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Nicht nur symbolisch steht dafür die von Donald Trump geplante, letztlich aber nur partiell realisierte Grenzmauer an der Grenze zu Mexiko. Generell zur fortbestehenden Bedeutung und Funktion von Grenzen in der Globalisierung S. Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, 2021.
177
Z. Baumann, Retrotopia, S. 9.
178
Ich glaube allerdings nicht, dass dies der richtige Weg ist. Siehe dazu unten bei Frage X.
179
Vgl. Q. Skinner, Thomas Hobbes und die Person des Staates, S. 13.
180
E. Eppler, Auslaufmodell Staat?, S. 230.
181
S. Mau, Sortiermaschinen, S. 15 ff.
182
Dazu auch G. Orwell, Über Nationalismus, 2020.
183
Die Wiederbelebung des modernen Staates muss mithin nicht mit nationaler Abschottung einhergehen, sondern kann in einer kosmopolitisch-progressiven Form vollzogen werden, vgl. auch die Analyse von D. della Porta, Progressive und regressive Politik im späten Neoliberalismus, in: H. Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression, S. 57 ff.
184
Siehe auch J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 584 sowie P. Alter, Nationalismus, S. 96 ff.
185
Vgl. auch P. Alter, Nationalismus, S. 10 f., der freilich auch auf mit dem Nationalismus verknüpfte Hoffnungen verweist.
186
Y. Mounk, Der Zerfall der Demokratie, S. 240 ff. Ähnlich T. Dorn in ihrem Buch „Deutsch, nicht Dumpf“, S. 175: „Warum erkennen wir nicht an, dass der liberal verfasste, kulturell nicht beliebige, aber dennoch heterogene Nationalstaat – einstweilen zumindest – das beste Gehäuse für unser gemeinschaftlich-gesellschaftliches Leben darstellt, weil er einerseits unsere Bedürfnisse nach einer Wir-Identifikation befriedigen kann, uns andererseits Offenheit und Toleranz und Rechtsstaatlichkeit lehrt?“
187
A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 285 ff. Siehe auch bei Frage X. Kritisch zu diesem Konzept A. Assmann, Die Wiedererfindung der Nation, S. 34 ff.
188
H. Dreier, Staat ohne Gott, 2018.
189
Vgl. P. C. Schmitter, The European Community as an Emergent and Novel Form of Political Domination, Estudio/Working Paper 1991/26, S. 12 ff. bezogen auf die damalige Europäische Gemeinschaft.
190
R. Hirschl/A. Shachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), 387 (389).
191
F. Fukuyama, The End of History?, The National Interest, Summer 1989 sowie ausführlich ders., The End of History and the Last Man, 1992. Siehe zum möglichen „Ende des Endes der Geschichte“ auch A. Gat, The Return of Authoritarian Great Powers, Foreign Affairs 2007, 59 ff. sowie S. Salzborn, Kampf der Ideen, S. 143.
192
Siehe etwa die Feststellung von W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 535 aus dem Jahr 1999: „Der moderne Staat, der sich in vielen hundert Jahren in Europa entwickelt und durch europäische Expansion über die Welt verbreitet hat, existiert nicht mehr.“
193
Im Wesentlichen nicht eingetreten sind insofern auch die Prognosen von M. v. Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, S. 459 ff.
194
Vgl. J.-W. Müller, Furcht und Freiheit, S. 22 ff., insbesondere S. 24: „Unabhängig davon bleibt festzuhalten, dass selbsterklärte liberale Intellektuelle sich ihrer Sache längst nicht so sicher waren, wie es die klischeehafte Erzählung vom totalen Triumphalismus will.“
195
Vgl. A. Benz, Der moderne Staat, S. 266 ff. Siehe auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 287.
196
G. F. Schuppert, Staat als Prozess, 2010. Siehe auch T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 43.
197
Siehe auch die Forderung bei R. Hirschl/A. Shachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), 387 (437).
198
Siehe Frage IX.
199
Siehe Frage VII.
200
Dazu A. Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, 2021 und umfassend L. Münkler, Expertokratie, 2020.
201
Vgl. auch G. Frankenberg, Staatstechnik, S. 69: „Staatstheorie, will sie auf der Höhe der Zeit bleiben, hat sich also den Herausforderungen der Demokratisierung, Europäisierung, Transnationalisierung, Pluralisierung und Konstitutionalisierung zu stellen.“ Siehe auch M. Payandeh, Allgemeine Staatslehre, in: J. Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, § 4, Rn. 30.
202
Vgl. auch Q. Skinner, Thomas Hobbes und die Person des Staates, S. 13: „Es ist offensichtlich, oder sollte es doch sein, dass die politische Theorie sich mit dem Staat befassen und nach der Rolle staatlicher Macht fragen muss.“ Nach hier vertretener Ansicht sollte eine Überwindung des modernen Staates aber auch normativ nicht angestrebt werden, vgl. A. Thiele, Der gefräßige Leviathan, S. 280 ff.
203
Vgl. auch R. Hirschl/A. Shachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), 387 ff.
204
A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3).
205
H. Flassbeck/P. Steinhardt, Gescheiterte Globalisierung, S. 89 f.
206
A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3). Auch Rudolf Smends Integrationslehre bleibt aktuell.
|33|II. Fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an
einer adäquaten Methode?
Der zweite Einwand erscheint gravierender. Danach fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an einer adäquaten Methode, mit der es gelingen könnte, die verschiedenen Teildisziplinen zu einer „eigenen neuen wissenschaftlichen Form“ zu verdichten, „die den Gegenstand Staat als Ganzes erfassen kann“:[207] „Die an juristischen Fakultäten verankerte Staatslehre zelebriert die Form des Staates ohne zu bemerken, dass ihr sowohl die Theorie der Form wie die Empirie des Staates abhanden gekommen ist.“[208] Unter Berufung auf Niklas Luhmann[209] bezweifelt auch Christoph Möllers das interdisziplinäre Vorhaben der Allgemeinen Staatslehre, da „wissenschaftliche Disziplinen weniger um einen bestimmten Gegenstand herum entstehen als vielmehr entlang einer bestimmten Fragestellung“.[210] Das Interesse an einem gemeinsamen Gegenstand – hier dem Staat – begründe für sich noch keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen. Speziell für die Jurisprudenz komme nach Möllers hinzu, dass diese als dogmatische Normwissenschaft den Raum für die Aufnahme interdisziplinärer Beziehungen noch weiter einschränke.[211] Die formulierten Einwände sind nicht neu – schon Hermann Hellers Staatslehre enthielt als Reaktion auf die Kritik Hans Kelsens einen langen Abschnitt zur Methodenfrage,[212] ebenso diejenige Georg Jellineks.[213] Sie wiegen gleichwohl schwer, treffen eine Allgemeine Staatslehre mit ihrem ausdrücklich interdisziplinären Ansatz sozusagen ins Mark und werden auch von renommierten Vertretern des Fachs wie Reinhard Zippelius – schon aufgrund der zunehmenden Ausdifferenzierung des öffentlichen Rechts und der sozialwissenschaftlichen |34|Nachbardisziplinen – nicht in Abrede gestellt.[214] Ihnen zu begegnen fällt nicht ganz leicht. Nach hier vertretener Ansicht stehen sie gleichwohl dem „bewusst unzureichenden Versuch“ einer Allgemeinen Staatslehre als Experimentierfeld nicht im Wege.
Zunächst sind gewisse Zweifel angebracht, ob die Jurisprudenz tatsächlich so ungeeignet für den interdisziplinären Diskurs ist. Ist es wirklich so, dass, wie Christoph Möllers meint, „nicht klar ist, was Juristen zu einer nichtjuristischen Annäherung [an den Staat, A. T.] beitragen sollten“? Diesen Einwand wird man mit Jörn Lüdemann als überzogen zurückweisen können. Die Rechtswissenschaft hat im interdisziplinären Gespräch durchaus etwas anzubieten: „Denn das Recht ist nicht allein ein wohlgeordnetes Normensystem, sondern zugleich eine wahre Fundgrube geronnener Erfahrung. Es wäre geradezu leichtsinnig, diesen kollektiven Erfahrungsschatz durch sozialwissenschaftliche Forschung schlicht substituieren zu wollen.“[215] Fragte man bei Vertretern anderer Disziplinen nach, dürfte ein entsprechender Mehrwert auch kaum geleugnet werden.[216] Ein jüngeres Beispiel für eine solche gegenseitige Befruchtung ist die Dissertation der Politikwissenschaftlerin Verena Frick.[217] Aber auch die Debatte um die Zulässigkeit des „Nudging“[218] und den „libertären Paternalismus“ verläuft im juristisch-sozialwissenschaftlichen Dialog und prominente „Ethikräte“ sind mit Vertretern unterschiedlicher Disziplinen besetzt, zu denen auch JuristInnen gehören. In den beiden letzten Fällen sind es Debatten um das Verständnis der Menschenwürde, das die verschiedenen Disziplinen zusammenführt, aber auch beim Umgang mit der Coronapandemie zeigte sich das Potenzial interdisziplinärer Kooperation. Und wie verhält es sich eigentlich mit der „ökonomischen Analyse des |35|Rechts“?[219]
Gewichtiger ist die Behauptung der generellen „Unmöglichkeit von Interdisziplinarität“ mangels konsentierter Methode und nicht zu bewältigender Stoffmenge bei der Betrachtung des „ganzen Staates“. Wissenschaftstheoretisch wird man diese – auch wenn es anregende methodische Ansätze gibt[220] – kaum oder nur sehr schwer widerlegen können; die nicht zu vermeidenden Zufälligkeiten bei der Konzeption der Allgemeinen Staatslehre sind erwähnt worden. Bezogen auf das Verhältnis von Geschichts- und Rechtswissenschaft hat Sebastian Schwab unlängst festgestellt: „Nun war und ist es aber nicht so, dass das Recht nicht mehr auf Historizität Bezug nimmt. Es stillt seinen Bedarf nur anders – und zwar, in den meisten Fällen, dilettantisch.“[221] Die Frage ist aber, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Streng genommen müsste die Konsequenz lauten, jede Form der (scheinbar) interdisziplinären Wissenschaft von vornherein schlicht sein zu lassen. Nachfragen bei anderen Disziplinen blieben danach möglich, aber allein um, wie Möllers es formuliert, „wissenschaftliche Disziplinen aus der eigenen Stagnation zu befreien“.[222] Soll das wirklich die Lösung sein? Das erscheint aus zwei Gründen fragwürdig.
Zum einen schließt der Einwand von der (vermeintlichen) theoretischen Unmöglichkeit auf die praktische Sinnlosigkeit des Vorhabens. Weil es theoretisch nicht gelingt, umfassend rationale interdisziplinäre Erkenntnismethoden zu konstruieren, wird der Allgemeinen Staatslehre von vornherein jeder wissenschaftlich-brauchbare Erkenntnisgewinn abgesprochen: Das große umfassende Buch über den Staat sei eben nicht zu machen. Allgemeine Staatslehre lässt sich freilich nicht nur vom Ergebnis her denken, sondern auch als „ein Unternehmen verstehen, das wissenschaftliche Neuerungen aus überraschenden Verknüpfungen von normalerweise als getrennt angesehenen Disziplinen gewinnt.“[223] Solche Neuerungen sind weder von vornherein ausgeschlossen, noch notwendig völlig unbrauchbar für die Einzeldisziplinen, können vielmehr über ihre bloße „Destagnation“ hinausgehen. Thomas Vesting verweist etwa auf die von Hans-Jörg Rheinberger entwickelte Idee der „Experimentalkultur“. Diese ist zwar vor allem für die Laborwissenschaften erdacht worden, lässt sich aber auch für die Allgemeine Staatslehre fruchtbar machen. „Experimentalkulturen sind bewegliche Forschungsfelder, die ständig |36|dazu tendieren, die Konturen und Grenzen etablierter Fächer mit ihren Ausbildungsnormen, Lehrplänen und institutionell verankerten und verfestigten Kommunikationsstrukturen zu verschieben, sie zu verwischen, aufzulösen und umzuschreiben. Experimentalkulturen, nicht Disziplinen, legen fest, wie weit zu einem bestimmten Zeitpunkt die materiell vermittelte wissenschaftliche Kooperation, die wissenschaftliche Konkurrenz und der Spielraum epistemischer Verhandlungen reichen.“[224] Es mag daher in manchen Fällen (mit Möllers) so sein, dass das Interesse an einem gemeinsamen Gegenstand keine interdisziplinären Erkenntnisinteressen begründet. Ob sich das am Ende aber auch praktisch und stets bewahrheitet, lässt sich nicht vorhersagen, weil sich die gemeinsamen Erkenntnisinteressen vielleicht erst im interdisziplinären Gespräch ergeben. In den Naturwissenschaften, aber auch in der Mathematik würde man das kaum bezweifeln. Die Ausdifferenzierung der Rechts- und Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert macht die Angelegenheit gewiss nicht leichter. Eventuell kann sich die Allgemeine Staatslehre aber auch als eine Art Gegenbewegung präsentieren, die in all dem wissenschaftlichen „Klein-Klein“ und der damit einhergehenden „Wiederverrätselung der Welt“[225] versucht, das „große Ganze“ nicht aus dem Blick zu verlieren und allzu differenzierte und kleinteilige Wissenschaftsdisziplinen[226] wieder (partiell) zusammen zu führen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen[227] oder Erkenntnislücken überhaupt sichtbar zu machen. Ähnlich stellen Ran Hirschl und Jan Mertens hinsichtlich der „künstlichen“ Trennung von Verfassungsrechts- und Politikwissenschaft fest: „Eine Aufrechterhaltung der Trennung dieser Bereiche, die sich mit den verschiedenen Aspekten derselben konstitutionellen Phänomene befassen, begrenzt künstlich und unnötig unseren intellektuellen Horizont. Sie begrenzt die Art von Fragen, die wir stellen, und die Vielfalt der Antworten, die wir geben |37|können.“[228] Und später: „Eine Abgrenzung von Disziplinen trägt generell nicht zu einem Verständnis des Gesamtgeschehens unserer Zeit bei.“[229] Tatsächlich klingt auch Möllers in späteren Arbeiten optimistischer, zumindest aber gnädiger im Hinblick auf den Versuch einer Allgemeinen Staatslehre.[230] Forschungsprojekte würden neuerdings doch immer häufiger interdisziplinär und um einen konkreten Gegenstand herum konstruiert, ohne dass sich die Akteure von theoretischen Methodenfragen von vornherein abschrecken ließen. Möllers selbst nennt die Kulturwissenschaften, die Gender-Studies oder die Holocaust-Forschung.[231] Heute würde man noch die Digitalisierung oder – etwas spezieller – das autonome Fahren[232] aber auch den Klimaschutz erwähnen können. Unlängst ist zudem der erste von Anselm Doering-Manteuffel, Bernd Greiner und Oliver Lepsius herausgegebene Band des Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte erschienen, der sich aus unterschiedlichen Disziplinen dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts widmet.[233] Dass dieser Band keine interessanten und neuartigen Ergebnisse geliefert hätte, wird man nicht sagen können, wenngleich der Mehrwert für die einzelnen Disziplinen nicht immer umgehend erkennbar sein mag. Aber sollte „der Staat“ wirklich von vornherein kein tauglicher gemeinsamer Gegenstand in diesem Sinne sein können? Es spricht damit auch eine Art wissenschaftliche Doppelhypothese für den „bewusst unzureichenden Versuch“ einer Allgemeinen Staatslehre: Für die Wissenschaft wäre es danach schlimmer, wenn bedeutende Erkenntnisse ausblieben, weil man von vornherein von einer interdisziplinären Allgemeinen Staatslehre absähe, als wenn eine versuchte Allgemeine Staatslehre nichts oder wenig Erhellendes hervorbringen würde. Ein solcher Versuch wäre in dieser Interpretation keine |38|antiquierte und obsolete Idee als vielmehr Ausdruck eines wiederentdeckten und „modernen“ Wissenschaftsverständnisses[234] und damit „das Gebot der Stunde.“[235] So gesehen wären es die Kritiker selbst, die sich wissenschaftlicher Modernität mit ihrem Beharren auf Methodenreinheit verweigerten.
Zum anderen erscheint dieser allgemein-methodische Einwand deshalb fragwürdig, weil er die Allgemeine Staatslehre zwar besonders hart trifft, letztlich aber nicht weniger für das gesamte Öffentliche Recht gelten dürfte. Auch hier fehlt es an einer allgemein gültigen Rezeptionstheorie für die Integration außerjuridischer Erkenntnisse in die rechtswissenschaftliche Dogmatik (auch wenn es immer wieder gehaltvolle Vorschläge in dieser Hinsicht gegeben hat).[236] Muss die Jurisprudenz, muss das gesamte Öffentliche Recht auf Erkenntnisse der Nachbardisziplinen verzichten, wenn es sich nicht dem Vorwurf der Methodenunreinheit ausgesetzt sehen will? Sind Hans Kelsens „Reine Rechtslehre“ und sein spezifischer Staatsbegriff der einzig gangbare Weg? Wäre ein solcher Verzicht – gerade im Verfassungsrecht – überhaupt denkbar?[237] Dieser alte Grundsatzstreit „um die Bedeutung philosophischer, historischer, ökonomischer und soziologischer Erkenntnisse für die dogmatische Jurisprudenz“,[238] wird heute kaum noch offen, geschweige denn mit solch emotionaler Kraft geführt, wie das zu Weimarer Zeiten der Fall war.[239] Er hat sich aber nicht erledigt, das zugrunde liegende Problem harrt der Lösung, was sich gerade an den Vorwürfen zeigt, denen sich die Allgemeine Staatslehre ausgesetzt sieht. Bemerkenswert ist insofern weniger der Umstand, dass der Versuch einer Allgemeinen Staatslehre methodisch kritisiert wird – angesichts ihres ausdrücklich interdisziplinären Ansatzes wäre alles andere überraschend –, als vielmehr, dass entsprechende Vorwürfe gegenüber dem sonstigen Öffentlichen Recht in der Regel nur deshalb ausbleiben, weil die Rezeption extrajuridischer Erkenntnisse nicht offengelegt wird, allein implizit und damit zugleich mehr oder weniger willkürlich erfolgt. Immer wieder fließen Erkenntnisse anderer Disziplinen in die scheinbar „reine“ Jurisprudenz ein und müssen dies wohl auch: Wie sollte man zu angemessenen |39|Ergebnissen bei der Auslegung der Schuldenbremse kommen, ohne ökonomische Erkenntnisse (wie auch immer) zu berücksichtigen? Ist eine Definition des Begriffs Preisstabilität (Art. 127 AEUV)[240] sinnvoll möglich, ohne die ökonomische Situation der Eurozone zu beachten? Wie soll der Stand der Technik im Umweltrecht bestimmt werden, ohne die Ingenieur- und Naturwissenschaften zu befragen? Wenn das Recht die gesellschaftliche Realität regeln soll, muss es diese dann nicht auch in irgendeiner Form zur Kenntnis nehmen? Mit ihrem explizit auf Rezeption und Zusammenführung angelegten Ansatz kann eine Allgemeine Staatslehre einen Beitrag leisten, diese methodische Herausforderung wieder auf die Tagesordnung zu setzen, sie transparenter zu machen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten, wie ihr begegnet werden könnte. Solange das Öffentliche Recht aber mit dieser offenen methodischen Flanke (aus welchen Gründen auch immer) weiterhin leben kann, kann es die Allgemeine Staatslehre auch.[241]
Fußnoten
207
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419. Siehe auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (353).
208
H. Willke, Ironie des Staates, S. 7. Siehe dazu auch A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2).
209
N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 457 f.
210
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419. Noch schärfer formuliert er später in „Der vermisste Leviathan“, S. 113: „Juristische Staatstheorie können wir uns heute weniger denn je als das große Buch denken, dass alles Wissen über ‚den Staat‘ zusammenbringt. Der Traum von einem solchen Buch verfolgt die Rechtswissenschaft zwar bis in die Gegenwart, doch war er schon zu Zeiten Georg Jellineks zu Beginn des 20. Jahrhunderts methodisch ausgeträumt.“
211
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
212
H. Heller, Staatslehre, 2. Auflage, S. 30 ff.
213
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 25: „Wer heute an die Untersuchung sozialer Grundprobleme geht, dem tritt sogleich der Mangel einer in die Tiefe dringenden Methodenlehre fühlbar entgegen.“
214
Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 1: „Eine Staatslehre passt nicht über den Leisten der ‚Methodeneinheit und Methodenreinheit‘.“
215
J. Lüdemann, Netzwerke, Öffentliches Recht und Rezeptionstheorie, in: S. Boysen u.a. (Hrsg.), Netzwerke, S. 266 (274).
216
Siehe zuletzt ausdrücklich R. Hirschl/J. Mertens, Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105 ff.
217
V. Frick, Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand. Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, 2018.
218
Ausgelöst durch R. Thaler/C. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness, 2008. Dazu R. Neumann, Libertärer Paternalismus. Theorie und Empirie staatlicher Entscheidungsarchitektur, 2013; S. Gerg, Nudging: Verfassungsrechtliche Maßstäbe für das hoheitliche Einwirken auf die innere Autonomie des Bürgers, 2019; A. Kemmerer/C. Möllers/M. Steinbeis/G. Wagner (Hrsg.), Choice Architecture in Democracies: exploring the legitimacy of nudging, 2016; N. S. Kronenberger, Nudging als Steuerungsinstrument des Rechts, 2019; F. S. Kunzendorf, Gelenkter Wille, 2021.
219
Dazu etwa H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip: Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, 4. Auflage 2015; A. v. Aaken/A. Steinbach, Ökonomische Analyse des Völker- und Europarechts, 2019.
220
Siehe insbesondere R. Hirschl, Comparative Matters: The Renaissance of Comparative Constitutional Law, 2014 sowie (knapp) R. Hirschl/J. Mertens, Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 115 (115 f.).
221
S. Schwab, Historische Ambiguität und Recht, JZ 2021, 500 (508).
222
C. Möllers, Staat als Argument, S. 419.
223
T. Vesting, Staatstheorie, Rn. 38.
224
H.-J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 173.
225
A. Bogner, Die Epistemisierung des Politischen, S. 100.
226
Auch innerhalb der deutschen (bzw. kontinentalen) Rechtswissenschaft stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit sich die strikte Trennung zwischen dem Öffentlichen Recht und dem Privatrecht noch als sinnvoll erweist – gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Europäisierung des Rechts. Zumindest scheint die bisweilen eher zufällige und allein historisch zu begründende Aufteilung der Rechtsmaterien auf die beiden Teilgebiete nicht immer zu völlig befriedigenden Ergebnissen zu führen. Eine Kooperation von WissenschaftlerInnen der beiden Gebiete (etwa durch gemeinsame Forschungsprojekte) wäre zweifellos gewinnbringend. Siehe dazu zuletzt U. J. Schröder, Das Verhältnis von öffentlichem Recht und Privatrecht, DVBl. 2019, 1097 ff.; M. Seckelmann, Kategoriale Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem Recht?, DVBl. 2019, 1107 ff.; F. Becker, Öffentliches und Privates Recht, NVwZ 2019, 1385 ff. sowie A. Jakab/L. Kirchmair, Die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht als genetischer Fehler in der DNA kontinentaler Rechtsordnungen, Der Staat 58 (2019), 345 ff.
227
Siehe auch S. Breuer, Der Staat, 1998, S. 11 f.
228
R. Hirschl/J. Mertens, Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105 (106). Für eine stärkere interdisziplinäre Verknüpfung der Rechts- und der Sozialwissenschaft zuvor schon R. Hirschl, Verfassungsrecht und vergleichende Politikwissenschaft – an den Grenzen der Disziplinen, in: M. Hein/F. Petersen/S. v. Steinsdorff (Hrsg.), Die Grenzen der Verfassung, S. 15 ff.