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Der Grogoch nickte langsam. »Ja, Pirx. Der hier starb als Letzter. Zumindest dachten wir alle bis jetzt, er sei tot. Das da«, er tippte auf das Foto, »ist zweifelsohne Regin, den die Menschen wegen seiner Herkunft Alberich, den Zwerg, den Schwarzalben, nannten!«
»Willst du diesen Reginald Albrecht wirklich aufsuchen?«, fragte David, nachdem er über alles in Kenntnis gesetzt worden war.
Rian ließ sich neben ihn auf die Couch fallen und nahm eine Praline aus der Schachtel auf dem Tisch. »Er ist unsere beste Spur. Ein Elf, der seinen Tod nur vorgetäuscht hat und sich seither in der Menschenwelt versteckt. Der weiß einiges, darauf wette ich.«
David runzelte die Stirn. Er schien nicht überzeugt. »Warum versteckt er sich ausgerechnet hier? An so einem … langweiligen Ort?«
Grog räusperte sich. »Wenn die Drachenbrüder sich um irgendetwas bemüht haben, dann ging es immer um etwas Wertvolles oder um Macht. Oder aber um beides, denn das eine führt ja oft genug zum anderen.«
Rian dachte kurz nach und schnippte mit den Fingern. »Der Schatz! Dieser Schatz, den Siegfried angeblich besessen hat und den Hagen nach dessen Tod versteckte. Das hat Nadja mir erzählt.«
Erneut nickte Grog.
»Also gut«, meinte David. »Wir wissen über diesen Schatz – nichts, also werden wir ihm dabei nicht helfen können, als Gegenleistung für eine Gefälligkeit. Warum sollte er uns helfen, wenn wir ihm nichts zu bieten haben? Und vor allem – warum sollten wir ihm trauen?«
Rian winkte ab. »Er ist vielleicht genauso vom Verlust der Unsterblichkeit betroffen wie wir. Und vermutlich kann er nach dieser langen Zeit in der Welt der Sterblichen ebenso wenig zurückkehren wie unser Freund Talamand in Paris, und wird daher genauso ausgehungert nach elfischer Gesellschaft sein. Er wird froh sein, wenn er uns helfen kann – spätestens, wenn ich mit ihm gesprochen habe.« Sie zwinkerte.
David zuckte mit den Achseln und strich sein Haar zurück. »Wie du meinst. Es kann nicht schaden, mit ihm zu reden, da gebe ich dir Recht. Ich glaube aber nicht, dass er uns weiterhelfen kann.«
»Oder will«, mahnte Grog. »Ich würde ihm niemals trauen.«
»Welchem Elfen kann man schon trauen?«, erwiderte Rian lachend. »Wir sind immer auf der Hut, Grog. Mach dir keine Sorgen.«
Rian rief die Nummer vom Plakat an. Eine Frau mit angenehm modulierter Stimme wollte sie zuerst abwimmeln. Rian ließ daraufhin ihren Elfenzauber wirken und bat darum, Herrn Albrecht auszurichten, dass »Rian und David Bonet ihn betreffs Earrach« zu sprechen wünschten, und diktierte ihr die Telefonnummer der Suite.
»Einfacher wäre es, wenn Sie mir Ihre Handynummer geben würden.«
»Äh, ja, nur leider ist mein Handy gestohlen worden«, improvisierte Rian.
Die Frau ließ sich E-a-r-r-a-c-h buchstabieren und versprach dann, die Nachricht weiterzugeben.
»Wir brauchen Handys!«, meinte Rian, nachdem sie der Frau gedankt und aufgelegt hatte. »Nadja hatte es schon erwähnt. Und da ich nun Autofahren kann, traue ich mir sowas auch zu. Kann ja nicht schwerer sein als so eine Computermaschine.«
Pirx stimmte zu. »Das scheint so etwas wie ein neuer Gott für die Menschen zu sein, mit großer Macht. Egal wo, immer starren sie drauf oder halten es wie einen Toast, in den sie beißen wollen.«
Keiner der vier war überrascht, als der Rückruf bereits nach einer halben Stunde kam. Sie hatten Recht gehabt mit ihrer Vermutung. Elfen im Exil würden sich die Gelegenheit, mit Elfen aus der Heimatwelt zu sprechen, nicht entgehen lassen. Herr Albrecht ließ wissen, dass er die Geschwister Bonet persönlich zum Abendessen abholen würde.
Rian bereitete sich besonders sorgfältig darauf vor. Es war ihr daran gelegen, Eindruck auf Alberich zu machen – nicht nur, weil sie seine Hilfe brauchten, sondern auch, weil das Foto auf dem Plakat sie sofort für ihn eingenommen hatte. Ihm stand der ganze Reichtum elfischen Charmes ins Gesicht geschrieben, eines Charmes, den sie seit einiger Zeit hatte missen müssen. Talamand war zwar unbestreitbar ein Elf, doch seine Ausstrahlung hatte durch den langen Aufenthalt unter den Sterblichen gelitten. Alberichs Foto wirkte anders.
Pünktlich um sieben Uhr kam der Anruf vom Empfang, dass ein Herr da wäre, der angab, mit ihnen verabredet zu sein. Rian und David waren übereingekommen, Pirx und Grog zu diesem Treffen nicht mitzunehmen. So hatten sie im Notfall Rückendeckung.
Als die Aufzugtür sich im Erdgeschoss öffnete, drehte sich ein schlanker Mann in dunkelgrünem Anzug und langem schwarzen Mantel über dem linken Arm zu ihnen um. Seine Augen blitzten auf, und er blies eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Mit der freien Hand rückte er das silberne Medaillon indianischer Machart zurecht, das anstatt einer Krawatte an perlenbesetzten schwarzen Lederbändern um den Kragen seines blütenweißen Hemds hing.
Rian fand, dass er noch besser aussah als auf dem Bild. Allerdings war er kleiner, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Solange sie auf ihren hochhackigen Schuhen stand, würde er zu ihr aufsehen müssen. Ein Zwerg besonderer Art eben.
Der Mann kam auf sie zu, als sie aus dem Aufzug in die Eingangshalle traten.
»Rian und David Bonet, welche Freude«, sagte er lächelnd und streckte die Hand aus. »Ich bin Reginald Albrecht.«
Rian erwiderte sein Lächeln mit ihrem gewinnendsten Strahlen. »Freut mich ebenfalls, Herr Albrecht, dass Sie so schnell Zeit für uns gefunden haben.«
Sie gab ihm ihre Hand, doch anstatt sie zu drücken, hob er sie an und hauchte einen Kuss darüber. Sein Blick blieb an den Ringen hängen, die sie an jedem Finger trug.
»Schöne Stücke«, bemerkte er. »Leider ist nichts an ihnen echt. Aber gegen die echte Schönheit dieser Trägerin würde ohnehin jeder Schmuck verblassen.« Er blitzte sie noch einmal aus dunklen Augen an, ehe er seine und ihre Hand wieder sinken ließ und die Berührung eine Spur langsamer löste als es sich gehörte. Rian spürte mit einem leichten Kribbeln, wie sich zugleich ihre Magiefäden wieder entwirrten. Beide hatten sie ihre Fäden ausgeworfen, und keiner hatte den anderen gefangen, doch die Berührung war elektrisierend gewesen.
Alberich wandte sich ihrem Bruder zu. »David Bonet. Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Seine Miene war dabei ernster geworden, und die Art, wie die beiden Männer sich die Hände gaben, erinnerte an Geschäftsleute, die eine wichtige Transaktion vorbereiteten. Erfreut stellte Rian fest, dass Davids Skepsis unter diesem Händedruck zu schrumpfen schien. Die Bekanntschaft mit Alberich versprach angenehm zu werden, und Rian war überzeugt, dass er sie bei ihrer Suche unterstützen würde.
Alberich sah von David wieder zu Rian. »Ich möchte Sie zu einem gemeinsamen Spaziergang an der Uferpromenade mit anschließendem Abendessen in einem meiner bevorzugten Restaurants einladen«, sagte er. »Wäre das mit Ihren Plänen zu vereinbaren?«
Rian lachte auf. »Wir sind Touristen«, antwortete sie. »Wir legen die Planung des Abends in Ihre Hände.«
Die Augen ihres Gegenübers wurden eine Spur schmäler, was nicht zu seinem feinen Lächeln passte, während er eine Verbeugung andeutete. »Ich werde versuchen, mich Ihres Vertrauens würdig zu erweisen.«
Alberich führte sie zu seinem dunkelblauen BMW und öffnete für Rian die Beifahrertür. Die Elfe nahm in dem hellen Ledersitz Platz, schnallte sich an, während Alberich die Tür schloss. David stieg hinter ihr ein. Während Alberich um das Fahrzeug herumging, strich Rian mit ihren Fingerspitzen über die glatten Oberflächen der Teakholzverkleidungen an Tür und Handschuhfach.
Alberich nahm auf dem Fahrersitz Platz, deaktivierte die elektronische Wegfahrsperre und betätigte die Zündung. Der Motor schnurrte sanft wie eine Katze. Der Elf stieß rückwärts aus der Parklücke und fädelte sich dann in den gemächlichen Abendverkehr ein. Nachdem sie in eine der Wormser Hauptverkehrsstraßen eingebogen waren, warf er einen kurzen Seitenblick auf Rian und lächelte erneut dieses funkelnde Lächeln, das seine Augen wie geschliffene Obsidiane erscheinen ließ.
»Dafydd und Rhiannon«, sagte er und wechselte in die Sprache der Elfen. »Wer hätte jemals gedacht, dass ich eines Tages die Kinder Fanmórs in meinem Auto sitzen haben würde.«
Rian sah ihn erstaunt an. »Du kennst uns?«
»Natürlich. Schon als meine Assistentin am Telefon den Namen Rian Bonet nannte, brauchte ich euren Hinweis auf Earrach nicht mehr, um zu wissen, wer da bei mir vorstellig wurde.«
»Echt? Aber … inwiefern verrät mich mein Name?«
Alberich griff zu Rian hinüber und öffnete das Handschuhfach. Wie zufällig streifte er dabei ihren Oberschenkel in einer Weise, die sie kurz den Atem anhalten ließ. Er warf ihr einen amüsierten Blick zu und deutete dann auf eine Zeitschrift, die im Licht der Handschuhfachbeleuchtung auf der offenen Klappe lag. Es war das Magazin, für das Nadja schrieb, und es war bei ihrem Artikel über die Prêt-à-porter umgeschlagen. Rechts unten in der Ecke prangte ein Bild, das Rian auf dem Laufsteg zeigte. Es war nicht groß, aber trotzdem groß genug, um sie wiedererkennen zu können.
»Ich lese Zeitschriften, und ich habe Verbindungen«, erklärte Alberich, während er seine Konzentration wieder dem Verkehr zuwandte. »Die Schönheit und die Ausstrahlung der Frau auf diesem Bild nahmen mich sofort gefangen, zumal sie unverkennbar elfischer Natur war. Ich war verständlicherweise erpicht darauf, sie näher kennenzulernen. Und wenn man den Willen dazu hat und die richtigen Leute kennt, ist es nicht allzu schwer, den Namen eines Models herauszufinden, das auf namhaften Modenschauen in Paris auftritt. – Damit, dass die gesuchte Dame von selbst hierher kommen würde, hatte ich allerdings nicht gerechnet.« Er lächelte.
Rian sah ihn skeptisch von der Seite an. »Auf diesem Bild eine Elfe zu erkennen ist eine Sache«, bemerkte sie. »Zu wissen, dass es die Tochter Fanmórs ist, ist jedoch eine gänzlich andere. Der Schritt dazwischen interessiert mich.«
Alberich neigte leicht den Kopf zur Seite und tippte mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad, als schlage er den Takt zu einer Musik, die nur er hörte. Vor ihnen tauchte der Nibelungenturm auf, neben dem Dom das zweite Wahrzeichen der Stadt, und er setzte den Blinker nach links, während sie an einer Ampel warteten.
»Ich mag schon lange nicht mehr in Earrach leben, und es ist mir nicht unlieb, dort für tot zu gelten«, antwortete er schließlich. »Aber ich habe noch immer Augen und Ohren dort, und dieses Bild war nicht das erste, das ich von dir sah. Allerdings war es das bisher Faszinierendste, da es gänzlich ohne den sonst üblichen Elfenzauber den wahren Charme der Frau dahinter erahnen ließ.«
Rian kniff leicht die Augen zusammen. Die ganze Zeit kam es ihr vor, als schwinge in Alberichs Stimme stets unterdrücktes Gelächter mit. Alles, was er sagte – die geschliffenen Komplimente ebenso wie die sachlichen Erklärungen –, wirkte so sehr am Rande der Ironie, dass es Rian schwerfiel, zu entscheiden, was er ernst meinte und was nicht. Dieses Spiel mit Worten alarmierte und faszinierte sie zugleich.
Sie ahnte, dass sie jeden Moment dieses Abends genießen würde. Und sie war dankbar, dass David sich still verhielt – für seine Verhältnisse ungewöhnlich. Doch sie ließ sich davon nicht ablenken, ihre gesamte Konzentration durfte nur Alberich gelten.
Der fuhr auf das Rheinufer zu, bog dann in eine schmale Straße ein, die neben einer Schienenstrecke entlangführte, und schwenkte schließlich über die Schienen hinweg in eine Stichstraße mit Parkplätzen. Gleich auf dem ersten stellte er den Wagen ab und lächelte Rian an.
»Voilà«, sagte er. »Wir sind angekommen. Ich bitte die Dame und den Herrn, einen Moment Platz zu behalten.«
Er stieg aus und umrundete den Wagen, um Rian und David die Türen zu öffnen. Dann hielt er Rian seine Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen, und sie nahm gern an. Es war schon eine Weile her, dass sie solche Höflichkeiten von anderen Männern als ihrem Bruder erlebt hatte. Die Menschen schienen auf diese Manieren keinen Wert zu legen, obwohl sie doch Teil eines Spiels waren, das Rian sehr zu schätzen wusste. Sie war daher entschlossen, sich von Alberich in jeder Form hofieren zu lassen und es zu genießen, so lange sie Gelegenheit dazu hatte.
Nachdem er ihr aus dem Wagen geholfen hatte, legte Alberich Rians Hand wie selbstverständlich in seine Armbeuge, um mit ihr auf einen Kiesweg zuzusteuern, der zum Promenadenweg am Flussufer führte. Mit der anderen winkte er David heran, der ein Stück hinter ihnen geblieben war.
»Dafydd, erweise mir die Ehre, meine andere Seite zu schmücken. Es würde meiner eitlen Seele schmeicheln. Wie oft hat man schon die Gelegenheit, zwischen hochköniglichem Geblüt zu flanieren?«
David holte mit einigen langen Schritten auf, sein Blick blieb unergründlich, aber er lächelte immerhin.
»Was Rian in Paris getan hat, weiß ich ja nun schon«, sagte Alberich und legte leicht seine Hand auf Rians, als wolle er verhindern, dass sie von seiner Armbeuge rutschte. »Aber was hat diese Stadt einem Prinzen wie dir zu bieten? Wie hast du dir die Zeit dort vertrieben?«
David zuckte die Achseln. »Ich habe gelegentlich Cocktails in einem Club gemixt. Ich war dort sehr beliebt.«
»Vor allem bei den Damen, vermute ich«, bemerkte Alberich. »Hast du denn das, was die Menschen dir als Zutaten bieten konnten, nicht als minderwertig empfunden?«
»Die Menschen mögen nicht über die exzellenten Tropfen verfügen, die wir im Baumschloss haben, aber sie haben durchaus einige interessante alkoholische Getränke entwickelt. Und in der richtigen Mischung kann man sogar aus Mittelwertigem noch etwas Erstklassiges machen.«
»Ich glaube dir sofort und unbesehen, dass du diese Kunst beherrschst. Daher frage ich mich, ob es wohl möglich wäre, später eine Probe deiner Fertigkeiten zu erhalten? Ich habe eine gut bestückte Bar in meinem Haus.«
»Natürlich, gern.«
Sie schlenderten zu dritt unter dem verwobenen Zweigdach der Platanen hindurch, die den Uferweg im Sommer beschatteten. Jetzt hatten sie alle Blätter verloren, und man konnte durch ihre Äste hindurch den klaren Sternenhimmel sehen. Rian musterte die Anlegestellen für Touristenboote, die sie passierten. Ein Stückchen weiter sah sie einige niedrige Gebäude mit hell erleuchteten großen Fenstern.
»Die Restaurants hier unten mögen nicht die besten der Stadt sein«, bemerkte Alberich, »aber ich liebe den Ausblick.« Er nickte zum dunklen Band des Rheins hin, in dessen schnell fließendem Wasser sich die Lichter der Uferpromenade und der entfernten Nibelungenbrücke spiegelten.
Rians Blick fiel auf einen aus Sandsteinen gemauerten Block, auf dem sich der dunkle Umriss einer mehr als mannsgroßen Statue erhob. Sie stellte einen Menschen dar, der etwas auf der Schulter trug.
»Das Hagenstandbild«, erläuterte Alberich, der ihren Blick bemerkte. Rian sah, wie seine Kiefermuskeln sich kurz anspannten. Ein eigenartiges Glitzern trat in seine Augen. »Er ist dabei, den Schatz der Nibelungen im Rhein zu versenken – oder besser, wie ein Künstler sich die Szene vorstellt. Der wirkliche Vorgang war deutlich prosaischer, habe ich mir sagen lassen. Ich war damals leider verhindert, an diesem Ereignis teilzunehmen.« Dieses Mal war die Ironie in den Worten unverkennbar, und zugleich schwang darunter etwas mit, das an das Knurren eines gereizten Raubtiers erinnerte.
Rian musterte Alberich von der Seite, und Grogs Worte kamen ihr wieder in den Sinn: Er ist ein Drachenbruder. Unter der gutaussehenden und liebenswürdigen Oberfläche dieses Elfen ruhten zweifelsohne Dinge, die gefährlich werden konnten, wenn sie geweckt wurden. Der Wolf im Schafspelz, dachte Rian. Der Drache in Elfenhaut. Welches ist überhaupt seine wahre Gestalt?
In diesem Moment schüttelte Alberich kurz den Kopf, als wolle er einen unangenehmen Gedanken vertreiben, und drehte sich mit einem Lächeln wieder ihr und David zu. Erneut war er der weltgewandte Mann, der nichts allzu ernst zu nehmen schien.
»Lassen wir diese alten Geschichten vorerst; ich denke, wir werden noch früh genug darüber sprechen. Aber wenn wir damit jetzt anfangen, kommen wir nicht beim Restaurant an, ehe die Küche schließt.«
Sie spazierten den Uferweg hinunter bis zum Fuß des Nibelungentors, durch das ein Stück weiter oben die Bundesstraße führte, die Worms über die Nibelungenbrücke mit dem anderen Rheinufer verband.
Sie gingen ein paar Stufen hinauf und traten in ein rustikal ausgestattetes Gasthaus ein. Sofort wurden sie von einem jungen Kellner begrüßt, der sie zu einem reservierten Tisch in einer ruhigen Ecke des Lokals führte. Eine Frau reichte ihnen Speisekarten und legte eine Weinkarte auf den Tisch.
Letztere schob Alberich zur Seite. »Bringen Sie uns von dem Wein, den ich selbst hier habe einlagern lassen«, sagte er und sah dann fragend zu den Geschwistern. »Möchtet ihr etwas anderes vorweg trinken?«
Rian schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich auf deine Empfehlung, Reginald«, sagte sie. Sie sprachen wieder Deutsch und benutzten somit auch die Namen, die sie gegenüber den Menschen führten.
»David?«
»Ich ebenso. Ich bin gespannt, ob er meinen Ansprüchen genügen wird.«
Alberichs rechter Mundwinkel hob sich leicht zur Andeutung eines Lächelns, ehe er sich wieder der Bedienung zuwandte. »Also, meinen Elfenwein«, sagte er. »Und wie immer einen Krug stilles Wasser dazu.«
Die Frau nickte und nahm die Weinkarte wieder mit.
»Elfenwein?«, wiederholte Rian.
Alberich hob die Augenbrauen. »Willst du Fragen vermeiden, beantworte sie mit der Wahrheit, insbesondere wenn es ohnehin eine unglaubwürdig erscheinende ist. Der Wirt hier hat mich nie wieder gefragt, woher ich diesen vorzüglichen Tropfen habe.«
»Es ist also ein Wein aus Earrach?«, fragte David ungläubig.
Alberich nickte. »Ich habe meine Beziehungen, hier wie dort. Um genau zu sein ist es sogar ein Wein, der direkt aus dem Weinkeller Fanmórs stammt. Er sollte euch also bestens munden.«
Rian erschrak unwillkürlich und setzte sich gerader hin. »Aus Vaters Weinkeller?« War er verrückt?
Alberich lehnte sich zurück und legte auf dem Tisch die Fingerspitzen aneinander. »Exakt. Der Mann, der die Weinkeller eures Vaters hütet, ist ein Meidling und somit ein sehr einsamer Mann. Er glaubt, seine Einsamkeit ertragen zu können, doch gelegentlich ist er durchaus zu einigem bereit, um sie vorübergehend zu verringern. Er weiß allerdings nicht, wo der Wein gelandet ist, den er abgezweigt und gegen etwas … Freundschaft … eingetauscht hat. Und da ihr nun selbst in den Genuss seiner Tat kommt, würde ich euch bitten, ihn bei eurer Rückkehr nicht zu verraten.«
Rian fühlte sich, als habe sie ein Blitz getroffen. Wenn die Beziehungen Alberichs bis in das Baumschloss Fanmórs reichten, ohne dass dort jemals etwas über sein Überleben bekannt geworden war – wie viel weiter mochte sein Netz noch reichen, und wie dicht mochte es sein?
Sie sah zu ihrem Bruder, der ihren Blick erwiderte. Seine Augen hatten sich verdunkelt. Fing er an, diese Verabredung zu bereuen? Aber wie es aussah, war Alberich genau der Mann, der ihnen weiterhelfen konnte! Gewiss, er war sehr gefährlich, aber das hatten sie auch vorher schon gewusst. Und sie beide waren Elfen und ebenfalls gefährlich – auf ihre Weise.
Alberich lachte auf, griff nach der Speisekarte und schlug sie auf. »Macht euch nicht so viele Gedanken, Kinder. Es ist niemandem Schaden zugefügt worden, im Gegenteil. Und wer will es mir verübeln, wenn ich mir das Leben hier etwas angenehmer zu gestalten versuche? Lasst uns bestellen, wenn der Wein kommt.«
Nachdem der Kellner sich mit den Karten zurückgezogen hatte, lehnte Rian sich vor, die Unterarme auf dem Tisch aufgestützt und die Hände gefaltet.
»Also, Regin, oder Alberich, oder Reginald, oder wie auch immer du gern genannt werden willst«, sagte sie auf elfisch. »Meine Neugier ist ein für alle Mal geweckt. Wie kommt es, dass ein Elf, der hier wie dort für tot gilt, quicklebendig vor mir sitzt und Beziehungen aufzuweisen hat, die uns erblassen lassen?«
Ihr Gegenüber lächelte leicht. »Nennt mich ruhig Alberich. Diesen Namen hat man damals in Earrach für mich übernommen, und ich habe mich daran gewöhnt, von unsereins so genannt zu werden.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während er Rian musterte. Sie hielt seinem Blick ruhig stand. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Bruder sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite gedreht hatte, um sie beide mit auf einem Arm aufgestützten Kopf zu beobachten.
»Damit ihr versteht, was damals alles geschehen ist, muss ich ein wenig weiter ausholen«, begann Alberich. »Ich nehme an, ihr kennt zumindest in Teilen die Sagen und Geschichten, die sich allerorts um mein Leben ranken?«
»Zuhause habe ich das eine oder andere über dich und deine Brüder gehört«, antwortete Rian. »Ich gebe aber zu, dass ich mich nie allzu sehr für das interessiert habe, was vor meiner Geburt geschehen ist.«
»Ein Fehler, Prinzessin«, meinte Alberich und legte leicht den Kopf zur Seite. »Wir können sehr viel aus der Vergangenheit lernen, wenn wir sie genau studieren. Man kann Dinge wiederholen, die sich bereits als erfolgreich erwiesen haben, und die Fehler anderer vermeiden. Und unter Umständen kann man auch sehr viel Nützliches über Personen erfahren, mit denen man zu tun hat, wenn man mehr als nur ihre eigene unmittelbare Geschichte studiert. Jeder wird direkt oder indirekt von der Vergangenheit geprägt.«
»Sicher. Aber für mich gab es bisher keine Notwendigkeit, mich damit zu beschäftigen.«
»Bisher.« Alberich nickte leicht. »Die Dinge ändern sich in mancherlei Hinsicht, nicht wahr, Prinzessin? Vieles von dem, was man unvermeidlicherweise lernt, wenn man hier lebt, wird bald vielleicht auch dort wichtig, wo man bisher nicht viel darauf gab. Aber ich schweife ab.«
Der Wein kam und wurde formvollendet eingeschenkt. Rian beobachtete eine Gasperle, die sich an der Wand ihres Glases gebildet und schließlich davon gelöst hatte. Nun stieg sie in einer trägen Spirale durch den nahezu glasklaren Wein auf und hinterließ dabei eine schwache, violett schimmernde Spur in der Flüssigkeit. Als sie schließlich an der Oberfläche zerplatzte, wirkte es, als würde ein kleines Feuerwerk aus leuchtenden bunten Funken gezündet, das sich mit denen der anderen Perlen vereinte, welche die Oberfläche erreichten.
»Goldperle«, flüsterte sie. »Einer der Weine, die unser Vater einmal aus Campofiero, dem Wilden Land, mitgebracht hat.«
David nickte und hob das Glas an seine Nase, um den Duft tief einzuatmen.
Alberich nahm ebenfalls sein Glas in die Hand. »Auf euch, treue Kinder Fanmórs und des Reiches Crain«, sagte er und hob das Glas in Richtung der Geschwister. »Möge das Schicksal euch die Enttäuschungen vorbehalten, mit denen es mich so reichlich gesegnet hat.«
Blumig-fruchtig entfaltete sich der Geschmack sofort, ähnlich dem Feuerwerk der Perlen, in Rians Mund, mit einem Hauch der Süße von Blütenhonig darin.
Die Goldperle passte ihren Geschmack perfekter den Wünschen des Trinkenden an als jedes andere Elfengetränk, das Rian kannte. Die Bedingungen, unter denen die Goldperltraube zu solcher Perfektion reifen konnte, fanden sich allerdings nur in wenigen Gebieten, und darum war dieser Wein trotz seiner Beliebtheit nicht in großen Mengen erzeugbar.
Umso mehr erstaunte es sie, dass es Alberich gelungen war, sich ausgerechnet etwas von diesem Schatz aus Fanmórs Weinkeller zu beschaffen. Langsam zweifelte sie an der Wahrheit der Geschichte. Es erschien ihr wahrscheinlicher, dass er den Wein direkt aus Campofiero erhalten hatte, auf welchem Wege auch immer er das bewerkstelligt haben mochte.
Nachdem sie zu dieser Überzeugung gekommen war, entspannte sie sich ein bisschen. Alberich hatte sie beeindrucken wollen, und für eine Weile war ihm das auch gelungen. Doch so leicht wollte sie sich von ihm nicht ins Bockshorn jagen lassen, wie die Menschen das so schön nannten.
»Also?«, meinte sie herausfordernd, als sie ihr Glas wieder absetzte.
Alberich nickte und stellte sein Glas in einer langsamen Bewegung vor sich ab, den Blick darauf geheftet.
»Mein Vater, meine beiden Brüder und ich waren von je her Söldner«, erzählte er. »Unser Vater stammte aus Zyma, dem Kalten Reich, wo auch meine Brüder und ich geboren wurden. Er hatte sich aber schon früh im milderen Earrach eine Bleibe für die Zeiten zwischen den Kriegen geschaffen. Das Frühlingsland gefiel ihm besser als seine frostige Heimat, und man nahm ihn wegen seiner Fertigkeiten im Kampf mit offenen Armen auf. Meine Brüder und ich wuchsen die meiste Zeit in Earrach auf und traten bald in sein Handwerk ein.«