Der Palast des Poseidon

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»Vermutlich, weil ich der Beste in meinem Fach bin.« Oskar lehnte sich zurück. »Eigentlich heißt er gar nicht Humboldt. Sein richtiger Name ist Donhauser. Er behauptet, der uneheliche Sohn des großen Naturforschers Alexander von Humboldt zu sein, aber ich glaube, es ist mehr so ein Künstlername. Ich mache Besorgungen für ihn, berate ihn und helfe ihm in der Werkstatt. Seine rechte Hand, wenn ihr so wollt. Er wüsste gar nicht, was er ohne mich täte.« Das war natürlich etwas übertrieben. Genau genommen war er nur ein einfacher Dienstbote, aber das musste er seinen Kumpels ja nicht unbedingt auf die Nase binden.
»Und warum gerade du?«, hakte Lena nach.
Oskar zuckte die Schultern. »Wenn ich das wüsste. Ich hab ihn bestohlen und er fand, dass ich meine Sache wohl recht gut gemacht habe. Ich werde aber irgendwie den Verdacht nicht los, dass noch mehr dahinterstecken könnte.«
»Zum Bespiel?«
Oskar zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Immer wenn ich das Gespräch darauf lenke, grinst er so komisch und gibt ausweichende Antworten. Aber egal. Wer stellt schon Fragen, wenn er zu einer Weltreise eingeladen wird?«
»Mensch, kiek mal!«, rief Bert und tippte mit seinen dicken Wurstfingern aufs Papier. »Auf dem Bild is’ ja unser Oskar!«
Rechts neben dem Artikel war ein Foto zu sehen, auf dem die vier Abenteurer abgelichtet waren. Humboldt, ganz in Schwarz gekleidet, mit Zylinder und Spazierstock, Eliza, die Haushälterin, mit ihrer dunklen Haut und ihrem bunt bestickten Wickelkleid, Charlotte, seine Nichte, mit ihren langen blonden Haaren und einem zarten hellblauen Kleid und natürlich Oskar, der aussah wie immer: Tweedjacke, Lederschuhe und Filzmütze.
»Mann, Mann, du wirst noch ’ne richtige Berühmtheit«, sagte Maus. »So ’n richtig feiner Pinkel. Wer weiß, ob du uns in ein paar Jahren überhaupt noch kennst.«
»Natürlich werde ich euch noch kennen«, lachte Oskar. »Darauf gebe ich euch mein Wort. Und jetzt lasst uns was trinken. Die Runde geht auf mich.«
Nachdem er für alle bestellt hatte, verschränkte Oskar die Arme hinter dem Kopf und begann, von seiner Reise nach Peru zu erzählen. Er war der Mittelpunkt des Abends und er genoss jeden Augenblick. Einen großen Humpen mit Apfelmost und eine Schale Brotscheiben vor sich stehend, dauerte es eine ganze Weile, bis er zum Ende gekommen war. Am Schluss blickten ihn alle aus großen Augen an.
Willi war der Erste, der seine Stimme wiederfand. »Verrückte Geschichte«, sagte er. »Nachfahren der Inka, die in einer Felswand leben und Krieg gegen Rieseninsekten führen. Hätte ich den Bericht nicht gesehen, ich hätte geglaubt, du wolltest uns verkohlen.«
»Trotzdem hättest du mal ’ne Karte schreiben können!«, maulte Lena. »Dass du dich nich’ gemeldet hast, war echt kein feiner Zug von dir.« Sie zog einen Schmollmund.
»Ich weiß«, gab Oskar zu. »Hätte ich gewusst, dass ihr euch so viel Sorgen macht, hätte ich vor meiner Abreise noch eine Nachricht losgeschickt. Aber es ging alles so schnell. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Aber jetzt bin ich wieder da und es wird nicht wieder vorkommen, versprochen.«
»Klingt wie das verdammte Paradies.« Willis Blick war voller Bewunderung. »Wenn du mal keine Lust mehr hast, bei der Type zu arbeiten, sag Bescheid, dann werde ich mich bewerben.«
»Keine Chance«, sagte Oskar. »So wie du riechst, würdest du es nicht mal durch die Haustür schaffen.«
»Und wenn ich vorher bade?«
»Den Gestank bekommt man nicht mal mit Kernseife weg. Der ist schon wie eine zweite Haut.«
Gelächter brandete auf. Willi kannte Oskars derben Humor und war ihm nicht böse deswegen.
»Diese Charlotte ist ziemlich hübsch, finde ich.« Lena blickte ihn aus haselnussfarbenen Augen aufmerksam an.
»Findest du?«
»Du etwa nicht?«
»Na ja, schon …« Oskar zögerte. Wie immer, wenn er an die Nichte des Forschers dachte, begann sein Herz zu klopfen. Charlotte war nicht unbedingt eine Schönheit, aber es war etwas an ihr, das ihn unwiderstehlich anzog.
»Sie kann allerdings auch ziemlich anstrengend sein«, sagte er. »Muss immer bei allem das letzte Wort haben. Tagaus, tagein liest sie nichts anderes als Fachbücher, genau wie ihr Onkel. Nicht unbedingt jemand, mit dem man sich über Abenteuergeschichten unterhalten könnte, wenn ihr wisst, was ich meine. Nicht so, wie mit euch.«
»Und diese Eliza?«, fragte Bert. »Was ist das für eine? Sieht irgendwie komisch aus. Diese dunkle Haut …«
»He, kein falsches Wort über Eliza!«, rief Oskar. »Die ist schwer in Ordnung. Eine haitianische Zauberin, die dich mit einem Fingerschnippen in eine Kröte verwandeln könnte. Also sei lieber vorsichtig, was du sagst.« Er blickte finster in die Runde. Dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen. »Buh!«
Die anderen lachten erleichtert auf. Wenn es um schwarze Magie ging, waren sie alle recht abergläubisch.
Oskar hob die Hand und bestellte eine neue Runde. Er hatte von Humboldt ein paar Mark bekommen und beschloss, den Abend so richtig zu genießen.
Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel, wie die Menge sich teilte und eine Gruppe von Leuten auf sie zukam. Allen voran der Schwarze Fährmann. Hohnlächelnd trat er näher. Hinter ihm erschien jemand, auf dessen Anblick Oskar heute Abend gerne verzichtet hätte. Es war zu erwarten gewesen, dass er noch aufkreuzen würde, er hätte nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.
2
Der Mann war etwa eins sechzig groß und erinnerte Oskar an einen Gorilla. Sein blauer Anzug war an den Armen zu kurz, seine Hose war umgenäht und seine Schuhe ausgetreten. Eine Schicht schwarzer Stoppelhaare überzog seinen Kopf, was sein breites Gesicht noch primitiver aussehen ließ. Über seiner platten Nase, die an seine Vergangenheit als Preisboxer erinnerte, leuchteten zwei kalte graue Augen.
»Behringer.«
»Schön, dass du mich noch kennst.« Der Geldverleiher grinste schmierig, dann packte er Maus und hob ihn von seinem Stuhl. »Verschwinde!«, knurrte er. »Und ihr anderen, macht, dass ihr wegkommt. Ich will euch hier nicht mehr sehen. Ich habe etwas mit meinem Freund Oskar zu bereden.«
»Wir auch!«, fauchte Lena und blickte ihn herausfordernd an. Behringer fackelte nicht lange und gab ihrem Stuhl einen so heftigen Tritt, dass er seitlich umkippte. Fluchend rappelte Lena sich auf, bereit, auf den Geldverleiher loszugehen. Auf einmal blitzten überall Springmesser auf. Behringer hob die Hände. »Nur die Ruhe«, sagte er. »Ich will nur ein paar Takte mit unserem Freund hier reden. Wenn wir uns jetzt gegenseitig das Leder gerben, hat niemand etwas davon. Also, trollt euch, Kinder, und lasst die Erwachsenen miteinander reden.«
»Ist schon in Ordnung, Lena«, beruhigte Oskar sie. »Ich will auch mit ihm reden. Schließlich schulde ich ihm noch was.«
»So ist es«, entgegnete der Geldverleiher und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Oskars Freunde murrten, doch angesichts von Behringers Schlägertruppe verdrückten sie sich lieber. Lena warf Oskar einen letzten traurigen Blick zu.
Der Geldverleiher starrte gierig auf den Tisch. »Was haben wir denn da? Bier, Most und Korn? Na ja, warum nicht?« Er schnappte sich einen leeren Humpen und goss alles zusammen. Dann rührte er mit seinem Finger durch die eklige Mixtur und nippte daran. »Mmh. Gar nicht mal schlecht. Wär doch ein Jammer, diese Köstlichkeit zurückgehen zu lassen.«
Oskar verzog angewidert das Gesicht. Behringer war ein Blutsauger, wie er im Buche stand. Er war Kölner und hatte seinen rheinischen Tonfall nie abgelegt. Sein Geschäftssinn jedoch hätte jedem Schwaben zur Ehre gereicht. Dafür, dass er gleichermaßen brutal wie gierig war, bediente er sich einer außerordentlich gepflegten Ausdrucksweise. Er war klüger, als er aussah, und man tat gut daran, ihn nicht zu unterschätzen.
»So«, sagte er, nachdem er das halbe Glas geleert hatte. »Worüber wollen wir beide uns jetzt unterhalten?«
Oskar griff in seine Jackentasche, zog einen ledernen Beutel heraus und legte ihn auf den Tisch. Mit einer raschen Bewegung schob er ihn in Richtung des Geldverleihers.
»Fünfundfünfzig Mark plus zehn Mark Zinsen, so wie wir es ausgemacht haben. Damit dürften wir wohl quitt sein.«
Behringers Augen funkelten misstrauisch, als er seine Finger nach dem Beutel ausstreckte und ihn öffnete. Scheinbar gelangweilt überflog er die Summe, dann legte er den Beutel wieder hin. Seine Augen verengten sich. »Und? Schöne Reise gehabt?«
»Woher wissen Sie …?«
»Ach, mein Junge«, sagte Behringer. »In dieser Stadt gibt es nichts, was ich nicht weiß. Oder sagen wir fast nichts. Was ist zum Beispiel mit deinem Gönner?«
»Mit wem?«
»Deinem Gönner. Dem Kerl, der dich aufgenommen hat.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich einen Gönner habe?«
Behringer lächelte verschlagen. »Du solltest mich nicht für blöd halten, das ist schon so manchem zum Verhängnis geworden. Ich weiß, dass du bei irgendjemandem Unterschlupf gefunden hast. Du wirst in Begleitung eines wohlhabenden Herrn gesehen, dann verschwindest du für ein paar Monate und jetzt finde ich dich hier, fleißig Runden schmeißend. Da könnte man schon auf den einen oder anderen Gedanken kommen.«
Oskar zuckte die Schultern. »Der Mann heißt Carl Friedrich von Humboldt. Ist kein großes Geheimnis, war ja in allen Zeitungen zu lesen.«
»Ah ja, dieser Forscher.« Behringer fischte sich die Berliner Morgenpost und überflog den Artikel. Dann tippte er auf das Bild. »Ist er das?«
Oskar nickte.
»Wo wohnt er?«
»Was?«
»Wo er wohnt, möchte ich wissen.«
Oskar schwieg.
Behringer lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Du willst es mir nicht sagen? Nun, das ist in Ordnung. Ich schätze Loyalität. Doch, doch, das tue ich. Besonders, wenn jemand aus einfachen Verhältnissen stammt, so wie wir beide. Es gibt heutzutage so wenig Anstand unter den Menschen. Die Frage ist nur: Wem sollte man sie schenken? Einem dahergelaufenen Gönner, der mit seinem Reichtum protzt, der mit dir in einer schönen Kutsche herumfährt und dir feine Kleider kauft, oder lieber den Menschen, mit denen du dein ganzes Leben verbracht hast. Die dich zu dem gemacht haben, was du bist.« Er grinste. »Sieh mich an. Ich bin Geschäftsmann, das weiß jeder. Ich verleihe Geld und lasse es mir mit Zinsen zurückzahlen. Aus manchem muss man es herausprügeln, aber das gehört in diesem Geschäft nun mal dazu. Viele behaupten, ich sei ein Blutsauger und ein Schwein. Und soll ich dir was sagen? Sie haben recht. Ich habe mich hochgearbeitet, von ganz unten. Ich habe im Dreck gewühlt, genau wie ein Schwein.« Er nahm noch einen Schluck aus dem Humpen und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Wusstest du, dass Schweine ziemlich schlaue Viecher sind? Alles, was ich heute besitze, habe ich mit Schweiß, harter Arbeit und Cleverness verdient. Genau wie du. Uns hat niemand etwas geschenkt. Wir beide, du und ich, wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, genau wie jeder andere hier im Raum. Wir sind deine Familie.« Sein Lächeln wurde kalt. »Wenn du mich mit Informationen versorgst und mir ein wenig zur Hand gehst, seid ihr mit einem Schlag alle Schulden bei mir los.«
Oskar hob seinen Blick.
»Ja, du hast richtig gehört. Du und deine Freunde. Sie stehen bei mir ziemlich in der Kreide, selbst diese Kleine. Wie hieß sie doch gleich?«
»Lena.«
»Genau. Ihr wärt aus dem Schlamassel raus. Sämtliche Schulden wären mit einem Schlag getilgt.« Er trank noch einen Schluck von seinem widerlichen Gebräu. »Erzähl mir von deinem Gönner. Wo wohnt er, was hat er für Wertgegenstände in seinem Haus und vor allem, wie kommen wir dort rein?« Er lächelte breit. »Ich bin sicher, du wirst mir das sagen. Bist doch ein cleveres Kerlchen.«
Oskar zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Sie haben Ihr Geld. Machen Sie damit, was Sie wollen. Wir sind quitt.«
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Wo willst du hin?«
»Raus«, sagte Oskar. »Die Luft hier drinnen ist zu schlecht.«
Er griff nach seiner Jacke und wollte gehen, als er von einer eisernen Hand am Kragen gepackt wurde. »Du willst raus?«, zischte Behringer. »Von mir aus. Was dagegen, wenn ich mich dir anschließe?« Er schleifte Oskar an den Gästen vorbei durch das Lokal. Die Leute murmelten ungehalten, wagten aber nicht, sich einzumischen. Diese verdammten Feiglinge! Alle hatten sie Schiss vor Behringer.
Draußen vor der Tür schüttete es immer noch wie aus Kübeln. Der Geldverleiher blickte missmutig gen Himmel. »Dreckswetter!«, fluchte er, dann stieß er Oskar unsanft auf die Straße. Oskar stolperte, konnte aber gerade noch verhindern, dass er hinfiel. Im Nu war Behringer bei ihm und rammte ihm die Faust in den Magen. Er rang nach Luft.
»Du scheinst aus unserer letzten Unterhaltung nichts gelernt zu haben«, sagte der Geldverleiher. »Wie lange ist es her, seit ich dir die letzte Abreibung verpasst habe, zwei Monate? Wann wirst du endlich begreifen, dass man mir nicht einfach den Rücken kehrt?«
Der nächste Schlag traf Oskar auf den linken Wangenknochen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, dann ein Gefühl plötzlicher Taubheit. Er schmeckte Blut in seinem Mund. Oskar versuchte stehen zu bleiben, aber seine Beine fühlten sich an wie Gummi. Er sackte vornüber auf die regennasse Straße. Ein Tritt in die Magengrube ließ ihn vollends zusammenbrechen. Behringers Leute zogen einen Kreis um ihn und machten jeden Gedanken an Flucht zunichte.
»So«, sagte der Geldverleiher, während er sich über ihn beugte und Oskars Kopf an den Haaren nach hinten zog. »Und jetzt möchte ich eine andere Antwort hören.«
»Leck mich am Arsch!«, fluchte Oskar und spuckte Blut.
Behringer blickte erstaunt. Dann lachte er.
»Eins muss man dir lassen. Du hast Schneid. Einen wie dich könnte ich in meiner Bande gut gebrauchen.«
»Eher friert die Hölle zu, als dass ich für Sie arbeite!«, keuchte Oskar.
»Falsche Antwort.« Behringer richtete sich drohend über ihm auf, die Faust zum Schlag erhoben. Oskar bereitete sich innerlich auf den nächsten Treffer vor, schloss die Augen und spannte die Muskeln an. Als nichts geschah, öffnete er vorsichtig ein Auge. Behringer stand immer noch genau so da. Dieselbe Haltung, derselbe Gesichtsausdruck. Alles schien unverändert – bis auf einen dünnen Blutsfaden, der seine Schläfe hinablief. Sein Mund war offen, als wollte er etwas sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Ein paar Sekunden stand er so da, dann taumelte er vornüber aufs Pflaster. Oskar konnte sich gerade noch zur Seite rollen, als der schwere Körper neben ihm auf den Boden schlug. Plötzlich ertönte aus der Gruppe der Halsabschneider ein Schmerzensschrei. Dann folgte ein zweiter. Einer von Behringers Kumpanen hielt sich den Ellenbogen, ein anderer den Bauch. Ein dritter sackte unter Stöhnen auf die Knie, die Hände über dem Kopf verschränkt.
Was war hier bloß los?
Über das Rauschen des Regens hinweg hörte Oskar ein Zischen. Irgendetwas sauste durch die Luft, gefolgt von einem trockenen Aufschlag. Diesmal hatte es den Fährmann erwischt. Mit einem Schrei fasste er sich an den Hals und stolperte zurück. Etwas Kleines kullerte vor Oskar in den Rinnstein. Ein Kiesel.
Unter den Mitgliedern der Gruppe brach Panik aus. Wer immer da auf sie schoss, er hatte ein gutes Versteck gewählt. Bei diesem Wetter und in dieser Dunkelheit war beim besten Willen nichts zu erkennen. Immer mehr von Behringers Kumpanen trugen Verletzungen davon.
Mit heiserer Stimme und gehetztem Blick befahl der Fährmann den Rückzug. Er packte Behringer bei den Füßen und schleifte ihn wie einen nassen Sack die Straße entlang. Unter Fluchen und Wehklagen folgte der Rest der Bande. Irgendwann waren sie so weit entfernt, dass die Geschosse sie nicht mehr erreichen konnten. Wüste Drohungen und Beschimpfungen ausstoßend, verschwanden sie hinter der nächsten Ecke. Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe das Zetern und Wimmern im Rauschen des Regens verhallte.
Oskar rappelte sich hoch. Seine Kleidung war patschnass. Jeder Knochen tat ihm weh. Sein Mund fühlte sich taub an. Er blickte sich um. Oben auf dem Dach war eine Bewegung zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite noch eine. Links aus einem Hauseingang löste sich eine schattenhafte Erscheinung. Mit schnellen Schritten eilte sie zu ihm herüber und packte ihn unter den Armen.
Oskars Augenbrauen hoben sich vor Erstaunen. »Maus!«
»Alles klar, mein Alter?« Unter der Schmutzschicht war ein Grinsen zu erkennen.
»Was tust du denn hier …?«
»Wir haben auf dich gewartet, was denn sonst?«
Wie aus dem Nichts tauchten weitere Gestalten auf. Lena, Willi und Bert. Sie trieften vor Nässe, aber in ihren Augen leuchtete der Triumph. Nur Lena machte ein besorgtes Gesicht. Das kleine braunhaarige Mädchen zog ein schmutziges Taschentuch aus seiner Hose und begann, Oskar das Blut von der Lippe zu tupfen. »Tut es sehr weh?«
»Geht schon. Bloß ein paar Prellungen und eine Platzwunde. Nichts, was man nicht mit ein bisschen Spucke und einem Pflaster verarzten könnte.« Er versuchte zu lächeln, aber der Schmerz ließ ihn zusammenfahren. »Wo kommt ihr auf einmal her? Ich dachte, ihr wärt längst wieder zu Hause.«
»Wir konnten dich doch nicht kampflos diesem Halsabschneider überlassen.« Willis kurze Stoppelhaare schimmerten im Licht der Straßenlaterne. »Als wir den Holzfäller verlassen haben, sind wir gleich in Position gegangen. Wir wussten, dass Behringer dich nicht vor versammelter Mannschaft vermöbeln wird. Solche Sachen erledigt er lieber im Stillen. Wir haben uns noch schnell in den Hinterhöfen die Taschen mit Geschossen vollgestopft und sind dann rauf auf die Dächer.«
»Zu dumm, dass wir nicht eher eingreifen konnten«, sagte Bert und zog seine Steinschleuder heraus. »Wir mussten erst warten, bis du aus dem Schussfeld warst.«
»Ihr habt ihnen richtig eingeheizt«, sagte Oskar anerkennend. »Eine Steinschleuder ist eine gefährliche Waffe, wenn man damit umgehen kann.«
»Und wir sind die besten Schützen nördlich der Spree.« Bert lächelte grimmig. »Die sind gehüpft wie die Hasen.«
»Alle außer Behringer«, warf Maus ein. »Der wacht so schnell nicht wieder auf. Wessen Schuss war das?«
»Meiner«, murmelte Lena. »Ich hatte eigentlich auf seine Schulter gezielt …«
»Sauberer Treffer!«, lobte Willi. »Ich glaube, einen solchen Hieb hat er in seiner gesamten Karriere nicht abbekommen.«
»Ich hoffe, dass er euch keine Schwierigkeiten macht«, sagte Oskar und runzelte die Stirn. »Er konnte euch zwar nicht sehen, aber wenn er eins und eins zusammenzählt, wird er schon darauf kommen, wer ihn da in die Flucht geschlagen hat.«
»Und wenn schon.« Maus spuckte auf das Pflaster. »Nachweisen kann er uns nichts, und wenn er den Dicken markiert, streiten wir einfach alles ab. Mach dir mal um uns keine Sorgen. Du bist es, den er auf dem Kieker hat. Der lässt nicht locker, bis er sein Geld hat.«
»Das habe ich ihm längst gegeben.«
»Hast du?«
»Bis auf den letzten Pfennig. Behringer und ich sind geschiedene Leute. Und für euch gilt demnächst dasselbe. Ich habe vor, euch auszulösen. Der alte Raffzahn soll sein Geld bekommen, dann seid ihr ihn ein für alle Mal los. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde das Geld zusammenkratzen. Das ist das Mindeste, was ich für euch tun kann.« Er blickte in die Runde. »Ihr seid die besten Freunde, die ich je hatte«, sagte er. »Danke, dass ihr mir geholfen habt.«
3
Am nächsten Tag …
Oskar erwachte mit schmerzenden Gliedern. Er schlug die Augen auf und sah, dass der Morgen bereits angebrochen war. Die aufgehende Sonne sandte erste zaghafte Strahlen durch die Scheiben und zauberte einen warmen Fleck auf sein Bett. Von draußen drang Vogelgezwitscher zu ihm herein.
Er richtete sich auf und streckte die Arme. Trotz seines gestrigen Abenteuers hatte er tief und fest geschlafen. Das dicke Federbett und die Ruhe im Haus des Forschers hatten ihm gutgetan. Herzhaft gähnend schwang er die Beine aus dem Bett und fing dann an, sich zu untersuchen. Die Blessuren hielten sich in Grenzen. Ein paar blaue Flecke und Prellungen, das war alles. In ein paar Tagen würde er davon nichts mehr spüren. Einzig die Stelle im Gesicht, wo Behringer ihn mit der Faust erwischt hatte, tat ziemlich weh. Er tastete mit den Fingern darüber und spürte, dass sie etwas angeschwollen war. Wahrscheinlich hatte sich dort ein hübsches Veilchen gebildet.
Oskar vergaß für einen Moment seine Schmerzen, als er draußen das Klappern von Hufen hörte, die langsam näher kamen. In das Schnauben der Pferde mischten sich die Stimmen von Männern. Neugierig sprang er aus dem Bett und öffnete das Fenster.
In der Auffahrt stand eine Droschke, die von zwei Pferden gezogen wurde. Zwei Herren in grauen Anzügen stiegen aus dem Wagen. Beide waren schlank und drahtig und wirkten irgendwie südländisch. Der eine war ein Mann von vielleicht fünfundfünfzig oder sechzig Jahren. Seine Haut war wettergegerbt und sein silbergraues Haar kurz geschnitten. Sein Bart war struppig und wild, was ihn wie einen Seeräuber aussehen ließ. Der andere war deutlich jünger und besser gekleidet. Er trug einen gut sitzenden Anzug, Manschetten und Krawatte sowie einen modernen Zylinder. Beide rauchten. Als die Haustür aufging, nahmen sie ihre Glimmstängel aus dem Mund und zertraten sie im Kies.
Oskar sah, wie Carl Friedrich von Humboldt die beiden Männer begrüßte. Verglichen mit ihnen, war er von beinahe riesenhaftem Wuchs. Mit seinem indischen Sherwani und seinem chinesischen Zopf wirkte er sehr exotisch. Doch trotz seines exzentrischen Äußeren war er ein Mann von Ehre und höflichem Auftreten.
»Guten Morgen«, hörte Oskar ihn sagen.
»Herr von Humboldt?«, fragte der gut gekleidete Mann.
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Stavros Nikomedes.« Der jüngere Mann trat auf Humboldt zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Dies ist mein Kapitän, Dimitrios Vogiatzis. Ich bin Reeder. Ich würde gerne in einer geschäftlichen Angelegenheit mit Ihnen sprechen.«
Humboldt musterte die beiden, dann ergriff er Nikomedes’ Hand und schüttelte sie. »Geschäftlich? Das ist natürlich etwas anderes. Ich hatte vermutet, Sie seien von der Presse. Dieser Reporter Fritz Ferdinand wird allmählich lästig. Bitte verzeihen Sie meine Zurückhaltung. Treten Sie doch näher. Haben Sie Gepäck?«
»Ist alles in unserem Hotelzimmer.«
»Schön. Dann wollen wir hineingehen. Bitte folgen Sie mir.« Oskar beobachtete, wie Humboldt die beiden Männer ins Haus geleitete und die Tür schloss.
Erleichtert lehnte er sich zurück. Einen Moment lang hatte er geglaubt, die beiden seien von der Gendarmerie und wegen der Schlägerei von gestern Abend gekommen. Doch die Sache schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Trotzdem wollte er natürlich wissen, was da unten vor sich ging. Er eilte zum Waschbecken, wusch sein Gesicht, putzte die Zähne und kämmte sorgfältig seine Haare. Er war gerade in Hemd und Hose geschlüpft, als es klopfte.
»Herein!«
Die Tür öffnete sich und Charlottes hübsches Gesicht erschien im Rahmen. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und ließ ihr blondes Haar golden glänzen. »Guten Morgen«, sagte sie. »Gut geschlafen?«
Er hielt den Waschlappen an seine Wange gepresst, in der Hoffnung, sie würde die Blessuren nicht bemerken.
»Klar, und du?«
Als sie ihn sah, schwand ihr Lächeln. Mit einer schnellen Bewegung trat sie in sein Zimmer und schloss die Tür. Sie baute sich vor ihm auf und blickte ihn an. Ihre Lippen wurden schmal, wie immer, wenn er etwas ausgefressen hatte. Innerlich stöhnte er. Wie hatte er nur glauben können, unbemerkt davonzukommen?
»Du siehst ja furchtbar aus. Was ist geschehen?«
»Ein kleiner Unfall.«
»Unfall? Dass ich nicht lache!«
»Klar. Was denn sonst?«, erwiderte er halbherzig.
»Ich weiß, dass du gestern ausgebüchst bist. Ich habe dich gesehen, wie du über die Mauer gestiegen bist.«
»Ja und? Ich musste mir noch ein wenig die Beine vertreten. Als ich zurückkam, war es schon dunkel. Ich wollte nicht das ganze Haus aufwecken und habe darum kein Licht gemacht. Unten in der Halle bin ich erst mal gegen einen der Pfosten gerannt und dann ist mir auch noch –«
»Du hast dich geprügelt«, schnitt Charlotte ihm das Wort ab. Sie trat auf ihn zu, nahm den Lappen weg und betrachtete seine Blessuren. Kopfschüttelnd sagte sie: »Du bist wieder in deiner alten Gegend gewesen. Habe ich dir nicht schon hunderttausend Mal gesagt, dass du das nicht tun sollst?«