, und dann links, und dann wieder rechts. Also … da lang.« Sie zeigte in Richtung der Fußgängerzone, aus der sie zuvor gekommen waren.
»Da lang«, brummte Grog und zeigte die Straße hinunter, an der sie standen.
David kniff die Augen zusammen, musterte ein nahes Straßenschild, schaute hinauf zum Dom, dessen massige Türme auch von diesem Platz aus sichtbar waren, sah wieder auf die Karte und zuckte die Achseln. »Grog hat Recht«, stellte er fest. Er wandte sich um, um der Straße in der vom Dom wegführenden Richtung zu folgen, einen »Hab ich doch gesagt!« brummelnden Grogoch und einen auf dem Kantstein balancierenden Pirx im Schlepptau. Rian warf einen kurzen sehnsüchtigen Blick in Richtung der Fußgängerzone mit all den netten Läden, ehe sie sich ebenfalls der Gruppe anschloss.
Ein gutes Stück weiter fanden sie ein Schild, das nach links zeigte. Die nächste Abzweigung verpassten sie, da dort kein Schild mehr stand, bogen dafür eine Straße später ab und standen tatsächlich wenig später vor dem Nibelungenmuseum.
Es wirkte auf Rian, als habe jemand sieben riesige ovale Weinfässer der Länge nach halbiert, die Wände außen mit Blech verkleidet, die Deckel durch Glas ersetzt, und die Rückseiten gegen die an dieser Stelle gut erhaltenen Reste der Wormser Stadtmauer geschoben. Zwischen der vierten und der fünften Fasshälfte stand außerdem ein quadratischer Blechturm mit spitzem Dach. Das mittlere Fass war der Eingang. Was Rian im Vorbeigehen durch die verglasten Außenwände der drei Fässer links daneben gesehen hatte, deutete darauf hin, dass dort eine Ausstellung oder ein Laden war.
Rian stieg die Stufen zum Eingangsfass hoch und trat ein, gefolgt von den Kobolden und David. Vom Eingangsbereich aus kamen sie an einigen Garderobenständern vorbei in einen breiten Quergang, der innerhalb der Stadtmauer lag. Nun verstand Rian die Form der modernen Anbauten: Die Mauer musste an dieser Stelle einen Bogengang beherbergt haben, und in die Bögen dieses Gangs hatten die Erbauer die Räume eingepasst. Vielleicht war sogar in früheren Zeiten jeder dieser Bögen ein eigener Raum gewesen, und der Quergang war erst nachträglich erschaffen worden.
Rian blieb unschlüssig stehen und sah in beide Richtungen des Quergangs. Links sah man einen Bereich, der als Verkaufsraum diente. In einer Vitrine lagen nachgearbeitete historische Fundstücke, Bücher und Broschüren aus, und allerlei andere Souvenirs waren dazwischen verteilt. Rechts sowie über eine geradeaus befindliche Wendeltreppe schien es in verschiedene Teile des eigentlichen Museums zu gehen.
Während Rian noch zögerte, steuerte David direkt auf einen links im nächsten »Fass« aufgestellten Tresen zu, hinter dem eine junge Frau mit schulterlangem schwarzem Haar saß und etwas sortierte. Rian gab den Kobolden Zeichen, im Eingangsbereich zurückzubleiben.
Als David sich mit verschränkten Armen auf den Tresen lehnte, sah die Frau dahinter auf und schob eine störende Haarsträhne hinter ihr Ohr, ehe sie zu lächeln begann. Ihre leicht mandelförmigen Augen leuchteten dabei in einer Weise auf, die Rian verriet, dass ihr Bruder sie bereits für sich eingenommen hatte, ehe er auch nur ein Wort gesagt hatte.
Die Elfe empfand etwas zwischen Amüsiertheit und Mitleid für die Menschenfrau. Sie war hübsch und könnte seine nächste Eroberung werden. Unter Elfen war so etwas üblich, doch Menschenfrauen schienen damit oft Probleme zu haben, was ihr Leben in Rians Augen unnötig kompliziert machte.
Die Elfe seufzte leise und nahm von einem Tischchen einen kleinen bunten Stoffdrachen auf, der mit Sand gefüllt war, um damit herumzuspielen, während sie ihren Bruder und die Frau am Tresen beobachtete.
»Wir sind auf der Suche nach dem echten Siegfriedsbrunnen«, sagte David. »Können Sie uns sagen, wo wir ihn finden?«
Die Frau lachte auf, und der helle Klang machte sie Rian spontan sympathisch.
»Wenn ich das wüsste, müsste ich mir um das Thema meiner Doktorarbeit keine Sorgen mehr machen«, antwortete sie. »Seit Jahrhunderten wird darüber gestritten, welcher der vielen Kandidaten der richtige ist, und für jeden gibt es gute Argumente. Welcher es wirklich ist, und ob es überhaupt einen echten Brunnen gibt – wer kann das schon wissen?« Sie hob die Hände in einer hilflosen Geste, und ihre Augen funkelten fröhlich, während sie lächelnd von David zu Rian sah. Die Elfe erwiderte das Lächeln und setzte den Stoffdrachen wieder ab.
David fuhr sich durch das Haar und fing den Blick der jungen Frau damit wieder für sich ein. »Wir würden es vielleicht herausfinden, wenn wir diese Orte einmal besuchen könnten.«
Die Augenbrauen der Frau wanderten hoch. »So? Inwiefern?«
»Wir haben ein Gespür für so etwas.« Rian hörte das Lächeln in seinen Worten, ohne es sehen zu müssen.
»So ein Gespür käme mir zupass«, erwiderte die junge Frau trocken. »Allerdings würde es mir keinen Gewinn bringen, solange ich es nicht mit Fakten untermauern könnte.«
»Vielleicht können wir auch Fakten dazu liefern«, warf Rian ein, während sie zu einem Tischchen mit wassergefüllten Halbkugeln schlenderte, in denen grüne Drachen saßen.
»Sie?« Der Unglaube war klar aus der Stimme der Frau herauszuhören.
Rian nahm eine der Kugeln auf, sah dann zu der jungen Frau und nickte. Diese runzelte die Stirn.
»Was sind Sie – Historiker? Warum wissen Sie dann nicht bereits, wo die Brunnen liegen?«
»Wir sind nicht von hier«, antwortete Rian und drehte die Kugel auf den Kopf, um kurz darauf goldenen Flitter und Sternchen auf den Drachen regnen zu lassen. Der Anblick ließ sie lächeln. »Und nein, wir sind keine Historiker. Wir sind … Journalisten.« Es war das Erste, was ihr einfiel. Und sie hielt es für keine schlechte Idee. Als sie Davids seltsamen Blick auffing, war sie sich jedoch nicht mehr so sicher.
»Journalisten, ah. Na ja, da können Sie kaum die Fakten liefern, die ich bräuchte.« Die Frau lachte wieder auf, machte eine Handbewegung, als wolle sie etwas wegwischen, und sah dann erneut zu David. »Demnach schreiben Sie eine Reportage über die Siegfriedbrunnen?«
»Genau«, antwortete er. »Und wenn Sie uns mit ein paar Auskünften unterstützen, wären wir äußerst dankbar. Wir könnten Sie zum Beispiel im Gegenzug heute Abend im Restaurant unseres Hotels zum Essen einladen, und ich werde Ihnen an der Bar dort Cocktails mixen, die Ihnen unter Garantie munden.«
»Na das werden wohl spezielle Cocktails sein«, antwortete die Frau mit einem schrägen Lächeln. Die vorsichtige Skepsis in ihren Worten stand dabei in krassem Widerspruch zum Leuchten ihrer Augen, während sie David ansah.
Herz und Verstand kämpften offensichtlich um die Vorherrschaft, doch Rian war klar, wer siegen würde. Bei diesen Frauen siegten immer die Herzen, und erstaunlicherweise sogar dann, wenn sie genau spürten, dass David nicht mehr als eine kurze Liaison anstrebte. Elfenzauber verfehlte nie seine Wirkung.
»David mixt hervorragende Cocktails«, sagte sie, während sie erneut die Traumkugel herumschwenkte. »In Paris hat mein Bruder damit sein Geld verdient.«
»Paris? Sie kommen aus Paris?«
»Nicht ursprünglich«, antwortete David. »Aber wir haben eine Weile dort gelebt.«
»Ich möchte dort auch irgendwann hin«, bemerkte die junge Frau. »Im Studium hat es mit dem Austausch nicht geklappt, aber …«
Ein paar Leute kamen herein und schauten sich um. Die junge Frau sah zu ihnen hin und dann zurück zu den Elfen.
»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, meinte sie unvermittelt. »Gehen Sie doch einfach so lange in das Museum. Sicher finden Sie dort Stoff für Ihre Reportage.« Sie zog zwei Geräte hervor und reichte sie ihnen. »Kopfhörer auf, Knopf auf die gewünschte Sprache stellen, dann erhalten Sie an jedem Punkt Informationen.« Kurz zwinkerte sie David zu und wandte sich dann den neuen Kunden zu.
David trat zur Seite und reichte Rian eines der Geräte. Sie sahen sich an, zuckten die Achseln und gingen in das Museum, ihre beiden unsichtbaren Begleiter mit dabei.
Im Museum erfuhren Rian und David viel über das anscheinend sehr berühmte mittelalterliche Gedicht namens »Nibelungenlied«, das über die Sage um Siegfried und den Niedergang des burgundischen Königshauses berichtete. Über das, was sie wirklich wissen wollten, fanden sie jedoch nichts heraus, obwohl auch die Hintergründe der Entstehung des Gedichtes, die zugrundeliegende Sage und die damit verknüpften historischen Ereignisse erläutert wurden. Dennoch besuchte Rian mehrfach diejenigen Stellen der Ausstellung, an denen die sonore Stimme im Kopfhörer teilweise romantische, größtenteils aber eher tragische Ausschnitte aus der Sage nacherzählte. Sie konnte sich kaum satthören, während David, Grog und Pirx sich für andere Teile der multimedialen Ausstellung interessierten.
Als sie schließlich in den Eingangsraum zurückkehrten, war es bereits Mittag. Die junge Frau hinter dem Tresen hob bei ihrem Anblick mit einem bedauernden Lächeln die Hände.
»Ich hatte noch keine Zeit für Recherchen«, sagte sie. »Heute ist erstaunlich viel los, wenn man die Jahreszeit bedenkt.«
Rian sah David an und sagte: »Wir müssen ohnehin einkaufen. Danach könnten wir wieder vorbeikommen.«
David schüttelte den Kopf. »Ich habe eine bessere Idee.« Er wandte sich der jungen Frau zu. »Kommen Sie doch heute Abend zu uns ins Hotel Siegfriedsruh. Wir essen zusammen, und Sie erzählen uns dabei, was Sie herausgefunden haben. Wir wohnen in der Suite, und unsere Namen sind David und Rian Bonet.«
»Nina Eberts«, antwortete die Frau und reichte David die Hand.
David nahm sie und hob sie an seinen Mund, um in höfischer Manier mit einem leichten Lächeln einen Kuss darüberzuhauchen. Die junge Frau konnte nicht sehen, was Rian sah – die hauchfeinen glitzernden Fäden aus Elfenmagie, die in diesem Moment mit dem Atem des Elfen und über seine Berührung auf ihren Körper übergingen und dort eine Gänsehaut erzeugten. Ninas Augen weiteten sich kurz erstaunt, dann wurde ihr Blick weich und etwas abwesend.
»Ich komme gern«, sagte sie. »Ich freue mich schon darauf.«
»Es wird ein interessanter Abend«, versprach David. »Komm einfach, wann du willst, wir werden da sein.«
Sie nickte nur, und als David ihre Hand losließ, hielt sie sie noch einen Moment in der Luft, ehe sie zurückzog und sie anblickte, als sähe sie sie zum ersten Mal. Die Elfen verließen das Museum.
»Meine Schwester nimmt den großen Salatteller und ein Tiramisu und ein Stück Sachertorte. Für mich bitte das große Rindersteak, medium rare. Was nimmst du, Nina?«
»Ente in Orangensauce«, sagte die junge Frau aus dem Museum. Sie reichte dem Kellner die Karte zurück und sah neugierig zu Rian. »Wie kann man sich nur so viel Nachtisch erlauben und trotzdem so eine gute Figur haben?«
»Die Figur liegt bei uns in der Familie«, antwortete Rian lächelnd und klopfte fürsorglich David auf den Rücken, der sich gerade an seinem Aperitif verschluckt hatte. Vermutlich war ihm das Bild des Vaters vors innere Auge geraten.
Nina schloss die Hände um ihr Glas und sah mit einem schelmischen Lächeln von Rian zu David. »Das scheint ja eine ganz besondere Familie zu sein«, stellte sie fest.
David nickte und räusperte sich, um die Kehle wieder zu reinigen. »Ist sie. Königliches Blut. Das ist alles, was es braucht.«
Nina lachte auf. »Na gut, das habe ich verdient für meine Neugierde. Obwohl man es euch beiden direkt glauben könnte.« Einen Moment sah sie David sinnierend an, dann wandte sie sich ihrer Handtasche zu und kramte darin herum.
»Ich habe zwar unter anderem Mediävistik studiert, aber das Nibelungenlied und die Siegfriedsage waren nicht mein Spezialgebiet«, sagte sie. »Fast alles, was ich darüber weiß, habe ich erst im Museum gelernt, und dort interessiert man sich mehr für den Text an sich und dessen Umfeld als für die genaue Lokalisierung einzelner Schauplätze. Aber das Internet hat schon einiges ausgespuckt, ohne dass ich mich an die Spezialisten wenden musste. Ich habe die betreffenden Seiten gedruckt, samt der Links dazu, sodass ihr selbst prüfen könnt, was für euch von Belang ist.«
Sie zog einige Blätter heraus, die teilweise Bilder von Landschaften zeigten und an den Seiten handschriftliche Ergänzungen aufwiesen. Zuoberst lag ein handbeschriebener Zettel mit sieben Namen, den Nina herunternahm und David reichte.
»Das hier sind die Orte, die ich im Zusammenhang mit den Begriffen Siegfriedsbrunnen oder Siegfriedsquelle gefunden habe und die am vielversprechendsten erscheinen. Die meisten liegen an der Nibelungenstraße, die von hier in den Odenwald führt, oder an der Siegfriedstraße. Das sind sehr schöne Strecken, und wenn ihr etwas Glück mit dem Wetter habt, sind das perfekte Ausflüge.«
David sah auf die Liste und reichte sie dann an Rian weiter, während er sich Nina zuwandte. »Mehrere Ausflüge? Du glaubst, das kann man nicht an einem Tag schaffen?«
Sie lachte auf. »Auf keinen Fall! Nicht, wenn ihr wirklich alle anschauen wollt. Der oberste Ort auf der Liste, Odenheim, liegt im Kraichgau. Das allein ist schon eine halbe Tagesreise, wenn man nicht gerade in einem Ferrari unterwegs ist und sich nicht um Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmert.«
»Ferrari. Bekommt man hier so einen?«
Nina schüttelte den Kopf. »Nein, einen Ferrarihändler haben wir hier nicht, so weit ich weiß. Aber es gibt unten in Richtung Hafen einen Autohändler, der auch Autos verleiht, nicht allzu weit von meiner Wohnung weg. Falls ihr keines habt, könnt ihr euch dort eins mieten.«
Rian sah auf das Blatt hinunter, das David ihr gegeben hatte, und las die sieben Ortsnamen darauf.
»Da ist einer, den du in Klammern geschrieben hast. Warum?«
»Das ist Bad König, ja. Da gibt es einen Fafnirquell. Vielleicht nicht das, was ihr sucht, wenn ihr den Brunnen haben wollt, an dem Siegfried getötet worden sein soll, aber ich dachte mir, es ist eine Erwähnung wert. Er liegt ohnehin in der Gegend der meisten anderen Brunnen. Ich weiß allerdings nicht, ob der Name irgendeinen echten Bezug zur Sage um den Drachen Fafnir hat, oder ob sie nur einfach eine ihrer Heilquellen so benannt haben, weil es zum Tourismusthema Nummer eins der Gegend passt.«
Ein Kellner kam und servierte die Gerichte. Nina machte sich sofort mit sichtbarem Appetit darüber her. Rian legte den Zettel neben ihren Teller, rollte mit der Gabel ein Salatblatt auf und knabberte daran herum, während sie erneut die Liste studierte.
»Odenheim, Heppenheim, Amorbach, Bad König, Hiltersklingen/Hüttenthal, Reichenbach, Grasellenbach«, murmelte sie leise und sah zu David. »Mir sagt ein Name so wenig wie der andere. Am besten suchen wir diese Orte nacheinander so auf, wie sie auf der Liste stehen.«
Nina lachte. »Es wäre besser, zuerst auf der Karte eine Route festzulegen, denn die Orte sind nicht regional sortiert. Das kostet sonst zu viel Zeit.«
Etwas in Rian zog sich zusammen als Nina dieses Wort verwendete, und vor ihrem inneren Auge tauchten fallende Blätter auf und die weiße Strähne im Haar ihres Vaters. Sie spürte, dass sie blass wurde.
Auch Nina schien aufzufallen, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt im Kauen inne und starrte Rian an.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte sie mit besorgtem Blick.
Rian schüttelte den Kopf. »Nein, mir ist nur etwas eingefallen. Ja … ja, ich denke auch, wir sollten uns erst auf einer Karte anschauen, wo diese Orte sind.«
Nina nickte. »Wenn ihr morgen nicht zu früh loswollt, hätte ich einen Vorschlag für euch.«
»Ja?«, fragte David.
Nina warf ihm einen kurzen Blick zu, der von schüchterner Koketterie war, und starrte dann mit leicht geröteten Wangen wieder auf ihren Teller, ohne dass ihre Gabel auch nur zuckte. »Ihr könntet mich morgen nach der Arbeit im Museum abholen. Ich fahre mit euch zu dem Autohändler und bringe eine Karte der ganzen Region vom Odenwald bis zum Kraichgau mit, damit können wir eure Routen planen.«
»Oh, aber wir wollen dir keine Umstände machen«, meinte Rian und warf ihrem Bruder einen scharfen Blick zu. Keine Frage, dass er das gerade eingefädelt hatte.
»Ehrlich gesagt, ich habe ein paar Tage frei und weiß nicht, was ich damit anstellen soll. Da ich ohnehin für meine Arbeit recherchieren muss, warum sollen wir das nicht gemeinsam unternehmen?«
»Das klingt verführerisch«, antwortete David.
Rian sah, wie Ninas Brust sich kurz unter einem tiefen Atemzug hob und senkte. »Großartig!« Nina errötete leicht und konzentrierte sich hastig auf ihren Salat.
*
Nina starrte auf den Bildschirm des Computers, ohne wirklich etwas zu sehen. Es war ein Fehler gewesen, nach dem Abendessen noch im Hotel zu bleiben. Nicht wegen der tollen Cocktails, die David gemixt hatte, und die am Morgen keinerlei Nachwirkungen gezeigt hatten. Auch nicht, weil sie viel zu spät ins Bett gekommen war. Sie war ein gewisses Maß an Schlafmangel gewohnt, denn sie dehnte ihre Abende auch unter der Woche ab und zu aus. Nein, der Fehler hatte darin bestanden, dass es am Ende nicht ihr eigenes Bett gewesen war, in dem sie geschlafen hatte, sondern Davids.
Sie hob in einer unbewussten Bewegung die Hand und berührte ihre Wange dort, wo David es getan hatte. Noch immer spürte sie das leichte Prickeln, als sei ein Funke übergesprungen, der ausgehend von seinen Fingern ihren ganzen Körper erfasste. Wieder durchlief sie das leichte Schaudern und ihre Härchen richteten sich auf. Unwillig schüttelte sie den Kopf, und ihr Blick wurde wieder klar.
Wie dumm muss man sein?, dachte sie. One-Night-Stands gaben ihr schon seit einiger Zeit nichts mehr, denn sie hinterließen am Morgen danach zusehends ein schales Gefühl.
Und trotzdem wusste sie, dass sie jederzeit wieder mit ihm gehen würde, und sei es nur, um noch einmal eine solch magische Nacht zu erleben, die sich mit nichts zuvor vergleichen ließ. Seine Küsse brannten noch jetzt auf ihrer Haut, und seine Berührungen schienen feurige Bahnen durch ihre Nerven gezogen zu haben, die selbst Stunden danach nicht erloschen waren.
Erneut rief Nina sich zur Ordnung. Nach der Eingabe der Datensätze warteten ein paar Kisten mit neu eingetroffenen Souvenirs auf das Auspacken und Einräumen, und später würde sie wieder für eine Weile die Kasse übernehmen müssen. Das sollte ablenken.
Einige Stunden ermüdender und langweiliger Arbeit später konnte Nina endlich den Rechner herunterfahren. Durch die breite Fensterfront hatte sie bereits Rian und David auf der anderen Seite des Platzes erspäht. Nachdem sie sich ihre Jacke übergeworfen und den Kollegen den Abschied zugerufen hatte, verließ sie das Museum.
Nina musste sich beim Betrachten der Geschwister mit leichtem Neid eingestehen, dass Rian mit ihrer modischen Kleidung und ihren geschmackvoll ausgesuchten Accessoires auch ungeschminkt auf eine Weise schön war, wie Nina es niemals sein würde. David hatte sich mit deutlich weniger Modebewusstsein gekleidet, doch gerade die legere Kombination von Jeans und Pullover brachte das Jungenhafte in ihm, das Nina so sehr faszinierte, noch mehr zum Ausdruck.