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Die Geschwister kamen Nina mit einem Lächeln entgegen, und Rian legte in französischer Art ihre Wangen kurz an ihre. Auch David trat zu Nina, fasste sie leicht an den Armen und neigte sich vor.
»Hallo, Nina.«
Der schwache Duft nach Blüten und Wald, den er verströmte, die Berührung seiner Wange und der warme Klang seiner Stimme nahmen Nina nahezu den letzten Rest der Kontrolle. Sie musste sich zurückhalten, um sich nicht einfach an ihn zu drängen und statt der in die Luft gehauchten Küsse mit ihren Lippen richtige zu fordern. Stattdessen trat sie mit brennenden Wagen hastig von ihm weg und wandte sich ab, als sie seinen fragenden und leicht überraschten Blick sah.
»Lasst uns zur Bushaltestelle gehen, zu Fuß ist es ein bisschen weit«, sagte sie.
Sie nahmen den Bus bis zur Haltestelle in der Nähe des Rheinufers, und von dort führte Nina die Geschwister in das Gewerbegebiet, in dem der Gebrauchtwagenhändler sein Geschäft betrieb. Rian plauderte die ganze Zeit über die Sehenswürdigkeiten, die sie sich im Laufe des Tages angesehen hatte, den Dom, die vielen interessanten Brunnen in der Innenstadt, und den hübschen Park mit den Statuen auf einem großen viereckigen Block.
Nina erzählte ihr etwas geistesabwesend vom Auftritt des Reformators Luther vor dem Kaiser beim Reichstag, der mit diesen Statuen dargestellt wurde. Sie hatte jedoch nicht den Eindruck, dass der geschichtliche Hintergrund Rian besonders interessierte. Da die Geschwister den Namen und ihrem weichen Akzent nach zu urteilen vermutlich Franzosen waren, erschien das Nina nicht weiter verwunderlich.
Danach kam Rian wieder auf das Nibelungenlied zu sprechen. Es wirkte, als fiele es ihr schwer, manche der berichteten Geschehnisse nachzuvollziehen, und sie stellte ein paar Fragen, die Nina seltsam vorkamen. Zudem schien sie sich besonders für die Geschichte um die Tötung des Drachens Fafnir zu interessieren.
»Glaubst du, dass Siegfried wirklich einen Drachen erschlagen hat?«, fragte sie, als sie am Hof des Gebrauchtwagenhändlers ankamen.
»Da es niemals Drachen gab, nein«, antwortete Nina. »Wahrscheinlich ist es eine mythische Umschreibung für eine große Schlacht oder ein wichtiges Duell. Etwas in der Art. Wenn es denn Siegfried überhaupt gab. So jemand klingt ja eigentlich zu gut, um wahr zu sein.«
Unwillkürlich wanderte Ninas Blick zu David, der die vor dem Autohaus stehenden Wagen begutachtete. Dann nickte sie in Richtung des Eingangs. »Lasst uns erst mal reingehen.«
Während die Geschwister mit dem Händler verhandelten, schlenderte Nina wieder hinaus auf den Hof und zwischen den Gebrauchtwagen hindurch. Jeder Einzelne lag jenseits dessen, was sie sich von ihrem schmalen Gehalt als wissenschaftliche Assistentin und zeitweilige Aushilfe im Museum leisten konnte.
Gerade als Nina sich darüber zu wundern begann, wie lange das Gespräch dauerte, kamen die beiden Geschwister heraus. Rian schwenkte fröhlich einen Autoschlüssel in Ninas Richtung.
»Du kannst doch bestimmt Auto fahren, Nina, oder?«, fragte Rian.
»Klar«, antwortete Nina.
»Super. Du kannst es uns beibringen.«
Nina riss die Augen auf. »Ihr habt keinen Führerschein? Wie habt ihr dann ein Auto mieten können?«
»Es war kein Problem.« Rian tauschte mit ihrem Bruder ein schelmisches Grinsen.
»Und jetzt wollt ihr, dass ich euch das Fahren beibringe? Auf die Schnelle?«
»Es kann nicht so schwer sein«, meinte David mit einem seltsam abfälligen Unterton, der Nina gar nicht gefiel. »Jeder Mensch scheint es zu können.«
»Man braucht Wochen dazu«, erwiderte Nina. »Und selbst wenn ihr es von mir lernt, habt ihr noch immer keinen Führerschein und dürft gar nicht fahren!«
»Das lass unsere Sorge sein«, antwortete Rian lächelnd. »Wir haben bisher noch nie Probleme mit diesen Dingen gehabt. Es gibt nichts, das wir nicht auf unsere Weise regeln können.«
Nian zog kurz die Augenbrauen zusammen, zuckte dann jedoch die Achseln. Es war nicht ihr Problem, wenn die beiden ohne Führerschein erwischt wurden und eine saftige Strafe aufgebrummt bekamen. Wenn man sich ansah, wie sie wohnten und was für Sachen sie trugen, konnten sie es sich vermutlich leisten. Doch die Unbekümmertheit, mit der die beiden an die Sache herangingen, ließ Nina erneut staunen.
Sie nahm von Rian den Schlüssel entgegen und los ging die Fahrt.
*
Fanmór machte aus dem Sitz einen Sprung nach vorn, und der Aufprall sowie der Wutschrei des Riesen ließen die Audienzhalle erzittern. Die Rankenvorhänge kamen ins Schwingen, trockene Blätter und eingeflochtene Blüten lösten sich von Decken und Wänden und rieselten auf die sich ängstlich an die Wände drückenden Elfen herab. Hätte Alebin nicht ohnehin vor dem König der Sidhe Crain gekniet, hätte die Gewalt des mit diesem Wutausbruch verbundenen Sturms ihn von den Füßen geworfen.
»Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur zu denken, geschweige denn offen vor mir auszusprechen?«, brüllte Fanmór. »Wie kannst du es wagen, so etwas von mir nicht nur zu erbitten, sondern nachgerade zu verlangen? Was glaubst du, wer du bist, Meidling? Denkst du, kein anderer kann sich um meine Weinkeller kümmern? Oder nimmst du an, nur weil mein Haar die Farbe ändert, könne jemand wie du ungestraft meine Macht anzweifeln? Was sollte mich wohl davon zurückhalten, dir mit meinen bloßen Fäusten für deine Unverschämtheit den Schädel zu zertrümmern und dich nach Annuyn zu schicken?«
Alebin zog die Schultern hoch, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen am noch immer bebenden Boden ab. Er sah zu Fanmór auf, eine Spur bleicher als er ohnehin schon war, und sammelte all seinen Mut zusammen.
»Der gleiche Grund, der mir erlaubte, nach dem Schwur hier an Eurem Hof zu bleiben, als die Feinde der Sidhe Crain mit Bandorchu ins Schattenland verbannt wurden«, antwortete er mit einer Stimme, die ihm selbst viel zu schwach erschien, um überhaupt die Ohren des über ihm aufragenden Riesen erreichen zu können. »Weil Ihr wisst, dass ich unserem Volk treu bin und nur sein Wohlergehen im Sinn habe, und weil Ihr Gerechtigkeit schätzt. Darum hoffe ich, dass Ihr meine Worte überdenkt, und mich nicht dafür straft, dass ich sage, was ich für richtig halte.«
Fanmór öffnete den Mund, und alle Anwesenden einschließlich Alebin zuckten unwillkürlich in Erwartung eines weiteren Wutausbruchs zurück. Doch dann presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Der Riese wandte sich ab, kehrte zu seinem Thronsessel zurück und setzte sich darauf. Der Blick, mit dem er Alebin bedachte, machte der eisigen Kälte des Totenreiches Annuyn Konkurrenz.
»Aye, Gerechtigkeit«, sagte er mit einer Stimme, welche die Efeuranken erneut in Schwingungen versetzte, ohne jedoch die ganze Halle zu erschüttern.
»Es war Gerechtigkeit, die Bandorchu dorthin brachte, wo sie nun ist. Und die gleiche Gerechtigkeit verlangt von mir, dafür zu sorgen, dass sie auf immer dortbleibt. Sie hat mit dem, was sie getan hat, viel Leid über unser Volk gebracht, es gespalten und geschwächt. Gerade diese Schwäche mag sogar dem, was jetzt geschehen ist, Tür und Tor geöffnet haben. Sie wäre die Allerletzte, an die ich mich um Hilfe wenden würde, und wenn es den Untergang unseres Volkes bedeutete – denn sie wäre ganz sicher unser Untergang.«
»Warum seid Ihr Euch da so sicher? Tausend Jahre sind vergangenen! Kann sie sich nicht gewandelt haben in der langen Zeit? Sollte man ihr nicht zumindest die Möglichkeit geben, erneut ihre Treue gegenüber unserem Volk zu beweisen, indem sie uns hilft, das aufziehende Unglück abzuwehren? Wollt Ihr lieber unser ganzes Volk dem endgültigen Verwehen preisgeben, als auch nur einen Schritt in dieser Sache zurückzugehen? Selbst wenn es damals kein Fehler war, sie in die Verbannung zu schicken – kann es nicht heute einer sein, sie dort zu halten? Ist solches Verhalten mit Eurer Gerechtigkeit zu vereinbaren?«
3.
Die Nacht des Samhain
Unzufrieden runzelte Rian die Stirn und sah auf die Karte, die sie auf der Holzbank neben sich ausgebreitet hatte. Hinter ihr plätscherte das Wasser der Zittenfeldener Quelle über bemoosten Fels und verschwand glucksend unter dem Weg, um dann auf der anderen Seite als schmaler Bach wieder auszutreten und sich in der Wiese weiter abwärts zu schlängeln.
Nina war den Wanderweg ein Stück vorausgegangen, um sich ein Holzhäuschen anzuschauen, das auf der anderen Seite zu sehen war. David hatte es sich ebenso wie Rian auf der Bank bequem gemacht, die Beine weit von sich gestreckt, die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet und den Kopf etwas zurückgelegt. Mit geschlossenen Augen atmete er tief den Duft des nahen Waldes ein, der die kühle Abendluft erfüllte.
Über den beiden kletterte Pirx am Abhang herum und erkundete die Höhlung, aus der das Wasser austrat, und die Felsspalten daneben. Kleine begeisterte Quietscher begleiteten seine Entdeckungen dort. Grog lehnte hinter den Geschwistern an der Bank, beobachtete den Pixie und hörte zugleich den Königskindern zu. Beide Feenkobolde waren für jeden Menschen wie immer unsichtbar. David hatte sich viel Mühe gegeben, beim Ein- und Aussteigen die Hintertür möglichst unauffällig länger offen zu halten, damit sie jeweils mit hinein- und hinausschlüpfen konnten, ohne dass Nina etwas bemerkte.
»Das ist jetzt schon die vierte Quelle, und noch haben wir keinerlei Hinweis darauf, warum irgendeiner dieser Brunnen oder Quellen etwas Besonderes sein sollte«, stellte Rian fest. »Sie sind alle durchaus ansprechend, bis auf diesen Fafnir-Brunnen in Bad König, aber da hatte Nina uns ja schon gewarnt, dass das etwas ganz anderes sein könnte. Sie haben alle die Magie der Quellen, manche mehr, manche weniger, aber …« Sie ließ den Satz unvollendet und seufzte.
»Diese hier ist bisher noch die beste«, meinte David, ohne die Augen zu öffnen.
»Aber sie ist eben nicht das, was wir suchen«, erwiderte Rian.
»Wenn es das überhaupt gibt«, sagte David.
Grog brummte etwas Undeutliches, und Rian runzelte die Stirn etwas mehr, rollte die Karte fest zusammen und schlug ihrem Bruder damit heftig auf den Bauch. Überrascht öffnete der Elf die Augen und begegnete ihrem zornigen Blick.
»Warum musst du immer alles in Zweifel ziehen?«, fuhr sie ihn an. »Warum kannst du nicht endlich anfangen, an das zu glauben, was wir hier tun, anstatt dich einfach nur mitschleifen zu lassen? Warum musst du immer alles schlechtmachen mit deiner zynischen Leichenbitterstimmung? Bei den Sommerblüten, fast wünschte ich mir, ich hätte dich zu Hause in deinem Selbstmitleid versunken und auf den Tod warten lassen, anstatt dich hierher mitzunehmen!«
David zog die Augenbrauen zusammen. »Was soll denn das jetzt? Ich bin hier, oder? Und dass unsere bisherigen Erfolge mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen veranlassen, ist ja wohl kein Wunder! Heute morgen dieser Brunnen im Süden, der ein völliger Reinfall war, dann drei Stück im Odenwald, davon einer schwerer zu finden als der andere – kannst du mir übelnehmen, wenn ich langsam Zweifel daran anmelde, ob es das, was wir suchen, überhaupt gibt? Insbesondere, da ja, falls einer dieser Brunnen wirklich der Quell der Unsterblichkeit wäre, wir die Sterblichen schon lange nicht mehr so nennen dürften! Oder glaubst du, sie hätten das nicht gemerkt?«
»Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Natürlich, wenn es so einfach wäre, dass man sich runterbeugt und davon trinkt, hätten das schon alle getan! Selbstverständlich muss mehr dahinter stecken! Aber was das ist, werden wir nicht herausfinden, indem wir nur herumsitzen und es uns möglichst gutgehen lassen! Und im Übrigen …« Rian deutete mit der Kartenrolle kurz in die Richtung, in die Nina gegangen war. »Was ist mit ihr? Ich habe sie beim Autofahren genau beobachtet, und es ist wirklich nicht so schwer. Ich denke, ich kann es jetzt. Darüberhinaus haben wir die Karte, und ohnehin sind nur noch drei Brunnen übrig. Wir sollten sie nicht weiter mitnehmen. Mir scheint, dass du anfängst, dich viel zu sehr daran zu gewöhnen, das sie dein Bett wärmt.«
David setzte sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe in Paris einige dieser Menschenfrauen gehabt, und dort hast du dich nie daran gestört. Warum jetzt? Etwa, weil dein eigenes Bett kalt ist?«
»Nur zur Erinnerung, ich teile mein Bett seit Tagen mit Grog und Pirx, da bei dir ja kein Platz mehr ist! Wo sollte da jemand hin? Aber das ist nicht der Punkt!« Sie hob in einer mahnenden Geste die Kartenrolle und fuhr eindringlich fort: »Mir scheint, du vergisst Vaters Gebot. Kein Mensch soll durch uns zu Schaden kommen! Grog und Pirx konnten gestern in Worms nicht herausfinden, wohin der Getreue sich gewandt hat. Er kann uns hier jederzeit über den Weg laufen, denn mit ziemlicher Sicherheit sucht er dasselbe wie wir – warum sonst sollte er ausgerechnet hier sein?
Wir beide können uns zu verbergen versuchen. Aber Nina – was hat sie ihm entgegenzusetzen? Und falls wir überrascht werden, was wird dann mit ihr geschehen? Ich sage es dir: Sie wird dann genau so sterben wie die Leute in Paris! Er wird ihr die Lebenskraft entziehen!«
Davids Blick ging an Rian vorbei und wurde warnend. Sie sah sich um. Nina kam den Weg wieder hoch, die Schultern etwas hochgezogen, und rieb sich die Oberarme. Seufzend ließ Rian die Kartenrolle sinken.
»Es wird dunkel und kalt«, sagte Nina mit einem kleinen Lächeln. »Wir sollten zum Auto zurück. Immerhin sind wir über eine Stunde entfernt. Bis wir wieder dort sind, ist es bereits stockfinstere Nacht.«
Rian nickte. »Ja, wir können gehen, hier haben wir alles gesehen, was wir sehen wollten. Wir fahren ja auch noch eine Weile, bis wir wieder in Worms sind. Und morgen …«
Nina gähnte verhalten und schüttelte den Kopf. »Das viele Laufen an der frischen Luft und das Durchfragen in den Ortschaften haben mich ziemlich müde gemacht. Und es wäre schade, jetzt wieder nach Worms zurückzukehren, um dann morgen noch einmal die Strecke bis in den Odenwald zu fahren. Ich würde daher vorschlagen, dass wir hier über Nacht bleiben – in Amorbach, oder vielleicht in Michelstadt, das ist ein nettes Städtchen mit vielen Fachwerkhäusern und so. Um diese Jahreszeit sollte es kein Problem sein, Zimmer zu bekommen.«
Rian öffnete den Mund, doch David kam ihr zuvor. »Das klingt gut, finde ich. So sparen wir morgen Zeit und können die Suche hoffentlich abschließen. Und dieses Michelstadt klingt so, als könnte es dir gefallen, Rian.« Er lächelte seine Schwester an, und sie klappte ihren Mund zu und warf ihm ein erbostes Funkeln zu.
»Ich bin zwar nicht begeistert von der Aussicht, schon wieder einen Tag in der gleichen Kleidung herumlaufen zu müssen wie am Vortag, aber ich sehe, ihr zwei habt euren Entschluss ohnehin schon gefasst.«
Nina strich eine Strähne ihres dunklen Haares zurück und sah David fast schüchtern an. »Na ja, ihr müsst es wissen. Es ist eure Arbeit, ich laufe nur mit.«
David erwiderte ihren Blick mit seinem jungenhaften Lächeln, während er sich von der Bank erhob. »Du gehörst dazu und kannst genauso deine Meinung sagen. Ohne dich wären wir niemals so schnell so weit gekommen. Also können wir durchaus Rücksicht auf dich nehmen. Außerdem finde ich die Idee wirklich gut.«
»Aber Rian …«
Die Elfe winkte ab und stand ebenfalls auf. »Aber eine Bedingung habe ich: Morgen fahre ich das Auto.«
Nina riss die Augen auf. »Du willst morgen schon fahren? Ich habe dir doch noch gar nichts gezeigt …«
»Ich habe genug gesehen, während ich neben dir gesessen habe. Und was fehlt, kannst du mir ja sagen, wenn ich es brauche.«
Skeptisch sah Nina Rian an. »Wir können es morgen einmal ausprobieren, auf einem Parkplatz oder so. Aber selbst wenn du es kannst – willst du dann wirklich ohne Führerschein fahren?«
Rian lächelte. »Ich werde schon nicht so fahren, dass wir einem dieser Polizisten auffallen. Und sollte es doch passieren – wie gesagt, wir haben unsere Möglichkeiten, damit umzugehen.«
Nina schaute sie einen Moment zweifelnd an, zuckte dann jedoch mit den Achseln und wandte sich ab.
Rian gefiel Michelstadt, sobald sie die gut erhaltenen und liebevoll hergerichteten Fachwerkhäuser im Ortskern erblickte. Bei ihrem Spaziergang nach dem Abendessen umrundete sie drei Mal das Michelstadter Rathaus, das laut Nina wegen seiner ausgeprägt künstlerischen und mit aufwändigen Verzierungen versehenen Bauart sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt war.
Rian lag bereits im Bett, als eine Tür knallte und es kurz darauf erst leise, dann lauter und hartnäckiger bei ihr klopfte. Sie setzte sich auf und sah verwundert zur Tür. Neben ihr öffnete Pirx blinzelnd ein Auge, während Grog aus dem Bett schlüpfte und auf dem Weg zur Tür war, um sie zu öffnen. Ehe sie ihn mit einem Ruf daran hindern konnte, hatte er die Klinke gepackt und hinuntergedrückt. Rian hechtete aus dem Bett und zur Tür, damit es so aussah, als habe sie sie geöffnet.
Mit zerzaustem Haar, verquollenen Augen und müdem Blick stand Nina dort, nur in Pullover und Unterhose, ihre Jeans fest an sich gedrückt haltend.
»Darf ich bei dir schlafen, Rian?«, fragte sie leise.
»Ähm, natürlich. Komm rein, Nina.«
Stumm ging die junge Frau an Rian vorbei in das dunkle Zimmer. Eine Geste der Elfe ließ den alarmiert dreinschauenden Pirx sich vom Bett hinunter und in eine Ecke kugeln. Rian winkte ihn und den halb erstarrt hinter der Tür verharrenden Grogoch zu sich und trat mit ihnen halb in den Gang hinaus.
»Ihr geht zu David«, zischte sie. »Der hat jetzt genug Platz.«
Die beiden nickten stumm und sahen zu der Menschenfrau, die zusammengesunken auf der Bettkante saß. Sie hatte die Jeans neben sich hingeworfen, die Arme aufgestützt und das Gesicht in die Hände gelegt.
»Armes Kind«, murmelte Grog. Er und der Pixie wandten sich ab und gingen den inzwischen dunklen Gang hinunter. Rian schloss die Tür und deutete auf die Nachttischlampe neben Nina, worauf diese sich anschaltete. Rian brauchte das Licht nicht, aber Nina. Die Elfe ging zum Bett, warf Ninas Hose hinüber auf einen der Stühle, und setzte sich dann etwas unbeholfen neben sie.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Habt ihr euch wegen irgendetwas gestritten?«
Nina hob den Kopf und starrte blicklos gegen die Wand. »Nicht gestritten, nein … ich bin gegangen. Ich glaube, das hat ihn wütend gemacht, so wie er die Tür zugeknallt hat. Aber ich konnte heute nicht bei ihm bleiben. Nicht, nachdem …« Ihr Gesicht verzog sich etwas, und sie schüttelte den Kopf. »Ich bin so dumm«, flüsterte sie.
»Dumm? Du? Warum denkst du das?«
Mit einem schiefen Lächeln wandte Nina Rian ihren Kopf zu. »Weil ich dumme Dinge tu, obwohl ich weiß, dass sie dumm sind. Weil ich dachte, ich könnte meine Gefühle unter Kontrolle halten und nehmen, was mir geschenkt wird. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Weil … ach, vergiss es. Du kannst mir nicht helfen.« Nina lachte auf. »Immerhin ist er ja dein Bruder.«
Rian betrachtete Nina einen Moment nachdenklich und schüttelte dann den Kopf.
»Du hattest nicht wirklich eine andere Wahl, weißt du, er verzaubert die Frauen – so wie ich die Männer, die ich will.« Sie lachte hell auf und wedelte mit der Hand durch die Luft. »Warum soll nicht jeder mit jedem Freude teilen können? Wo wir herkommen gibt es solche Einschränkungen nicht, und darum sind wir es nicht gewohnt, besondere Rücksicht zu nehmen.«
Rian hob etwas hilflos die Schultern. Sie verstand nicht so recht, was die Menschen in solchen Momenten bewegte, und es fiel ihr schwer, darüber nachzudenken, was Nina trösten könnte. Obwohl, etwas fiel ihr da schon ein. Ihr Augen leuchteten auf. »Ich habe eine Schachtel Trüffelpralinés dabei – möchtest du die haben? Mich machen die immer sehr glücklich.«
Nina lachte auf. »Ja, ich glaube, so etwas könnte ich jetzt brauchen, auch wenn ich es sicher ebenfalls bereuen werde.«
»Du solltest nichts bereuen, was Spaß gemacht hat«, meinte Rian und warf ihr die Schachtel zu. »Wenn es schlechte Folgen hat, kann man sich immer noch darum kümmern.«
»Eine schöne Einstellung.« Nina begutachtete die weiche Füllung in der angebissenen Praline. »Nur leider funktioniert sie nicht immer. Wenn man einer Sache völlig verfällt, ist es schwer, hinterher mit dem Schmerz der Trennung fertig zu werden. Und Reue hält einen dann vielleicht beim nächsten Mal davor zurück, die gleiche Dummheit nochmal zu begehen.«
»Mhmmm«, machte Rian nur. Reue gehörte zu den Worten, deren Bedeutung sie überhaupt nicht begriff, ein menschliches Konzept, das über ihren Horizont ging.
Nina steckte die zweite Hälfte der Praline in den Mund, leckte die Finger ab, ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schloss die Augen.
»Ich glaube, das Beste wäre, wenn ich jetzt einfach ein wenig schlafen würde«, meinte sie undeutlich. »Morgen sieht die Welt vielleicht schon ein bisschen anders aus. Morgen …«
Rian bemerkte, dass Nina auf halbem Wege war, einzuschlafen. Sie hob die Beine der jungen Frau an und schob sie ganz aufs Bett, und mit einem halb genuschelten, halb geseufzten »Danke!« drehte Nina sich auf die Seite und zog die Decke über ihre Beine.
Rian nahm sich noch eine Trüffelpraline, ehe sie die Schachtel neben Nina auf den Nachttisch stellte und die Lampe ausschaltete. Dann ging sie zur anderen Seite des Bettes und kroch unter ihr Laken.
»Es ist eine Sache, etwas zu wissen, das nicht ausgesprochen wurde, und sich dennoch darauf einzulassen«, flüsterte Nina zittrig. »Aber es ist eine gänzlich andere Sache, es ins Gesicht gesagt zu bekommen.«
Sie krümmte sich ein wenig mehr zusammen, und Rian sah, dass sie immer mehr von ihrer Decke zwischen ihre Arme zog, als könne dies ihr Halt geben. Die nächsten Worte kamen so leise, dass die Elfe sie beinahe nicht verstanden hätte.
»Und ich heiße nun mal Nina, nicht Nadja.«
Rian blinzelte, und ihr Mund formte ein »Oh«, das sie nicht aussprach.
»Er hat dich Nadja genannt?«, fragte sie leise nach.
Nina nickte kaum merklich.
Rian legte eine Hand auf Ninas Rücken und streichelte sie sanft. Ihre Gedanken wanden sich indessen um das, was die junge Frau gesagt hatte, und versuchten, es zu begreifen. Niemals, so weit Rian wusste, war David so etwas passiert. Und warum sollte ihm ausgerechnet der Name einer Frau entschlüpfen, die ihn zurückgewiesen hatte? Sie schüttelte leicht den Kopf.
Das wurde immer seltsamer.
Als die beiden Frauen am nächsten Morgen aufstanden, benahm sich Nina, als sei nichts geschehen. Lediglich ihr Lächeln kam zögerlicher, und ihre Augen wirkten etwas matter.
David schlief noch, als Rian unter Ninas Anweisung ihre erste Fahrstunde nahm. Es war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber schon zwei Stunden später hatte sie den Bogen heraus.
Sie sammelten David auf (und für Nina unbemerkt Pirx und Grog), verließen Michelstadt in Richtung Süden auf einer Straße, die auf den Schildern sowohl als »Nibelungenstraße« als auch als »Siegfriedstraße« bezeichnet wurde. Rian betrachtete die Häuser der Ortschaften, durch die sie hindurchkamen, auf der Suche nach weiteren Perlen wie dem Michelstädter Rathaus. Doch hier waren die meisten Gebäude eher schlicht und zweckmäßig, obwohl dazwischen ebenfalls das eine oder andere Fachwerkhaus zu entdecken war. Die Dörfer waren ohnehin zumeist so klein, dass sie noch nicht einmal die großen gelben Namensschilder hatten, bei denen man langsamer fahren musste, wie Nina ihr erklärt hatte, sondern lediglich kleine grüne, die anscheinend keine Folgen für die erlaubte Fahrgeschwindigkeit hatten.
Schließlich bogen sie nach Westen ab und fuhren in das ausgedehnte Waldgebiet hinein, das sie schon zuvor auf beiden Seiten des Tales begleitet hatte. Nach ein paar weiteren Dörfern sagte Nina, die das Steuer wieder übernommen hatte: »Wir sind gerade durch Hüttenthal hindurchgefahren. Der nächste Ort ist Hiltersklingen, dazwischen sollte es sein. Also haltet die Augen offen.«
Sie bogen um eine Kurve, und Rian erspähte ein Stückchen voraus im Halbdunkel des schattigen Straßenrandes ein Hinweisschild auf einen Parkplatz und darunter ein dunkles Schild mit heller Aufschrift.
»Da«, rief sie und zeigte darauf. »Lindelbrunnen steht da vorn dran, und in Klammern Siegfriedbrunnen. Das ist es.«
Nina warf ihr einen kurzen verwunderten Blick zu. »Das kannst du von hier aus lesen? Wow. Solche Augen hätte ich gerne.«