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David lehnte sich vor, und Rian bemerkte, dass sein bisher mürrischer Gesichtsausdruck einem eher nachdenklichen gewichen war. Er legte eine Hand auf die Rückenlehne des Fahrersitzes, dabei wie zufällig mit seinen Fingern Ninas Schulter berührend.
»Das ist das besondere Blut. Es steckt eine Art Magie darin«, sagte er.
Dabei hob sich wieder das feine Glitzern von seinen Fingerspitzen, mit dem er Nina am ersten Abend eingewoben hatte, und glitt, für sie unsichtbar, wie ein feiner Nebelstreifen auf sie über.
Im selben Moment versteiften sich Ninas Arme, und sie betätigte so plötzlich das Gaspedal, dass David den Halt verlor und nach hinten in den Sitz fiel. Das Hinweisschild sprang dabei förmlich näher, und Rian fürchtete schon, sie würden daran vorbeischießen, als Nina ebenso abrupt und heftig abbremste, wie sie Gas gegeben hatte.
Rian wurde in den Gurt geschleudert und schrie überrascht auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Bruder, der wie immer nicht angeschnallt war, sich mit den Armen am Fahrersitz hatte abfangen können. Hinter sich hörte sie ein Quieken und ein unwilliges Knurren, das darauf hindeutete, dass auch Pirx und Grog heftig herumgeschleudert wurden.
Mit quietschenden Reifen riss die junge Frau das Fahrzeug herum und in die Einfahrt hinein, dicht vor dem Schild und einem daneben stehenden großen grauen Stein vorbei. Die Elfe klammerte sich am Türgriff fest und starrte Nina an, während David mit der Schulter gegen das Fenster schlug und das Gesicht verzog.
Dann waren sie herum, und das Auto rollte langsam einen Waldweg hinauf, vorbei an einer Stahlkonstruktion, die den Mord am Drachentöter Siegfried darstellte, und auf eine geschotterte Fläche zwischen den Bäumen zu, die wohl als Parkplatz diente.
Rian holte tief Luft. Die Geräusche hinter der Elfe, die darauf hindeuteten, dass der Grogoch aus dem Fußraum zurück auf den Sitz krabbelte, schien Nina glücklicherweise nicht zu bemerken. Rian warf einen prüfenden Blick nach hinten. Pirx entrollte sich, kroch von Davids Schoß und kauerte sich auf dem mittleren Sitz zusammen, ängstlich zu der Menschenfrau im Fahrersitz schielend. David lehnte mit dem Rücken gegen die Tür und wirkte ebenso verwirrt wie Rian.
Am oberen Ende des Platzes wendete Nina den Wagen in einem weiten Bogen, hielt dann an und schaltete die Zündung aus. Sie legte beide Hände unten ans Lenkrad und sah durch die Windschutzscheibe in den nebligen Wald hinaus. Rian löste langsam ihre Hand vom Türgriff und ließ die angehaltene Luft entweichen.
»Tu das nicht noch mal, David«, sagte Nina, ohne den Kopf zu wenden.
David richtete sich auf, rieb sich die Schulter und schüttelte leicht benommen den Kopf. »Was meinst du?«
»Das, was du eben gemacht hast. Wie auch immer du es tust, und warum auch immer du es kannst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er und ließ sein Schultergelenk vorsichtig kreisen. Sein Gesicht verzog sich erneut.
»Wenn du mich so berührst wie eben, tust du etwas mit meinen Gedanken. Mit mir. Lass das!«
»Aber Nina, was soll denn Schlechtes daran sein, wenn du dich zu mir hingezogen fühlst? Warum solltest du das denn nicht mehr wollen?«
Sie lachte auf. »Immerhin kennst du heute wieder meinen Namen.« Ihre Hände lösten sich vom Lenkrad, und nun wandte sie sich zu ihm um und sah ihn an.
»Ich werde ohnehin wieder zu dir zurückkommen, David. Ich kann gar nicht anders, Gott weiß, warum. Aber lass mir so lange etwas Freiraum.«
David zögerte, hob halb die Hand, und einen Moment glaubte Rian, er würde erneut die Glamourfäden weben. Doch dann sah er zur Seite, öffnete seine Tür und stieg wortlos aus. Während Pirx und Grog eilig hinauskrabbelten, kam Rian herum.
»Ihr findet den Weg auch ohne mich«, sagte Nina leise, die Hände um das Lenkrad verkrampft, mit geschlossenen Augen.
David schloss die Tür. »Gehen wir«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf einen Pfad, der direkt neben einem Bachlauf vom Platz wegführte.
Eine Lichterkette hing über dem Bach in den Bäumen und führte bis zu einer Holzhütte, die etwas versteckt ein Stück weiter den Weg hinauf stand. Pirx und Grog waren vorausgegangen, sahen sich suchend um und schnupperten ein wenig, als hofften sie, auf diesem Wege etwas wahrzunehmen. Rian sah zu David, während sie neben ihm entlangging.
»Alles in Ordnung mit dir? Du bist vorhin ziemlich durchgeschüttelt worden«, sagte sie.
David nickte. »Meine Schulter tat ein wenig weh, aber das ist schon wieder verheilt.«
»Und sonst?«
»Was sonst?«
Rian sah ihn forschend an. »Du benimmst dich zurzeit seltsam. Was ist gestern Abend passiert?«
David wischte mit seiner Hand durch die Luft. »Ich habe mich versprochen, und sie hat es furchtbar wichtig genommen. Hat mich angesehen, als sei ich ein Eidbrecher, und ist gegangen.«
»Du hast sie wirklich Nadja genannt?«
»Ja, und?« Er drehte den Kopf und funkelte seine Schwester an. Unwillkürlich wich Rian einen Schritt zur Seite. »Nadja, Nina, das ist doch einerlei.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass dir so etwas schon einmal passiert wäre, und wenn, dann hätte ich erwartet, dass dir die richtigen Worte einfallen, um die Scharte wieder auszuwetzen.«
Der Elf heftete seinen Blick wieder auf den leicht ansteigenden Weg unter ihren Füßen. »Ich war zu wütend, um zu denken.«
»Wütend? Auf Nina?«
Er schüttelte leicht den Kopf. »Auf Nadja. Darauf, dass sie es sogar dann fertig bringt, mich zu ärgern, wenn sie gar nicht da ist.«
Rian lachte auf. »Es ist nicht so, als habe sie dich gezwungen, ihren Namen zu sagen.«
»Nein. Aber …« Er hob plötzlich den Kopf und blieb stehen, die Nasenflügel leicht geweitet, als würde er eine Witterung aufnehmen.
Rian hielt ebenfalls an und schaute sich um. Sie hatten beinahe die Holzhütte erreicht, und rechts davon sah sie einen betonierten Kreis, der hangseitig von einer gebogenen Natursteinmauer eingefasst wurde. Am höchsten Punkt der Mauer war ein Schild befestigt, und darunter sickerte aus einem Loch das Wasser der Quelle. Pirx hatte das Mäuerchen erklommen und saß mit baumelnden Beinen und aufmerksam in den Wald gerichtetem Blick darauf, während Grog unter den Vorbau der Holzhütte getreten war und diese interessiert musterte.
Rian sah wieder zu David. »Was ist?«
Er musterte sorgfältig den umliegenden Wald. »Ich dachte einen Moment lang, ich hätte etwas wahrgenommen. Etwas, das nicht hierher gehört, sondern eher in unsere Welt.«
Rian wurde aufgeregt. »Du meinst, wir sind richtig?«
»Vielleicht.« David zuckte leicht mit den Achseln. »Lass uns zur Quelle weitergehen.«
Grog kam ihnen über den Weg entgegen.
»Scheint, als wären die Menschen öfter hier«, berichtete er. »Die Hütte hat Licht, elektrische Anschlüsse und Wasser. Allerdings scheinen die letzten Gäste nicht gerade pfleglich mit der Einrichtung umgegangen zu sein, es ist einiges zerstört. Pirx mag übrigens die Quelle.« Er nickte in Richtung des Pixies, der in diesem Moment fröhlich zu ihnen herüberwinkte.
»Wir sollten uns genauer umsehen«, entschied Rian. »David hat etwas gespürt, und wir werden dem nachgehen. Nimm dir Pirx und sieh dich mit ihm im umgebenden Wald um. Achtet genau auf alles, das sich fremd anfühlt. Grog und ich schauen uns erst einmal die Quelle an.«
Die nächste Stunde brachten die Elfen damit zu, Quelle, Hütte und die gesamte Umgebung sorgfältig zu untersuchen. Ohne Ergebnis. Während Pirx leicht schnüffelnd dem Bachlauf folgte, sahen sich die anderen drei ratlos an.
»Nichts«, fasste Rian zusammen. »Hier und da das, was David auch wahrgenommen hat – ein Hauch, dass hier etwas gewesen ist. Aber jetzt lässt nichts mehr darauf schließen, was es war.«
Pirx quietschte auf, Rian und die anderen drehten sich zu dem Pixie um, der den Bachlauf entlang zurückgesprungen kam. Mit einer Hand schwenkte er dabei aufgeregt etwas. Ein wenig außer Atem kam er bei ihnen an.
»Seht mal, was da jemand zusammen mit einem Haufen alter Blätter und Matsch in das Rohr gestopft hat, in dem der Bachlauf eigentlich verschwinden soll!«, rief er und hielt ihnen seinen Fund entgegen.
Vorsichtig nahm Rian das Teil und betrachtete es genau. Es sah aus wie eine aus mit dünnem Faden zusammengehefteten Blättern hergestellte Kappe für ein Kind oder ein anderes Wesen von ähnlicher Größe wie der Grogoch. Rians Blick wanderte zurück zu Pirx.
»Das Ding habe ich zuletzt im Zug nach Worms gesehen«, piepste der Pixie. »Da saß es aber noch auf dem Kopf von diesem Widerling, dem Kau.«
David schlug sich an die Stirn. »Das war es, was ich gespürt habe! Sie waren hier, und vor nicht allzu langer Zeit!«
»Und offensichtlich hatten sie bisher ebenso wenig Erfolg bei der Suche nach dem Lebensquell wie wir, und der Kau hat seine Enttäuschung oder Langeweile hier ausgetobt«, setzte Rian hinzu.
»Wer weiß, vielleicht sind sie noch gar nicht weit«, brummte Grog mit gerunzelter Stirn. »Das, was wir wahrgenommen haben, war nicht lange verweht …«
David wurde blass. »Nina! – Was, wenn sie in der Nähe des Parkplatzes waren?«
Die Elfen sahen sich an, und im nächsten Moment rannten sie gleichzeitig los.
Das Auto stand dort, wo sie es verlassen hatten, doch die Fahrertür war offen, der Sitz leer. David fluchte leise, rannte um das Auto herum, sah sogar noch darunter.
Aber Nina blieb verschwunden. Mit einem erneuten Fluch warf David die Tür zu.
Rian trat hinter ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Beruhige dich, David. Ich spüre hier nichts von dem, was wir bei der Quelle wahrgenommen haben. Ich denke nicht, dass sie auf diesem Parkplatz waren.«
Heftig schüttelte er ihre Hand ab. »Und wo ist dann Nina?«
»Höre ich da meinen Namen?«
Die Elfen fuhren herum. Nina kam von einem nahen Hügel auf sie zu.
»Nina! Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Ich war nur auf der anderen Seite dieses Hügels.« Sie zeigte hinter sich. »Kurz nachdem ihr weg wart, hörte ich aus der Richtung Stimmen und bin nachschauen gegangen, wen es an einem so grauen Novembertag hinaustreibt. Der Waldweg zwischen dem Stein und der Stahlstatue führt da hinten hoch. Als ich über den Hügel kam, stieg gerade jemand in ein Auto, wendete und fuhr weg. Ich bin dann noch eine Weile dort sitzengeblieben, weil es so herrlich ruhig war.«
»Hast du gesehen, wer in dieses Auto gestiegen ist?«, fragte Rian alarmiert. Sie konnte nicht erklären, warum – ihr Elfensinn schlug an.
Nina schüttelte den Kopf. »Nicht genau. Ich denke, es war ein Mann, zumindest hat die Stimme männlich geklungen, die ich gehört habe. Er trug so etwas wie einen langen Mantel mit Kapuze. Vielleicht jemand, der Samhain feiert.«
»Samhain?« Rian sah Nina verständnislos an. »Wer feiert hier den Herrn der Totenwelt?«
»Esoteriker«, antwortete Nina mit einem Achselzucken. »Solche Ich-will-wieder-im-Einklang-mit-Natur-und-Kosmos-leben-Typen, die sich aus allerlei mehr oder weniger gut fundiertem Halbwissen über alte Religionen was Eigenes zusammengebastelt haben, das zu ihnen passt. Die meisten sind harmlose Spinner auf der Suche nach etwas Magie für ihr tristes Leben, aber manche von denen sind auch heftig drauf. Dieser Kapuzentyp kam mir so vor wie einer von der heftigeren Sorte, falls er wirklich dazu gehört. Nur so ein Gefühl, aber …« Erneut zuckte sie mit den Achseln.
Rian und David sahen sich an.
Der Getreue war hier, und er war ihnen erneut einen Schritt voraus.
Graue Wolken zogen weiterhin tief über den Himmel, und Nebelfetzen hingen in dem Wald, der den Hügel bedeckte, an dessen Fuß sie einige Zeit später erneut das Auto abstellten. Sie waren nicht die Einzigen, die diesen Parkplatz nutzten, doch das Auto, das Nina beim Lindelbrunnen gesehen hatte, war nicht unter den abgestellten Fahrzeugen.
»Das sind nicht nur Leute aus der Region«, stellte Nina mit einem Blick auf die Nummernschilder fest. »Scheint, als hätte ich mit meiner Vermutung recht gehabt. Hier treffen sich Leute für ein Samhain-Fest.«
Sie sah prüfend zum Himmel auf. »Wenn ihr die Quelle noch sehen wollt, solange es hell ist, solltet ihr euch beeilen.«
»Kommst du nicht mit?«, fragte Rian überrascht.
Nina schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht so mit diesen Typen. Ich war vor einiger Zeit mal mit einem Eso zusammen, und der hatte etwas seltsame Ansichten über unser Zusammenleben. Jedenfalls habe ich seither beschlossen, dass die ihr Leben leben sollen, und ich lebe meines, und am Besten stören wir uns gegenseitig nicht.« Sie winkte ab. »Ich werde mich ein wenig auf der Rückbank hinlegen. Nach der Wegbeschreibung im Internet ist das ab hier ein Fußmarsch von etwa 20 Minuten, plus die Zeit, die ihr da oben verbringt – das sollte reichen für eine ordentliche Mütze Schlaf für mich, von der ich das Gefühl habe, sie im Moment dringend zu benötigen.« Sie lächelte David kurz an. »Wer weiß, was der Abend noch bringt.«
David erwiderte ihr Lächeln und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Nina seufzte und öffnete die hintere Autotür. »Viel Erfolg euch beiden«, sagte sie und winkte kurz, ehe sie einstieg und die Tür hinter sich zuzog.
Die Elfen gingen vom Parkplatz hinunter und an dem einsam gelegenen Wohnhaus daneben vorbei auf den ansteigenden Weg zu, der zwischen Wiesen hindurch zum Waldrand reichte. Dort teilte sich der Weg auf, beide Pfade führten laut den Schildern mit unterschiedlichen Wanderzeiten zum Brunnen. Einer war ein breiter geschotterter Weg, der sich mit sanftem Anstieg am Berg hochwand, der andere ein kürzerer, aber steiler Waldweg.
Da Elfen in der Menschenwelt mit den Füßen den Boden nicht berührten, hatten sie keinerlei Mühen mit Unwegsamkeiten. Sie entschieden sich für den unbefestigten Weg und wanderten zwischen hohen Kiefern über den mit Wurzeln und Steinen durchsetzten Pfad hinauf und in feinen Nebel hinein. Der Waldweg endete, als er mit dem breiten Schotterweg zusammentraf, und nachdem sie diesem ein Stück weit gefolgt waren, tauchte zu ihrer Rechten neben sechs Steinstufen eine riesige Holzstatue auf.
»Verlorener Schatz – Verlorenes Königreich – Verlorene Seelen. Tarnkappen-Alberich«, las Rian von der Plakette vor, die an die Statue genagelt war. Die vier Elfenwesen sahen sich verwundert an.
»Ich habe Alberich gekannt«, sagte Grog grinsend, »und so wie das da sah er bestimmt nicht aus! Schätze, er hätte dieses Monster recht schnell zu Feuerholz verarbeitet. Die Drachenbrüder ließen nicht mit sich scherzen.« Er hauchte einmal in Richtung der Statue, als deute er Feueratem an.
Rian lachte auf. »Nun ja, er wird sich nicht mehr dran stören.«
»Sieht so aus, als wären hier vor kurzem schon andere vorbeigekommen«, sagte David mit Blick auf Spuren, die sich in der feuchten Erde des Weges abzeichneten, der von den Stufen aus in den Wald hineinführte.
»Vermutlich diese Leute, von denen Nina gesprochen hat«, meinte Pirx. »Ich habe Gelächter gehört. Kann also nicht mehr weit sein.«
*
Unruhig wälzte sich Nina auf der schmalen Rückbank herum. Sie war unsäglich müde, und dennoch konnte sie ihre Gedanken nicht zu der notwendigen Ruhe bringen. Immer wieder kehrten sie zu David zurück, zu der Art, wie er sie berührte, und diesem eigenartigen Kribbeln, das sie dabei erfasste.
Und Rian, die so ätherisch wie ein Engel war. Etwas war seltsam an den beiden. Als wären sie ein wenig unscharf, als gehörten sie nicht in diese Welt.
Nina seufzte, setzte sich halb auf und strich einige Strähnen aus ihrem Gesicht. Mit solchen wirren Überlegungen würde sie es ganz gewiss nie schaffen, von David loszukommen. Wenn sie ihn jetzt noch in ihren Träumen zum Elfenprinzen erhob … sie lachte trocken auf. Das würde doch genau zu dem passen, wie er sich gab. Ein magischer Prinz aus einer anderen Welt. Was suchte er hier? Gewiss nicht jemand wie Nina.
Die junge Frau horchte auf. Kies knirschte unter Rädern, ein Motor wurde abgeschaltet. Neugierig hob Nina ein wenig den Kopf, um durch das Seitenfenster hinauszuspähen. Ein paar Autos standen zwischen ihrem Wagen und dem Neuankömmling, sie hörte am Klappen der Türen, dass mehrere Leute ausgestiegen sein mussten.
Aber da war nur eine Stimme, die eines Mannes. Es klang, als gäbe er Kommandos.
Im nächsten Moment tauchte sie wieder hinter der Rückbank ab, als der Mann hinter den Autos hervorkam und ihre Erinnerung ihr den dazu passenden Hinweis gab. Es war der Mann in dem seltsamen Kapuzenmantel, den sie beim Lindelbrunnen gesehen hatte. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie legte keinerlei Wert darauf, von ihm entdeckt zu werden. Ihr Gefühl in dieser Hinsicht war durch den seltsamen Blick, den Rian und David bei ihrer Erzählung getauscht hatten, nur noch verstärkt worden. Es schien, als würden die Geschwister den Mann kennen, und nicht in positiver Weise. Doch sie hatten kein Wort darüber verloren, und Nina hatte es für besser befunden, nicht in sie zu dringen. Jetzt bereute sie es. Der Kerl war sehr groß und breitschultrig.
Der Mann kam näher, und erneut hörte sie seine Stimme. Sie klang kalt und rau, fast wie ein Zischen, und er redete in einer ihr unbekannten Sprache. Als er schließlich direkt hinter ihrem Auto vorbeiging, hörte sie jemanden leise antworten, in hohen, etwas quäkenden Tönen, wie sie sie noch nie von einem Menschen gehört hatte. Der Mann sagte in scharfem Tonfall ein paar Worte, dann schien das Gespräch beendet, und Nina hörte nur noch das Geräusch sich entfernender Schritte.
Sie wagte erneut einen kurzen Blick durch das Rückfenster. Der Mann ging zügig die Auffahrt hinunter und hielt auf den Feldweg Richtung Siegfriedsbrunnen zu. Wer auch immer bei ihm gewesen war, war entweder zurück zum Auto gegangen oder hatte einen anderen Weg genommen, denn Nina konnte niemanden sonst sehen.
Unschlüssig starrte Nina dem Mann hinterher, bis er den Waldrand erreicht hatte. Er hatte etwas mit David und Rian zu tun, ohne jeden Zweifel.
Dass die Geschwister keine Journalisten waren, war ihr recht schnell klar geworden, denn sie interessierten sich nicht für die Geschichten der einzelnen Brunnen, ihre Beziehung zur Nibelungensage, oder auch nur für die touristischen Aspekte der Rundfahrten, die sie machten. Sie hatten stattdessen jeden einzelnen Brunnen genau unter die Lupe genommen und auch das Umfeld untersucht.
Wilde Gedanken an Agenten, versteckte Akten und Verfolgungsjagden schossen durch Ninas Kopf. Hatte jemand an einem der Siegfriedsbrunnen etwas hinterlegt, und sie wussten nicht, an welchem? Oder waren sie Interpol-Agenten, die den geheimen Übergabepunkt in irgendeinem Handel zwischen Verbrechern oder Terroristen suchten? Oder – dieser Gedanke gefiel ihr gar nicht – waren sie vielleicht selbst Verbrecher oder Terroristen?
Nina rief sich zur Ordnung. Ihre Fantasie ging nun wirklich mit ihr durch. Vermutlich gab es für all das einen ganz normalen und prosaischen Hintergrund. Sobald David und Rian zurückkamen, würde sie sie rundheraus fragen, was das alles zu bedeuten habe.
Sie schüttelte den Kopf und wollte sich wieder hinlegen, doch etwas hielt sie zurück.
War das hier nicht genau das, worauf sie immer gewartet hatte? Hatte sie sich nicht immer nach Geheimnissen und Abenteuern in ihrem Leben gesehnt, nur nie den Mut aufgebracht, danach zu suchen? Nun hatte das Abenteuer offensichtlich sie gefunden. Aber sie musste die Entscheidung fällen, ob sie ihm folgte. Nina grinste sich selbst im Rückspiegel an, öffnete die Tür und stieg aus.
*
Rian ging auf dem schmalen und durch die Feuchtigkeit des Nebels schlüpfrigen und für Menschen nicht ungefährlichen Weg voran. Der Wald lichtete sich bald, sie konnte Sitzbänke sehen, sowie einen hohen Gedenkstein mit einem Kreuz darauf, und die Siegfriedquelle selbst. Das Wasser drang hier an einer mit einem Naturstein geschützten Stelle aus dem Hang und lief über einige weitere Steine in einem schmalen, von Farnen eingefassten Bett abwärts. Ein kleiner Steg führte unterhalb der Quelle über das Bachbett, und von dort verlief ein Pfad zu einer runden Ruhehütte weiter oben am Hang. Aus der Hütte drangen Stimmen zu ihr herüber.
Gerade als Rian am Kreuzstein vorbeiging, erschien auf der anderen Seite des Bachs eine junge Frau mit dunkelrot gefärbten Haaren und langen silbernen Ohrringen mit Mondsteinen. Sie trug einen dicken blauen Anorak, unter dem ein bunter Wollrock hervorschaute, ihre Füße steckten in schwarzen Stiefeln, und in ihren mit mehreren silbernen Ringen und Armreifen geschmückten Händen hielt sie eine kleine Glasflasche.
Die junge Frau nickte Rian und David mit einem freundlichen Lächeln zu, als sie sie bemerkte, und folgte dann auf ihrer Seite dem Bachbett, den Blick suchend auf das Wasser gerichtet.
Neugierig trat Rian näher. »Wollen Sie etwas von dem Wasser in die Flasche füllen?«
Die Rothaarige sah zu ihr auf. »Ja, aber es scheint, als wäre das nicht so leicht. Das Wasser fließt zu flach über die Steine.« Ratlos sah sie wieder auf den Bach hinunter. »Wir müssen wohl doch das Wasser nehmen, das wir mitgebracht haben.«
»Wofür brauchen Sie es denn?«
Die Frau steckte die kleine Flasche in eine ihrer Anoraktaschen und sah dann wieder zu Rian. Ein vorsichtiger Ausdruck trat in ihre Augen.
»Wir machen hier eine kleine Feier, zu Allerheiligen«, sagte sie. »Das machen wir gern mit frischem, reinem Quellwasser.«
»Allerheiligen?«, fragte David nach. »Sie meinen das Samhain-Fest?«
»So nennt man es auch«, antwortete die Frau mit einem leichten Lächeln.
»Ah. Warten Sie, ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
David ging das Bachbett entlang, stellte sich dann vor der Quelle breitbeinig auf die Steine, sodass das Wasser zwischen seinen Füßen hindurchlief, und ließ sich in die Hocke sinken. Er warf einen Blick in die Höhlung unter dem Naturstein, legte dann beide Hände aneinander und hielt sie hinein.
»Kommen Sie mit ihrer Flasche her und öffnen Sie sie«, rief er.
Die Frau folgte seiner Aufforderung und hielt ihm die offene Flasche hin. Vorsichtig zog der Elf seine Hände zurück. Der Kelch, den sie bildeten, war randvoll mit glasklarem Wasser. Langsam ließ er es über seine Finger in die Flasche laufen. Drei Mal wiederholte er dieses Vorgehen, dann war das Fläschchen voll, und die Frau schraubte es wieder zu.
»Vielen herzlichen Dank«, sagte sie mit einem breiten Lächeln.
»Gern geschehen«, winkte David ab. »Ich hoffe nur, meine Hände haben das Wasser nicht beschmutzt.«
Sie winkte ab. »Wir werden es ohnehin mit Salz reinigen. Das gehört dazu. Und außerdem, was heißt schon sauber – wenn wir absolut sauberes Wasser haben wollten, müssten wir ja destilliertes Wasser nehmen, und das ist wiederum unnatürlich.« Sie grinste und sah zwischen David und Rian hin und her, während sie die Flasche in ihren Anorak steckte. Die feuchten Finger trocknete sie an ihrem Rock ab. »Werden Sie hierbleiben?«
»Nur so lange wie nötig«, antwortete David und schüttelte sich die Feuchtigkeit von den Fingern.
»Warten Sie nur nicht zu lange. Es wird schon dunkel, und bei dieser Feuchtigkeit ist der Waldboden tückisch. Ich weiß es, ich habe mir letztes Jahr hier den Knöchel verstaucht.« Sie verzog das Gesicht.
»Ich denke, wir werden nicht lange bleiben«, antwortete Rian. »Wir wollten uns nur schnell die Quelle anschauen.«
»Haben Sie schon die Runen bemerkt?«
»Runen?« Fragend blickte Rian sie an.
Die Frau deutete auf einen Stein links von der Quelle. »Da sind ein paar Runen eingeritzt. Man kann sie kaum erkennen, und ich bin nicht firm genug, um sie lesen zu können.« Sie lachte auf. »Und selbst wenn ich sie entziffern könnte, würde ich vermutlich noch immer nicht verstehen, was es heißt, wenn das wirklich was Altes ist.«
David nickte. »Das ginge uns vermutlich ebenso. Aber danke für den Hinweis!«
»Keine Ursache. Und wie gesagt – warten Sie nicht zu lange mit dem Rückweg!«
Die Frau kehrte über den Weg zu der Ruhehütte zurück, wo sie von ihren Freunden begrüßt wurde.
Rian ging zu dem Stein, auf den die Frau gedeutet hatte, und beugte sich hinunter, um ihn anzuschauen. Mit einer Hand winkte sie Grog herbei, während sie mit der anderen versuchte, das feuchte Moos zu entfernen, das den Stein zum Großteil bedeckte. Ihre Bemühungen waren nur teilweise von Erfolg gekrönt, denn die Pflanzen waren glitschig und saßen in allen Ritzen fest. Dem Grogoch gelang es schließlich unter Zuhilfenahme seiner vielgeübten Reinigungsfertigkeiten, und gemeinsam beugten sie sich darüber und bemühten sich, Zeichen und Inhalt zu entschlüsseln. Es gelang ihnen jedoch nicht.