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Ainfar brachte vor Aufregung und neu erstandener Hoffnung kaum mehr einen Bissen hinunter.
Auch er war freiwillig hierher gegangen. Bruder, dachte er, ich komme nach Hause.
Aber bis dahin hatte er noch eine Menge zu tun.
Ainfar drückte sich in den Schatten eines Bogens des Umgangs und sah hinaus in den großzügigen Innengarten. Sattes Grün in allen Tönen bedeckte schimmernden Kristall und staubgedunkelten Fels, der über die Zeiten aufgebrochen und nun mit Moos und Flechten besetzt war, mit Blumen und Büschen bewachsen und von schlanken Bäumen beschattet. Zu Ainfars Rechter schwebte ein Brunnen, nichts als sich ewig hebendes Wasser, das hoch über ihm in einer Explosion auseinanderspritzte und von dort kaskadenartig Richtung Boden sank, nur um dort wieder wie in einem unsichtbaren Sog zusammen zu treiben und erneut aufzusteigen. Doch seine Gedanken waren nicht bei der Schönheit, die sich ihm präsentierte. Sie war es nicht, weswegen er hierher gekommen war.
Etwas muss geschehen sein, dachte Ainfar. Seit Gwynbaen … Bandorchu dieses Land gebrochen hat anstatt von ihm gebrochen zu werden, hat sie stetig an ihrer Befreiung gearbeitet – und nun scheint sie einen Durchbruch erzielt zu haben! Ich muss in Erfahrung bringen, was genau sie plant.
Ainfar hatte in dem Lustgarten gelegentlich kleinere Arbeiten verrichtet und dabei erfahren, dass die Königin gern hier verweilte. Manchmal wurde sie von Höflingen begleitet, meist jedoch nur von ein oder zwei Dienerinnen.
Heute hatte er keinen Blick für die kunstvoll arrangierten Steinblüten, deren normalerweise gefährliche Ranken mit metallenen Spangen in sinnverwirrenden Mustern über die gebrochenen Kristalle gespannt waren, oder die schlanken, in sich gewundenen Arboratien, von denen jeder aus einer anderen Mischung ineinander geflochtener Bäume zusammengestellt war. Heute war sein Blick fest auf den Durchgang geheftet, der zu den Gemächern der Königin führte.
Gerüchte kursierten schnell in dieser Zitadelle, die nur wenige Geheimnisse erlaubte und kaum Möglichkeiten der Zerstreuung bot. Bandorchu hatte vor kurzem ihrem Palast einen neuen Turm zugefügt, und heute würde sie seine Wände schwärzen. Sie würde aus ihren Gedanken den dunklen Staub rieseln lassen, dem sie alle ihre neue Heimat verdankten, und ihn auf dem klaren Kristall ablagern, um Licht und Schatten den Eintritt zu verwehren und zu verhindern, dass sie jemals wieder ein Bild zurückwarfen.
Danach würde sie erschöpft sein und die Ruhe des Gartens aufsuchen, um sich zu erholen. Doch dieses Mal würde sie nicht mit ihren Vertrauten allein sein. Ainfar würde heimlich dabei sein, in der Hoffnung, dass sie etwas von ihren Plänen verriet.
Damit ich endlich das tun kann, weshalb ich hergekommen bin. Damit die Angst und der Schrecken und der Schmerz, das Vergessen und das Wiederfinden, endlich einen Sinn bekommen. Damit ich Möglichkeiten finde, eine Verbindung zu Regiatus aufzubauen, was mir bisher nie gelungen ist.
Kurz blitzte vor seinem inneren Auge wieder das Bild des Getreuen auf, doch er schob es beiseite.
Egal wie groß die Gefahr ist – die Gefahr, mich hier endgültig zu verlieren, ist größer. Was bleibt von mir, wenn ich wieder vergesse, warum ich hier bin?
Etwas bewegte sich hinter den hängenden Ranken des grünen Wasserfalls, der einen Teil des verwinkelten Gartens Ainfars Blick entzog; es ließ die Zweige darin schwanken und die Blätter erwartungsvoll rascheln. Ein Windhauch trug leise Stimmen mit sich, eine gemurmelte Unterhaltung zwischen zwei Frauen. Und dann, gebieterisch darüber erhoben, erklang der reine Sphärenklang der Stimme der Königin. Das Warten hatte sich gelohnt.
Augenblicke später teilte sich der Vorhang der mit kleinen, Blutstropfen gleichenden roten Blüten besetzten Hängeranken. Die Zweigfinger einer Dryade schoben sie zur Seite und gewährten Einblick in die Höhlung unter dem moosigen Fels, an dessen Kante die Ranken verwurzelt waren. Dort saß sie, womöglich eine Spur bleicher als gewöhnlich, gegen den dunklen Fels gelehnt und die Augen geschlossen. Schatten deuteten Falten an, die sonst nicht zu sehen waren. Und doch strahlte sie Herrschaft aus, ungebrochene Macht.
Macht, die trotz ihres verschwenderischen Einsatzes und der Widrigkeiten dieser Welt eher zu wachsen scheint als zu schrumpfen. – Oder vielleicht gerade deswegen?
Sie hob eine Hand und drehte den Kopf in Ainfars Richtung, um die Dryade anzusprechen. Ihre Lippen bewegten sich, und wieder hörte er den reinen Klang ihrer Stimme, ohne jedoch über dem Rauschen des nahen Brunnens den Wortlaut verstehen zu können.
Ich muss näher heran.
So, wie er war, in der Gestalt eines Elfen, würde er sich allerdings nicht verbergen können. Doch ihm standen andere Wege zur Verfügung.
Ainfar konzentrierte sich. Es war lange her, dass er das letzte Mal seine Gestalt gewechselt hatte. Niemand in der Zitadelle sollte diese Fähigkeit kennen, damit auch niemand Verdacht schöpfen konnte, wenn er begann, sie anzuwenden. Und es hatte sogar Zeiten gegeben, da er selbst sie vergessen hatte …
Er schüttelte die unangenehme Erinnerung – die Nicht-Erinnerung – ab und konzentrierte sich, in seinem Geist entstand das Bild von etwas, zu dem er werden wollte. Er spürte das Wesen, sein Fell, seine Krallen, jeden seiner Atemzüge und jeden seiner Herzschläge, und glich seine eigenen Takte daran an. Sein Atem wurde schnell und flach, sein Herzschlag beschleunigte sich, und die Härchen auf seiner Haut stellten sich auf.
Überall auf seinem Körper begannen die dunkelbraunen Linien einen sinnverwirrenden Tanz, weiteten und wanden sich und veränderten das Gewebe darunter zu etwas festerem. Immer weitere Härchen sprossen daraus hervor, schlossen sich zu einem dichten silbrigen Fell über dem dunklen Leder zusammen, während darunter der Körper des Elfen sich zusammenkrümmte und schrumpfte. Das durchgehende Braun seiner Augen wurde schwarz, und er kniff die Augenränder etwas zusammen, um einen Teil der Helligkeit auszuschließen, die plötzlich hineinfiel.
Eine Weile sah er seine Umgebung nur verschwommen, während sie sich reckte und streckte und in scheinbaren Dehnungen und Windungen um ihn herum in die Höhe wuchs. Dann wurde seine Wahrnehmung wieder klarer, als die Instinkte und Sichtweisen des Tiers in ihm die Oberhand gewannen, dessen Gestalt er angenommen hatte, ohne dabei sein eigenes klares Ich zu verdrängen.
Sein Kopf befand sich kaum mehr als eine Handspanne über dem Boden, und er hatte die Sicht auf die umrankte Felsnische verloren. Eine felsige Hügellandschaft voller bizarrer Bäume und Büsche schien nun zwischen ihm und seinem Ziel zu liegen. Ainfar richtete sich auf den Hinterbeinen auf, fuhr sich mit den kleinen schwarzen Händchen, die lediglich weiche Krallen hatten, über seine flache Stupsnase und schnüffelte. Gleichzeitig zuckten die mit flauschigen Büscheln bewachsenen dreieckigen Ohren herum, auf der Jagd nach jedem Laut, der ihm etwas über seine Umgebung verraten konnte.
Da. Ihr Lachen. Und ein süßer und trotzdem leichter Duft zog durch den Garten, ein Duft nach Futter und Wärme und Nähe. Hastig ließ er sich wieder auf die Vorderpfoten nieder und tauchte in den Dschungel aus großen Blättern und dicken Ranken ein, als der sich der Garten ihm nun darbot.
Eigentlich hätte es ihn nur wenige Augenblicke kosten dürfen, über die Felsen zu huschen, die ihn von der Höhlung unter dem Rankenvorhang trennten. Doch für ein Wesen wie das, zu dem er geworden war, erwies er sich schnell als gespickt mit versteckten Fallen.
Links über die Felsen … nicht den Steinblumen zu nahe kommen …
Schon neigten sich die hungrigen Kelche zu ihm herunter, Klebfäden zischten an ihm vorbei, die ihn binden und zu den sonnengelb schillernden Blüten ziehen sollten. Speicheltropfen rannen über die Kelchränder und ließen ahnen, was ihn dort erwarten würde. Und gleichzeitig ertönten helle klare Töne wie von Silberglöckchen, beruhigend und voller anziehender Schönheit …
Ainfar schüttelte den Kopf. Einen Moment hatte es tatsächlich Macht über ihn gewonnen, hatte ihn einen Sprung machen lassen, der ihn zu den Blumen hinführte. Seine Augen weiteten sich, und er warf sich mit einem erschrockenen Quietschen zur Seite. Dicht an seinem Ohr zischte ein weiterer Klebfaden vorbei, erwischte einige seiner langen Ohrhaare und zerrte daran. Mit einem erneuten Schreckenslaut warf er sich nach vorn, ohne auf den kurzen Schmerz zu achten, mit dem sich die Haare von ihren Wurzeln lösten. Es klang wie ein Peitschenknall, als der gespannte Klebfaden zurückschnalzte, ein Peitschenknall, der Ainfar weiter anspornte.
Zwei, drei Sprünge mehr, dann tauchte er in einen Wald aus langen schlanken Blättern ein. Er bemerkte seinen Fehler sofort. Schneidend scharf fuhren die Blattkanten über seine Haut, rissen sie auf und ließen Reihen kleiner blutiger Punkte entstehen, die das weiße Fell befleckten. Ainfar duckte sich tiefer, versuchte, so vielen der Blätter auszuweichen wie möglich, und hoffte, dass er die Staude bald hinter sich ließ. Die nächsten würde er umgehen, so viel war sicher.
Es wurde heller vor ihm, und er beschleunigte seine Sprünge, hechtete zwischen den letzten Blättern hinaus auf den blanken geschwärzten Felsen. Sofort kam er ins Rutschen. Verzweifelt versuchte er, mit seinen Krallen wieder Halt zu bekommen, während eine Felsstufe förmlich auf ihn zuzuschießen schien. Im letzten Moment zog er die Krallen ein und bremste seine Schlitterfahrt mit der bloßen ledrigen Haut seiner Pfoten und seines Bauchs. Mit dem letzten Schwung seiner Gleitfahrt rollte er herum, sodass nur sein Kugelkörper gegen die Stufe prallte.
Innerlich aufseufzend blieb Ainfar einen Moment liegen, ehe er sich wieder auseinanderrollte, sein Fell glatt strich und parallel zur Stufe den Fels hinauf rannte, bis diese niedrig genug war, um hinauf zu springen.
Die nächsten Stauden und Büsche umging Ainfar weiträumig mit hastigen Sprungtripplern und wäre dabei beinahe zu nah an ein weiteres Feld Steinblumen geraten, die sich schon förmlich die Lippen nach ihm zu lecken schienen und mit Macht ihren lockenden Gesang ausstrahlten. Irgendetwas zappelte in einem Kokon aus Fäden … ein anderes Tier, das weniger aufmerksam gewesen war als er, oder vielleicht sogar ein kleines Elfenwesen. Es war nicht ungewöhnlich, dass immer mal wieder Bewohner der Zitadelle verschwanden, und vielleicht gingen sie nicht alle auf das Konto des Getreuen, irgendwelcher Strafaktionen der Königin oder der internen Intrigen. Vielleicht wurden manche nur zu neuer Nahrung für die hungrigen Pflanzen der Gärten.
Schaudernd wechselte Ainfar den Kurs und hetzte eine andere Felsfläche hinauf. Er wollte auf den Überhang gelangen, unter dem die Höhlung war, in der sich die Königin mit ihrer Dienerin aufhielt. Vielleicht konnte er sich dort am Rand irgendwo in eine Nische drücken, die es ihm erlaubte, das darunter geführte Gespräch mitzuhören. Schon von hier aus konnte er sie sprechen hören, vereinzelte Worte nur, aber manche davon verstand er. Er beschleungite. Wer wusste schon, wie lange die Königin noch bleiben würde?
Den Fehler in seinem Plan entdeckte Ainfar in dem Moment, da er den Überhang entlang zu rennen begann. Er war überzogen von den silbrig schimmernden Wurzeln der Ranken, die den Vorhang bildeten. Und den Grund dafür, warum diese Ranken nirgendwo Anzeichen trugen, dass sie von Tieren angenagt worden wären, bemerkte Ainfar schnell.
Nichts in diesem Garten war von so reiner Schönheit, wie es wirkte.
Das Schimmern der Wurzeln rührte von unzähligen feinen Häkchen her, die die Oberflächen überzogen. Und diese wiederum bedeckten den gesamten Fels in einem feinen Geflecht. Ainfar hatte bereit drei lange Sätze in das Flechtwerk hinein hinter sich, ehe er bemerkte, was geschah.
Dort, wo seine Pfoten auf die Wurzeln aufsetzten, begann er, das Gefühl zu verlieren. Doch der Schwung trug ihn weiter, und es war ohnehin zu spät, um noch umzukehren. Gehetzt starrte er nach vorn, wo an der Felskante die Wurzeln in Ranken übergingen.
»Sag den Wachen, dass er zu mir zu bringen ist, sobald er wieder auftaucht«, hörte er leise die Stimme Bandorchus unter sich. »Umgehend.«
Eine Gestalt trat unter dem Fels hervor, eine schon unglaublich schlanke Frau mit einem Schlangenkopf. In wiegendem Gang entfernte sie sich in Richtung des Bogengangs, ohne den Kampf des kleinen pelzigen Wesens über sich zu bemerken.
Ainfar gab sein Letztes. Er dachte nicht mehr darüber nach, was er tat; er wusste nur, dass er nicht hierbleiben durfte. Unter ihm hatten die Wurzeln zu pulsieren begonnen, wogten erwartungsvoll unter ihrem nächsten Opfer, und er vermutete, dass die scheinbaren Blüten an den Ranken vielleicht doch eher das waren, wonach sie aussahen: Blutstropfen.
Die Kante kam näher, während die Betäubung sich weiter ausbreitete. Zugleich wurde ihm schwindlig – vermutlich ein Effekt des Giftes, das die Wurzeln absonderten. Ein leiser Winsellaut entwich aus dem schmalen Mund unter seiner schwarzen Stupsnase.
Nur noch drei Sprünge bis zur Kante, zwei … was auch immer geschehen würde, es konnte nicht schlimmer sein, als bei lebendigem Leib von einer Pflanze verdaut zu werden. Eins …
Er sprang, streckte die tauben Händchen aus und versuchte, die Ranken zu fassen zu bekommen, um den Sturz zu dämpfen. Doch alles verschwamm vor seinen Augen, und selbst als seine Fingerchen sich um etwas schlossen, konnte er sich nicht halten. Taumelnd stürzte er durch den Blätterfall abwärts, riss Stängel ab und verfing sich kurzzeitig in Ranken, nur um doch weiter zu fallen, wenn er gerade Hoffnung schöpfte. Schließlich durchfuhr ihn ein letzter dumpfer Schmerz, als er mit dem Rücken auf dem moosbewachsenen Felsboden aufschlug. Erneut stieß er einen Klagelaut aus und schloss dann die Augen.
Plötzlich fühlte er sich von dürren Zweigen gepackt und hochgehoben. In panischer Angst, dass nun auch die Ranken zum Leben erwacht sein könnten, riss Ainfar wieder die Augen auf und schlug mit seinen Pfoten wild um sich.
»Schhhht, Kleiner«, hörte er eine knarrende Stimme sagen. »Es ist doch gut … bist du aber ein süßes Felldings …« Die Finger legten ihn auf etwas ab, das sich anfühlte, als sei es mit furchiger Borke bedeckt. Und dann streichelten sie ihn am Bauch. Ainfar quiekte auf und rollte sich herum, um die empfindlichste Hautpartie seines Körpers zu schützen. Ein knorriges Lachen erklang, und nun strichen die Finger über sein Rückenfell.
Langsam wurde Ainfars Herzschlag ruhiger, und das klare Denken setzte wieder ein.
Ich sitze auf der Hand der Dryade, erkannte er. Sie hat mich gesehen und aufgehoben.
»Was hast du da, Melemida?«
Die Stimme Bandorchus, ganz dicht. Ainfar erstarrte, und sein kleiner Körper zitterte noch mehr.
»Nur ein flauschiges Silberhörnchen, Herrin. Es muss in die Ranken geraten sein, als es sein Arboratium verlassen hat. Dummes kleines Ding, warum bleibst du nicht da oben …« Sie streichelte weiter sacht Ainfars Rücken bis hinunter zu seinem Stummelschwänzchen, während sie sich ihrer Herrscherin zuwandte.
Kurz überkam Ainfar Panik. Die Königin … sie würde ihn sofort durchschauen! Eine Frau ihrer Macht konnte nicht so leicht getäuscht werden …
Andererseits beinhaltete nur der Vorgang der Verwandlung Magie. War er erst einmal ein Tier, haftete an ihm nicht mehr als jeder anderen Kreatur des Schattenlands. Vielleicht würde sie doch keinen Verdacht schöpfen. Nicht, solange sie keinen Anlass hatte, seine Gedanken zu erkunden.
Er spürte förmlich, wie der Blick der Königin über ihn glitt – kühl, forschend, unberührt von dem, was sie sah. Sie war mit ihren Gedanken beschäftigt, ihren Problemen.
»Der süße Kleine ist verletzt«, stellte Melemida fest. Ein Finger strich über seine Seite, wo die Blätter ihre Spuren hinterlassen hatten. »Ich möchte ihn behalten. Er ist so flauschig, ich mag gar nicht mehr aufhören, ihn zu streicheln.«
Ainfars Gedanken rasten. Die Zofe mochte ihn und wollte ihn bei sich behalten. Gab es eine bessere Möglichkeit, der Königin nahe zu sein?
Aber mein Fehlen wird bemerkt werden! Was, wenn nach mir gesucht wird? Was, wenn sich dann doch noch jemand hier daran erinnert, was für Fähigkeiten ich zu Hause in Earrach gezeigt habe?
Er schüttelte den Kopf und strich sich mit seinen geschundenen Händchen über die Nase, was der Dryade einen Laut des Entzückens entlockte.
Sie werden denken, ich sitze im Kerker oder bin zu den Spiegelhügeln geschickt worden. Niemand wird mich vermissen. Selbst Branid wird sich nicht mehr an mich erinnern. Und sollte es noch jemanden geben, der mich von Earrach her kennt, dann wird er besseres zu tun haben als in alten Erinnerungen zu kramen. Nein – dies hier ist das Beste, was mir passieren konnte.
»Wirklich ein süßes Kerlchen«, erklang Bandorchus Stimme. »Vielleicht ist er eine nette Abwechslung. Pflege ihn gesund, und vielleicht kannst du ihm ein paar Kunststückchen beibringen, die mich erfreuen.«
Blinzelnd sah Ainfar zu seiner Herrscherin, die als riesige weiße Äthergestalt über ihm aufragte. Sie sah auf ihn herunter, und die von Erschöpfung gezeichneten Züge wurden auf einmal weicher. Sie hob eine Hand, und die schlanken Finger näherten sich ihm.
Sie sieht mich an … sie mag mich …
Ainfar reckte seinen Rücken hoch, der Hand der Königin entgegen.
5.
Die Farbe der Nacht
»Zehn Tafeln Schokolade, fünf Pralinenmischungen, zwei Tüten Trüffelpralinen und zehn Tüten Chips – das macht zusammen 828 Kronen. Mir scheint, ihr bekommt Gäste!« Lächelnd sah die junge Kassiererin auf und pustete sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Rian erwiderte ihr Lächeln und schüttelte den Kopf, während sie ihre Handtasche öffnete. »Das ist nur für mich und meinen Bruder. Na ja, die Chips sind für ihn. Der Rest ist für mich.«
»Beneidenswert.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich würde bei solchen Naschereien aufgehen wie Hefeteig …« Mit den Händen deutete sie über ihrem weißen Arbeitskittel an, was sie meinte.
»Das Problem wird die junge Dame hier nicht haben«, sagte der weißhaarige ältere Mann, der hinter Rian an der Kasse des kleinen Dorf-Supermarktes wartete. Seine Stimme hatte erstaunlich wenig von der üblichen Brüchigkeit des Alters. »Siehst du nicht, dass sie eine Andersweltliche ist?«
»Lass mal, Mats.« Die Frau winkte lachend ab. »Nicht jede schöne Frau ist gleich von drüben!«
»Die hier ist es«, wiederholte der Mann im Brustton der Überzeugung, und sein Lächeln ließ seine blauen Augen hell in dem von gutmütigen Falten gezeichneten Gesicht aufstrahlen. »Warte nur, Linda, du lernst auch noch, die Zeichen zu erkennen.«
Die Kassiererin zwinkerte dem alten Mats zu und wies dann abwehrend auf das Schild über ihrer Kasse, als Rian ihr Geldscheine reichen wollte.
»Kortkassa, nur Karte! – Also, Mats, wenn ich dafür so alt werden muss wie du … dann soll es mir recht sein! Du musst mir gelegentlich einmal erklären, ob du da drüben auch einen Jungbrunnen kennst, so gut wie du dich hältst.«
»Der einzige Jungbrunnen, den ich brauche, sind frische Luft, Bewegung und meine Sauna.«
Rian zog eine goldene Kreditkarte aus ihrem paillettenbesetzten Portemonnaie. »Entschuldigung, ich bin noch nicht so sehr damit vertraut, dass man in Schweden kaum noch mit Bargeld zahlt.«
»Ja, oder mit dem Handy …«
»Das erinnert mich an etwas«, murmelte Rian. Darum hatte sie sich gleich nach der Rückkehr in die Menschenwelt kümmern wollen. Dann musste sie eben einen weiteren Laden aufsuchen, in dem es Prepaid-Handys gab, um hier nicht noch mehr als bereits geschehen aufzufallen.
Linda gab ihr die Karte zurück, nachdem Rian die PIN eingegeben hatte. »Bleibt ihr länger hier, du und dein Bruder?« Immerhin war das Du weiterhin gang und gäbe in Schweden.
»Nein, wir sind nur auf der Durchreise«, antwortete Rian, während sie eine der Pralinentüten öffnete und den obersten Nougattrüffel herausfischte. »Unser Boot liegt ein Stück den Fluss runter an einem Anlegesteg.«
»Falls ihr über Nacht bleibt, solltet ihr euch ein paar von Mats’ Geschichten anhören. Er sitzt jeden Abend unten im Röda Thor, und da gibt es die einzigen Gästezimmer im Dorf. Bist du heute Abend da, Mats?«
»Heute ganz bestimmt, insbesondere wenn dieser bezaubernde Gast bleiben sollte. Allerdings fürchte ich, dass keine meiner Geschichten sie sonderlich beeindrucken könnte, denn für sie sind sie nichts als das normale Leben.«
»Oh, ich höre gern Geschichten, egal worüber«, entgegnete Rian. Selbst die von Alberich. »Und ich denke, wir werden diese Nacht hierbleiben.«
»Prima.« Mats hielt Linda seine Zeitschrift zum scannen hin. »Dann freue ich mich auf heute Abend. Willkommen in Svanby!«
»… und als sie die Blumen an seinem Mantel gesehen hat, da hat die Frau aufgestampft und geschrien: ›Tibast und Vandelrot sind unsrer Liebe Tod!‹ – Dass sie immer nur in Reimen gesprochen hat, hätte Großvater ja schon früher misstrauisch machen müssen, aber ihr wisst ja, wie Männer sind, wenn sie eine schöne Frau sehen …«
Leises Lachen klang auf, vor allem von der weiblichen Zuhörerschaft. Mats grinste und fuhr mit seiner sonoren Stimme fort: »Jedenfalls hat sie sich von ihm weggedreht, und da hat er sie zum ersten Mal von hinten gesehen – ja, damals ist man beim Liebesspiel noch nicht so vielseitig gewesen wie heute, die kannten noch kein Kamasutra! –, und da war sie doch tatsächlich hohl wie eine Backform! Wenn ihr so was von euren Frauen behaupten würdet, dann würden sie euch die Rüben einhauen, und mit Recht, aber bei dieser hier, da war es wahr wie die Tagesnachrichten, denn sie war in Wirklichkeit eine Skogsra. Da war ihr Geheimnis gelüftet, und vom Geruch der Blumen vertrieben hat sie sich dann, puff, in Luft aufgelöst.« Der Erzähler unterstrich die Wortmalerei mit einer Geste.
»Jetzt war es also vorbei mit den lustigen Nächten. Aber Großvater war’s grad recht, denn wie es ihm ergangen war, das wissen nur die von euch, die von ihren Frauen gezwungen werden, jeden Abend Viagra zu nehmen. Aber so was braucht ja keiner von euch, oder?«
Mats zwinkerte, und Gelächter und Beifall brandeten auf. Rian klatschte ebenfalls und sie lächelte dem alten Mann zu, der auf so amüsante Art Geschichten erzählte, die Rian durchaus wahrscheinlich vorkamen, den anderen hier aber als reine Erfindungen erschienen. Sie prägte sich die Namen der Wesen ein, die er nannte – die Skogsra aus dem Wald, die Sjöra der Flüsse, und natürlich die allgegenwärtigen Trolle, die in diesen Geschichten in allen Größen, Formen und Gesinnungen vorzukommen schienen. Die Wesen des Nordens waren allgemein scheuer als die anderer Regionen, und so hatte Rian kaum einmal jemanden von dort zu Gesicht bekommen, und früher hatte sie auch keine Veranlassung gesehen, sich allzu genau über sie zu informieren. Meist reichte es zu fragen, wenn man das Wissen brauchte – so wie jetzt.
Rian sah sich um, während sie darauf wartete, dass sich der Kreis auflöste, der sich um Mats’ bequemen Sessel am Kamin gebildet hatte. Die Holzverklinkerung der Außenfront des Röda Thor war zwar vor kurzem neu in kräftigem bordeauxrot mit weiß abgesetzten Fensterrahmen gestrichen worden, und sein Inneres war durchaus an modernere Zeiten angepasst, doch zugleich hatte es sich den Charakter bewahrt, den es vermutlich schon vor hundert Jahren und länger aufgewiesen hatte.
Zwischen dem hellen Holz der Trägerbalken waren Wände und Decke weiß gestrichen, wodurch das gedämpfte Licht der klassischen Kandelaber reflektiert und der Raum angenehm hell wurde. Hier und da, vor allem in der Nähe des Kamins, wies die Decke Rußflecken auf, denn der Kamin fand heute noch Anwendung, ein fröhliches Feuer flackerte in ihm.
Neben dem Kaminabzug hatte irgendwann jemand mit roter Farbe in groben Strichen einen markanten Wikinger an die Wand gemalt, der bedrohlich einen großen Hammer schwang. Mats saß genau unter diesem Bild, und sein schmaler, vom Alter gezeichneter Körper mit den lustig blitzenden Augen bildete eine krassen Gegensatz zu dem martialischen Kämpfer an der Wand. Er hatte eine fleckige Lederweste über sein kariertes Hemd und die Jeans gezogen, die er schon am Tag getragen hatte. Während seiner Erzählung war seine Hand gelegentlich über die ausgebeulte Westentasche geglitten, und Rian fragte sich, was darin war.