- -
- 100%
- +
»Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es nicht erst in neuerer Zeit dort hineingeritzt wurde«, meinte Rian skeptisch. »In dieser feuchten Umgebung müsste es doch sonst längst verwittert sein, oder?« Sie sah zu Grog, der zustimmend nickte.
»Also wieder keinen Schritt weiter«, sagte David und starrte in den nebelverhangenen dunklen Wald.
»Zumindest haben wir hier etwas, worauf wir zurückkommen können«, meinte Rian. »Und ich möchte sehen, was diese Leute mit dem Wasser machen. Die Frau sprach von einer Reinigung mit Salz. Nina sagte doch, sie beziehen sich teilweise auf alte Überlieferungen.«
David zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Das hier ist der vorletzte Brunnen auf unserer Liste, und den letzten können wir morgen abhaken. Er ist ohnehin derjenige, der am nächsten bei Worms ist.«
Während Pirx und Grog direkt durch den Wald in Richtung der Hütte gingen, schlugen David und Rian einen Bogen, der die Leute darin glauben lassen sollte, sie wären den Weg wieder zurückgegangen. Schließlich lagen alle vier Crain unterhalb der Ruhehütte im Wald auf der Lauer und warteten.
Langsam senkte sich die Dunkelheit der Nacht zwischen die Bäume.
*
Bis Nina dem seltsamen Mann folgte, war dieser bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Da sie nicht sicher war, ob er den Weg beobachtete, gab sie sich den Anschein einer normalen Spaziergängerin, bis sie den Waldrand erreichte. An der Gabelung der Wege betrachtete sie kurz die dort aufgestellte Infotafel zur Siegfriedsage, ehe sie in den Wald hineinspähte. Sie versuchte, einen dunklen Umriss auszumachen, der zu dem Mann im Mantel passte. Er schien aber den schnellen Schritt, mit dem er den Feldweg entlanggegangen war, weiter eingehalten zu haben, denn sie konnte von ihm weder etwas sehen noch hören.
Sie schlug den kürzeren Weg ein, überzeugt, dass auch der Mann das getan hatte. Ihr unermüdliches morgendliches Joggen kam ihr jetzt zugute, denn der Weg war steil genug, um sie bei dem Tempo rasch aus der Puste zu bringen.
Als sie das obere Ende des Waldweges erreichte, atmete sie schneller als normal und hatte rote Wangen. Es wurde langsam dunkel und der Nebel machte alles klamm. Nina spielte mit dem Gedanken, zum Auto zurückzukehren und ihre seltsame Abenteuerexpedition zu vergessen, doch dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. Nein, sie würde das hier durchziehen, wohin auch immer das führte.
Sie folgte dem Schotterweg in der Richtung, die ein Schild angab, und als sie um eine Biegung kam, sah sie den unheimlichen Mann wieder vor sich. Schnell ging sie ein paar Schritte rückwärts und duckte sich hinter einen Holzstapel am Wegesrand, denn sie hatte gesehen, dass er stehengeblieben war. Sein Blick war auf eine abstrakt wirkende große Holzstatue gerichtet. Im nächsten Moment schüttelte er den Kopf und stieg daneben einige Stufen zu einem Weg hinauf, der tiefer in den Wald hinein führte.
Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, kam Nina hinter dem Holzstapel hervor und folgte dem Mann langsam. Im Schatten der Bäume würde sie ihn kaum mehr finden, und sie musste vorsichtig sein, nicht einfach in ihn hinein zu laufen. Sie beschloss daher, nicht weiter auf dem Pfad zu bleiben, sondern ihr Glück im nicht allzu dichten Wald links davon zu versuchen. Im Fastdunkel suchte sie einen Weg zwischen Bäumen und Büschen hindurch, bis sie vor sich das leise Glucksen eines Baches hörte. Sie änderte ihre Richtung, um neben dem Bach entlang zu laufen. So hoffte sie, zur Quelle zu gelangen, die Davids und Rians Ziel gewesen war.
Inzwischen war es bereits so dunkel, dass sie den Boden kaum noch erkennen konnte. Vorsichtshalber hielt sie nun beim Gehen die Hände etwas vor sich ausgestreckt. Dass sie sich mit dem Lauf des Baches verschätzt hatte, bemerkte sie erst, als sie hörte, wie unter ihr Wasser über ein Hindernis plätscherte, und ihre Füße plötzlich feucht wurden. Mit leisem Fluchen sprang sie auf der anderen Seite aus dem Bachlauf heraus. In diesem Moment hörte sie ein leises Singen.
Sie zögerte, und ihr Blick pendelte zwischen der vermuteten Lage der Quelle und dem Gesang, der von links kam. Schließlich entschied sie sich für die Quelle und tastete sich in dieser Richtung weiter durch den Wald.
*
Rian saß bequem an einen Baum gelehnt und beobachtete interessiert die Geschehnisse. Im Schein der hohen Gartenfackeln, die rings um eine vergleichsweise ebene und freie Fläche hinter dem Unterstand aufgestellt waren, standen vier Frauen und zwei Männer in einem Kreis, die Augen geschlossen, die Arme leicht ausgebreitet, und sangen leise.
Die Frau von der Quelle ging mit einer Schale in diesem Kreis herum und besprühte jeden nacheinander drei Mal in verschiedener Höhe mit einer Flüssigkeit daraus. Hinter ihr schritt ein Mann mit einem Räuchergefäß ebenfalls die Runde ab und wehte jedem etwas Rauch gegen Gesicht und Körper.
»Glaubst du, sie hat das Quellwasser in der Schale?«, flüsterte Rian zu David, der neben ihr bäuchlings auf dem Waldboden lag, das Gesicht in die aufgestellten Hände gestützt.
»Hat sie«, antwortete er. »Ich spüre es genau.«
»Sie scheint tatsächlich eine Art magische Verbindung zwischen den Leuten zu weben, siehst du das?«
David nickte nur.
»Und ich dachte immer, die Sterblichen hätten alle Fähigkeiten in diesen Dingen verloren.«
Grog kratzte sich im Nacken. »Nicht alle«, brummte er leise. »Aber das da – ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass David dieses Wasser berührt hat. Unsere Gegenwart verändert die Magie dieser Welt. Eure ganz besonders.«
Rian sah nachdenklich zu ihm. »Du meinst, selbst wenn sie sonst nichts bewirken mit dem, was sie tun, kann es sein, dass unsere Nähe es wirksam macht?«
Der Grogoch nickte.
»Aber da sie nicht genau wissen, was sie tun …«
»… kann das Ergebnis recht unkontrollierbar sein«, beendete David Rians Satz. Er drehte den Kopf zu ihr, seine Augen funkelten. »Das könnte ein interessantes Erlebnis werden. Diese Sterblichen fangen an, mich zu amüsieren.«
»Also gut, bleiben wir noch eine Weile. Aber denkt daran – sollten wir merken, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, müssen wir darauf achten, dass die Menschen nicht durch unsere Gegenwart zu Schaden kommen. Und Pirx: Halt dich aus allem raus, was sie tun!«
Der Pixie verzog das Gesicht. »Ich hab doch gar nix gemacht!«
»Aber du hast an was gedacht, ich hab’s gesehen«, brummte Grog und schlug ihm leicht auf die Nasenspitze.
»Autsch!«, quietschte Pirx. »Das ist ungerecht! Was kann ich dafür, was ich denke?«
»Nichts, so lange du es beim Denken belässt.«
»Und wer sagt, dass ich was anderes gemacht hätte?«
»Die Erfahrung«, antwortete Grog.
»Scht!«, zischte Rian und gab Zeichen, leiser zu sein. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Leuten zu.
*
Zwischen den Bäumen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Nina atmete erleichtert auf, als sie vor sich endlich einen helleren Schimmer sah, der auf eine nahe Lichtung hindeutete. Die Hände vorsichtshalber weiterhin vor sich ausgestreckt stolperte sie darauf zu. Sie verschwendete inzwischen keinen Gedanken mehr an die Verfolgung des Fremden oder die Fragen, die sein Auftauchen aufgeworfen hatte, sondern wünschte sich nur noch weit weg von der Dunkelheit und Kälte des Waldes. Dennoch wagte sie nicht, die Taschenlampe an ihrem Handy anzuschalten.
Ihre nassen Füße fühlten sich klamm und fast taub an, die kalte Nebelfeuchte legte sich immer wieder über ihr Gesicht und sammelte sich in kleinen Tröpfchen auf ihren Wimpern, und ihre von Borke und Zweigen zerschundenen Hände konnte sie selbst durch Reiben kaum mehr aufwärmen.
Als sie um ein Gebüsch herum auf die Lichtung trat, wäre sie beinahe wieder in das Bett des Baches gestolpert. Sie ging in die Hocke und stützte ihre Hände auf dem Boden ab, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Dann sah sie sich um.
Links konnte sie schwach Feuerschein sehen, von dort war der Gesang gekommen. Zweifelsohne feierten dort die Esoteriker ihr Samhain-Ritual.
Nina wandte der Helligkeit den Rücken zu und versuchte, irgendetwas in der Umgebung der Quelle zu erkennen. Doch außer ein paar unbeweglichen Umrissen von Dingen, die wohl Steine, Informationstafeln oder Sitzbänke waren, konnte sie nichts sehen. Kein Hinweis darauf, wo die Geschwister sein könnten, oder auch der Mann im Kapuzenmantel.
Nina wandte sich wieder in Richtung des Feuers um und erstarrte.
Zwischen sie und das Licht hatte sich ein dunkler Schatten geschoben.
*
Pirx trottete schmollend unter den Bäumen hindurch, zurück in Richtung der Quelle. Vielleicht würde er da wenigstens etwas Interessantes finden, denn das, was die Menschen trieben, fand er langweilig. Er verstand nicht, was Rian und David daran faszinierte. Jeder einzelne Elf der Crain hatte mehr Magie im kleinen Finger. Warum sollte man da zuschauen wollen?
Vielleicht konnte er sich ja von der anderen Seite her in den Unterstand schleichen und nachsehen, ob die Leute irgendwelche Sachen dort gelassen hatten. Er würde sie sich nur ansehen, ganz bestimmt. Vielleicht ein wenig damit herumspielen, aber dann alles wieder aufräumen, ehe die Menschen zurückkamen. Und natürlich würde er darauf achten, nichts kaputt zu machen.
Pirx blieb stehen und horchte auf, als er plötzlich das Brechen eines Zweigs und das Rascheln von Gebüsch hörte. Das war nicht von hinten gekommen, wo seine Freunde und die Feiernden waren, sondern von vorn. Eisiger Schreck fuhr ihm durch die Glieder.
Keinen Moment hatte er mehr an den Getreuen gedacht. War er etwa auch hier?
Unentschlossen stand Pirx geduckt im Schatten. Sollte er erst nachsehen, was sich dort im Wald bewegt hatte, oder lieber zurückgehen und die anderen warnen? Falls es etwas Harmloses gewesen war, würden sie ihn auslachen. Es war besser, erst einmal nachzusehen, als sie vielleicht unnötig zu beunruhigen.
Leise und vorsichtig bewegte er sich weiter in die Richtung, aus der das Knacken gekommen war. Er glaubte, eine Bewegung zwischen den Bäumen zu sehen, und hielt inne. Im nächsten Moment hörte er den raschen Flügelschlag einer Fledermaus und atmete auf.
»Vielleicht war das andere auch nur ein Tier«, sagte er leise zu sich selbst. »Ich mache mir ganz unnötig Sorgen.«
Wieder überlegte er, ob er zurückkehren sollte, doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Etwas sprang hinter dem nächsten Baum hervor und warf sich auf ihn.
*
Nina kauerte sich tiefer hinunter und hoffte, nicht gesehen zu werden. Ein niedriger Busch stand halb zwischen ihr und dem Mann, dessen Umrisse sich ein Stück weiter den Weg entlang gegen den Feuerschein abzeichneten. Wenn er nicht sehr gute Augen hatte, konnte er sie vermutlich nicht unterscheiden, insbesondere da der Lichtschein nicht bis hierher fiel. Sie fragte sich, ob er schon zuvor dort gestanden hatte.
Obwohl sie gegen das Licht das Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen und nicht sicher wissen konnte, wohin er schaute, hatte Nina das Gefühl, dass sein Blick wie ein Suchstrahl alles um ihn herum abtastete.
Er würde sie entdecken, dessen war sie sich schlagartig sicher. Er würde sie sehen, und das machte ihr Angst.
In diesem Moment erklang im Wald ein hohes Quietschen, gefolgt von einem seltsam quäkenden Schrei. Der Mann fuhr herum, und in der nächsten Sekunde war er verschwunden.
Nina atmete erleichtert auf. Zurück zum Auto, dachte sie. Kehr um.
Doch in diesem Moment hörte sie erneut einen Aufschrei, und dann einen Ruf, der sie zurückhielt. Sie kannte die Stimme, und sie konnte nicht einfach gehen. Es war David gewesen, der dort gerufen hatte.
*
Instinktiv hatte Pirx sich zusammengerollt, als der Angreifer sich auf ihn gestürzt hatte. Als spindeldürre Hände in seine aufgestellten Stacheln fuhren, hörte er einen Aufschrei, der ihm nur zu bekannt vorkam. Er rollte sich ein Stück über den Waldboden weg und richtete sich auf. Mit wütend funkelnden Augen musterte er den Kau.
»Du schon wieder!«, schimpfte er. »Verzieh dich und nimm deinen bösartigen Chef gleich mit!«
»Kannst du ihm selbst sagen«, antwortete sein Gegenüber, zeichnete mit einem Finger eine glühende Schlinge in die Luft und warf sie dann in Pirx’ Richtung.
Der Pixie duckte sich nach vorn unter der Schlinge weg und warf sich dem größeren Kau entgegen. Dieser sprang zur Seite, um den Stacheln zu entgehen, hüllte seine Finger in ein schützendes Glimmen und griff dann in seine Richtung.
Pirx dachte jedoch nicht daran, sich fassen zu lassen. Flink huschte er unter den zupackenden Händen weg und versuchte, hinter ihn zu gelangen.
Doch sein Gegner schien das beabsichtigte Manöver zu erahnen. Blitzschnell packte er den Pixie.
In Pirx blitzte das Bild von der Hündin Bella im Zug auf. Er grinste und biss herzhaft zu – ins dürre Bein.
Der Kau riss mit einem Aufheulen sein Bein hoch, und Pirx flog durch die Luft und wurde direkt ins nächste Gebüsch befördert. Einen Moment blieb er benommen zwischen den Zweigen hängen. Dann sah er, wie eine Gestalt im Kapuzenmantel auf den Kau zueilte, und das brachte ihn schnell wieder zur Besinnung. Er sprang nach hinten und nahm die Beine in die Hand. Von irgendwo vor sich hörte er David rufen: »Grog! Warte!« Im nächsten Augenblick rannte er in den haarigen Grogoch hinein, und beide fielen zu Boden.
»Der Getreue«, keuchte Pirx aufgeregt, während er sich wieder aufrappelte. »Ich habe ihn gesehen. Und dieses Ekel, der Kau, ist bei ihm.«
»Zurück zu den Kindern«, knurrte Grog und gab Pirx einen Stoß in die Richtung, aus der er gekommen war.
In diesem Moment hörten sie einen neuen Schrei, einen hohen und gellenden, der sofort wieder erstarb. Pirx fuhr herum und starrte Grog mit großen Augen an.
»Banshee«, flüsterte er.
Grog erwiderte Pirx’ Blick mit einem Ausdruck zwischen Angespanntheit und Trauer.
»Nein«, flüsterte er. »Das war keine Banshee. Ich weiß, wie die klingen. Das war ein Mensch.«
*
Als Nina David rufen hörte, waren alle Bedenken wieder vergessen. Da war dieser seltsame Mann, der die Geschwister zu verfolgen schien, und irgendwo da vorn war David, der womöglich keine Ahnung hatte, dass er in Gefahr war. Sie durfte nicht zulassen, dass er und Rian dem Fremden ahnungslos in die Arme liefen.
Sie sprang auf und rannte geduckt den Weg entlang Richtung Fackelschein. Irgendwo von dort war der Ruf gekommen, und da der Kapuzenträger zwischen den Bäumen sicherlich genauso mit der Dunkelheit zu kämpfen hatte wie sie, konnte sie ihn auf dem Pfad vielleicht überholen.
»David?«, rief sie halblaut, nachdem sie an der Stelle vorbei war, an der zuvor der Mann im Kapuzenmantel gestanden hatte. »David? Rian? Wo seid ihr?«
Nach zwanzig Metern war sie weit genug den leichten Hang hinauf und um die Ruhehütte herum gekommen, um die Leute zu sehen, die hier feierten. Offensichtlich hatten auch sie die Schreie gehört und daraufhin ihr Ritual unterbrochen. Die beiden, die Nina als das Hohepriesterpaar einschätzte, waren ein paar Schritte vor die anderen in Richtung Wald getreten, und drei weitere hielten je eine von den Gartenfackeln in Händen, mit denen sie den Platz erleuchtet hatten.
Der Hohepriester, ein bärtiger dunkelhaariger Mann mittleren Alters, hätte unter anderen Umständen wie ein seriöser Bankangestellter gewirkt. Doch in der silberbestickten schwarzen Robe und mit dem Schwert in der Hand, das normalerweise auf dem Altar lag, hatte er eine für Nina verblüffende Ausstrahlung von Macht. Ebenso die eher zierliche blonde Frau neben ihm, deren schwarze Robe blutrot eingefasst war, und in deren Hand ein schwarzer Dolch lag.
Für den Bruchteil einer Sekunde irritierte Nina die Andersartigkeit dieser Wahrnehmung im Vergleich zu den Ritualen, die sie damals mit ihrem Ex-Freund erlebt hatte. Doch dann kehrten ihre Gedanken wieder zu dem zurück, was sie hierher geführt hatte. Sie sah weder David noch Rian, also mussten sie woanders sein. Sie wandte sich wieder um und ging ein paar Schritte zurück, den Blick auf den Waldrand geheftet.
»Sie suchen die Zwillinge?«, erklang unvermittelt eine angenehm sonore Stimme hinter ihr. Sie wandte sich um, im Glauben, einer der Esoteriker sei ihr gefolgt.
»Ja. Wissen Sie vielleicht …« Das Lächeln auf ihrem Gesicht gefror, als ihr Blick auf die hünenhafte dunkle Gestalt fiel.
»Nein. Aber ich wüsste es allzu gern. Und ich denke, Sie könnten mir bei der Suche nützlich sein.«
Der Mann trat auf sie zu und packte sie an beiden Oberarmen, ehe sie reagieren konnte. Eine Aura der Kälte hüllte sie ein, und dort, wo er sie berührte, kam es ihr vor, als müsse ihr Blut zu Eis gefrieren. Sie schrie auf, schmerzhaft hoch selbst für ihre eigenen Ohren, und ihr Schrei wollte nicht enden. Er zog sie enger an sich und schloss seine Arme um sie, ohne dass sie sich auch nur mit einem Muskelzucken wehren konnte. Die Kälte kroch durch ihr Fleisch bis auf ihre Knochen, und die Luft in ihren Lungen verwandelte sich zu einem eisigen Hauch, der ihre Atmung erstarren und ihren Schrei ersterben ließ.
Ihr Blut schien ihr zu stocken, ihr Herzschlag verlangsamte sich, während sie die ganze Zeit hilflos in die Dunkelheit unter der Kapuze starrte. Nur für einen Moment glaubte sie, ein paar Augen hell aufglitzern zu sehen, ehe sie in ein eiskaltes Nichts sank.
*
»Grog! Warte!«
Rian sprang auf und legte ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter, ehe er dem Grogoch hinterherlaufen konnte. »Nicht. Vielleicht ist es eine Falle.«
David runzelte die Stirn. »Willst du unsere Freunde im Stich lassen?«
»Nein«, antwortete Rian mit einem leichten Kopfschütteln, »aber du weißt, wie die Dinge in Paris beinahe ausgegangen wären. Wenn der Getreue uns gefolgt sein sollte, müssen wir uns gut überlegen, wie wir uns ihm nähern.«
David zog seine leicht gekrümmte Klinge und wollte gerade etwas erwidern, als sie den hohen, schnell ersterbenden Schrei hörten.
»Jetzt warte ich nicht mehr«, zischte David und spurtete in Richtung der Quelle los.
Nicht willens, ihren Bruder allein zu lassen, folgte Rian ihm notgedrungen. Sie bemerkte, dass sie nicht die Einzigen waren, die auf den Ursprung des Schreis zuhielten. Während sie zwischen den Bäumen hindurcheilten, rannten die Menschen, die sie beobachtet hatten, unter lauten Rufen den Weg entlang. Rian holte David ein und packte ihn am Pullover, um ihn zurückzuhalten. Sie deutete zu den Sterblichen.
»Lass sie vorgehen«, sagte sie leise. »Wir beobachten, was geschieht.«
Etwas schoss von der Seite her auf sie zu, und David fuhr herum. Es war Pirx, direkt gefolgt vom keuchenden Grog.
»Der Getreue und der Spindeldürre, der Kau …«, ächzte Pirx.
»Wisst ihr, wer geschrien hat?«, fragte der Prinz.
Grog senkte den Blick. »Ich denke, es war eine Sterbliche.«
»Eine Sterbliche? Aber wer würde denn …« David blinzelte kurz und fuhr dann wieder zum Weg herum.
»Nina«, murmelte Rian.
Schnell brachten sie die wenigen Bäume und Büsche hinter sich, die sie von der freien Fläche zwischen Quell und Ruhehütte trennten. Als sie die Gestalt im dunklen Kapuzenmantel sahen, die einen Körper in ihren Armen hielt, wollte David vorstürmen, doch die Esoteriker waren schneller.
Die Menschen hatten den Getreuen inzwischen entdeckt. Sie konnten aber weder den mit Leidensmiene dahinter am Boden liegenden Kau, noch den eben auf der anderen Seite aus dem Wald herbeieilenden Spriggans sehen, denn beide waren für Sterbliche ebenso unsichtbar wie Grog und Pirx.
»He, du!«, rief ein bärtiger Mann mit einem Schwert und trat einen Schritt vor die restliche Gruppe. »Lass das Mädchen los!«
Er hielt die Klinge in seiner Hand auf eine Art, als wisse er, wie man damit umging. Rian sah zugleich, dass das Band, das mit dem Wasser zwischen den Menschen gewoben worden war, anscheinend noch an Stärke gewonnen hatte. Es war eindeutig mit Elfenmagie durchtränkt, und so gab sie Grog innerlich mit seiner Vermutung recht – durch ihre Gegenwart und Davids Hilfe beim Wasserschöpfen war etwas auf diese Menschen übergesprungen, das ihnen half, sich gegenseitig zu stärken und zu schützen. Die Kraft war dabei vervielfacht worden.
Mehrere hielten Dolche in der Hand, dunkle zweischneidige Klingen, und sie wirkten, als wären sie bereit, sie einzusetzen. Rian hatte Zweifel, ob sie unter normalen Umständen so gehandelt hätten.
Der Getreue musterte die Versammlung der Sterblichen eingehend. Auch er schien all das zu bemerken, was Rian aufgefallen war, und entweder sah er eine echte Gefahr darin, oder er wollte es nicht darauf ankommen lassen.
Mit einer Kopfbewegung hielt er den Spriggans auf, der sich gerade neben ihm zu einem reißzahnbewehrten Ungeheuer aufzublasen begann, und nickte dann dem Mann mit dem Schwert zu.
»Wie Sie wünschen«, sagte er in einer Stimme, die unter anderen Umständen angenehm und sympathisch gewirkt hätte.
Im nächsten Moment öffnete er die Arme, und Ninas Körper sackte herab und schlug auf dem Weg auf. Aus derselben Bewegung heraus warf er den versammelten Menschen eine Kraftwelle entgegen, die sie zurücktaumeln ließ und kurzzeitig das Band zwischen ihnen zum Wabern brachte.
David spannte sich an, um den Getreuen anzuspringen, doch im nächsten Moment hob der vorderste Mann in der Menschengruppe das Schwert und schwang es zwei Mal herum. Es war, als würde er damit den imaginären Sturm abschneiden.
»Er flieht«, zischte David.
Der Getreue war einige Schritte zurückgetreten, und nun wandte er sich um und eilte davon, gefolgt von seinen Helfern. Menschen und Elfen sahen ihm unschlüssig hinterher, um sich dann nahezu zeitgleich zu dem auf dem Boden liegenden Körper in Bewegung zu setzen.
Obwohl sein Weg weiter war als der der Menschen, erreichte David Nina zuerst. Er ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und hob ihren Kopf in seinen Schoß, während die Sterblichen sich in einem Halbkreis um beide sammelten und unsicher auf sie hinuntersahen.
»Nina. Nina, wach auf«, rief David leise mehrfach, tätschelte ihre Wangen und rieb ihre Hände. Als Rian ihn erreichte, sah er zu ihr auf. »Sie lebt, aber sie ist eiskalt.«
»Wir haben Decken oben, und heißen Tee«, sagte die kleine blonde Frau. »Karin, Melanie, kommt mit, wir holen die Sachen.«
»Wir sollten sie ins Krankenhaus bringen«, meinte der Schwertträger. Ihm schien erst jetzt bewusst zu werden, dass er die Waffe noch immer in der Hand hielt, und ließ sie ächzend sinken. »Ich dachte, das Ding könne man gar nicht führen«, murmelte er mit einem verwirrten Blick darauf.
David stand auf und hob Nina auf seine Arme. »Wir werden sie ins Krankenhaus bringen«, erklärte er.
Die Menschen sahen ihn skeptisch an, doch die rothaarige Frau nickte. »Ihr scheint ja Freunde von ihr zu sein. Was hat sie denn hier allein gemacht, und wer war der Kerl?«
Rian trat vor. Sie lächelte die Menschen gewinnend an. »Wir wissen selbst nichts. Nina war beim Auto geblieben, während wir losgezogen sind. Sie wollte dann wohl doch zu uns, und unterwegs hat der miese Kerl sie angegriffen.«
Der Mann starrte Rian an und fuhr sich dann mit einer Hand über das Gesicht. »Heute ist wirklich eine seltsame Nacht«, meinte er. Er schüttelte den Kopf und sah dann etwas hilflos zu den anderen Menschen.
Rian bemerkte, wie das Band zwischen ihnen langsam zerfiel, als habe die Anstrengung gegen den Getreuen es ausgetrocknet. Aus den krafterfüllten zusammengeschlossenen Menschen wurden plötzlich wieder einzelne Wesen ohne Verbindung, die sich blinzelnd und verunsichert gegenseitig ansahen. Vermutlich würden sie sich morgen nur noch an die Hälfte der Ereignisse dieser Nacht erinnern.
Die drei Frauen, die zur Hütte hinaufgegangen waren, kehrten zurück, zwei von ihnen beladen mit Wolldecken, die dritte mit einer Thermoskanne in der Hand.
»Danke«, sagte Rian und lächelte die Frauen warm an, während sie die Kanne entgegennahm. Die anderen halfen David, die bewusstlose Nina in die Decken einzuwickeln, ehe er sie wieder auf die Arme nahm.
»Und jetzt macht, so schnell ihr könnt«, meinte die Frau, für die David das Wasser geschöpft hatte. »Und möge die Göttin euch schützen!«