Die Stadt der Regenfresser

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Sein Instinkt hatte ihn also nicht getrogen. Die Frage war nur: Was hatte ein feiner Pinkel wie er in der Krausnickstraße verloren? Das passte einfach nicht zusammen. Aber egal. Wozu sollte er sich den Kopf über solch unbedeutende Dinge zerbrechen? Das Geld gehörte jetzt ihm, das war alles, was zählte.
Er wollte die Münzen gerade wieder zurücklegen, als er zwischen ihnen ein Stück bleigrauen Metalls schimmern sah. Es glänzte wie angelaufenes Eisen und war an den Rändern etwas verbogen. Oskar hob es hoch, drehte und wendete es. Es sah aus wie ein wertloses Stück Altmetall. Warum aber lag es zwischen all dem Geld? Er konnte keine Erklärung dafür finden. Doch was es auch war, er würde sich später genauer damit befassen.
Er legte alles zusammen zurück, verschloss das Portemonnaie und steckte es in die Innentasche seines Jacketts. Dann stand er auf. Einen Teil davon würde er dem Geldverleiher Behringer zurückzahlen müssen, aber dafür wäre er dann seine Schulden ein für alle Mal los. Von diesem Fang würde er ein halbes Jahr lang gut leben können. Wer weiß, vielleicht würde er sich sogar ein kleines Appartement mieten. Eine richtige kleine Wohnung, nicht so ein Dreckloch wie das, in dem er gerade hauste.
Er öffnete das Fenster und kletterte hinaus aufs Dach. Der Himmel über Berlin hatte sich verdüstert. Aus den einzelnen Wolken war jetzt eine dunkle Wand geworden, die sich langsam von Westen her näherte. Ein frischer Wind war aufgekommen, der den Geruch von Regen mit sich brachte. Die Nase prüfend in den Wind hebend, schätzte er, dass es in etwa einer Stunde wie aus Eimern schütten würde. Zeit, die Beute sicher nach Hause zu schaffen.
Oskar hätte den Weg über die Dächer mit verbundenen Augen gefunden. Leichtfüßig sprang er über Abgründe, folgte Regenrinnen und balancierte auf Dachfirsten, wie es die Schornsteinfeger taten. Er liebte es, hier oben zu sein, den Dreck und Lärm der Straßen unter sich zu lassen und die Menschen dabei zu beobachten, wie sie in Ameisengröße durch die Straßen wuselten. Er liebte den Blick über die Dächer hinweg und das Geräusch, wenn die Kirchenglocken zu läuten begannen. Dann konnte er den Tauben zusehen, wie sie in Schwärmen über der Stadt kreisten, und sich vorstellen, wie es wohl wäre, eine von ihnen zu sein.
Ein paar Minuten später hatte er das Ende seines Fluchtweges erreicht. Ein schmuddeliges altes Haus an der Oranienburger, schräg gegenüber der Synagoge. Nach vorn hin gab es einige kleine, schmiedeeiserne Balkone, die durch Feuerleitern miteinander verbunden waren. An ihnen konnte man bequem hinunterklettern. Nur zwischen erstem Stock und Trottoir fehlte eine Leiter, sodass man die drei Meter bis zum Boden am nahe gelegenen Regenrohr entlangrutschen musste.
Flink wie ein Affe kletterte er hinunter, griff nach dem Metallrohr und ließ sich auf den Bürgersteig hinab. Die Straße hatte ihn wieder. Den fragenden Blicken einiger Passanten wich er einfach aus und machte sich hoch erhobenen Hauptes auf den Heimweg.
Er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als er von einer schwarz behandschuhten Hand gepackt und in einen Hauseingang gezerrt wurde. »Habe ich dich endlich!«, sagte eine tiefe Stimme.
Oskar blickte auf. Über ihm ragte drohend die dunkle Gestalt des Mannes mit dem Zylinder auf. Das Gesicht lag im Schatten. Nur die Augen hinter den Brillengläsern leuchteten wie zwei wasserblaue Kristalle. Oskar versuchte sich zu befreien, aber die Hand hielt ihn gepackt wie ein Schraubstock.
»Na, na«, sagte die Stimme. »Willst du etwa schon gehen?«
Die andere Hand hob sich, zur Faust geballt. Oskar wollte schon die Augen schließen, da sah er, dass sich die Hand öffnete. Ein weißes Pulver leuchtete auf dem schwarzen Leder. Ehe er noch darüber nachdenken konnte, was das wohl für ein Zeug war, hob der Fremde die Hand und blies ihm die ganze Ladung ins Gesicht.
Oskar fühlte ein entsetzliches Brennen in Mund, Augen und Nase. Er musste würgen und husten. Tränen stiegen ihm in die Augen. Der Staub schnürte ihm die Luft ab. Er griff sich an den Hals und rang nach Atem. Verzweifelt versuchte er ein letztes Mal auszubrechen. Er schlug mit den Armen um sich wie ein Ertrinkender, doch es nützte nichts. Ein feines Lächeln umspielte den Mund des Mannes. Mit dunkler Stimme sagte er: »Ich wünsche dir angenehme Träume, mein Junge.«
Sternchen tanzten vor Oskars Augen, dann wurde es dunkel um ihn.
2
Oskar erwachte mit einem Kopf, der sich anfühlte wie ein matschiger Kürbis. Ein Lichtstrahl drang in seine Augen und stach bis in die hintersten Hirnwindungen. Schnell presste er die Lider zusammen. Er hatte ja schon so manchen Kater von zu viel Bier gehabt, aber noch nie einen solchen. Noch einmal versuchte er, die Augen zu öffnen. Diesmal war der Schmerz nicht ganz so heftig und er entschied, dass er ihn ertragen konnte. Er saß in einem Lehnstuhl mit wertvoll geschnitzten Armstützen und einem hohen Rückenstück, das hinter seinem Kopf aufragte. Außer dem Stuhl befanden sich in dem Raum noch ein Bett, ein Tisch und mehrere Regale, voll mit Büchern. Ein kostbarer geknüpfter Teppich lag auf dem Boden. Oskar versuchte aufzustehen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Er konnte seine Arme nicht bewegen, genauso wenig wie seine Hände und seine Füße. Er blickte an sich hinab und sah, dass er festgeschnallt war. Breite Lederbänder umspannten seine Handgelenke. Sie erlaubten nicht den geringsten Ausbruchsversuch.
Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Der Diebstahl, der Fluchtversuch, seine Gefangennahme … und der dunkle Mann. Diese wasserblauen Augen und das schmallippige Grinsen. Oskar wurde es mulmig zumute. Gefangen und gefesselt in einem fremden Haus, da brauchte man nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass er in die Hände eines Verbrechers gefallen war. Eines Irrsinnigen vielleicht, oder eines Mörders. Panik überkam ihn. Er musste weg hier, und zwar schnell. Er zerrte an seinen Fesseln, doch die Lederriemen saßen fest. Kopf, Hände, Füße, alles war festgebunden und der Stuhl war zu schwer, um ihn fortzubewegen. Plötzlich erklangen Geräusche. Schritte, die sich der Tür näherten.
Oskar gab seine Befreiungsversuche auf und stellte sich schlafend. Er schloss die Augen bis auf einen winzigen Spalt und beobachtete, wie die Tür sich öffnete und jemand den Raum betrat. Im Dämmerlicht erkannte er eine kleine Person, die irgendetwas in den Händen trug. Einen Teller oder ein Tablett. Sie stellte es ab und ging hinüber zum Fenster. Mit Schwung zog sie die Vorhänge beiseite. Helles Tageslicht flutete ins Zimmer. Oskar erkannte, dass es sich nicht um seinen Entführer handelte. Es war eine Frau. Sie trug ein langes, bunt besticktes Hemd und einen ebensolchen Rock. Ihre Füße steckten in farbigen Sandalen und an ihren Handgelenken klimperten goldene Armreifen und Ketten. Sie hatte dunkle Haut und pechschwarzes Haar, das sie mit einem Tuch hochgesteckt hatte. Oskar konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Erscheinung gesehen zu haben.
Sie kehrte zum Tablett zurück, goss etwas aus einer Kanne in eine Tasse und kam zu ihm herüber. Oskar tat immer noch so, als würde er schlafen, aber die Frau schien zu spüren, dass er es vortäuschte.
»Hallo, mein Junge«, sagte sie mit weicher, dunkler Stimme. »Ich bringe dir etwas zur Stärkung.«
Sie rollte das R und sprach mit einem seltsamen Akzent. So nah, wie sie jetzt bei ihm stand, konnte er ihr exotisches Parfum riechen. Es hatte wohl keinen Sinn mehr, sie weiter zu täuschen. Oskar schlug die Augen auf. Das Gesicht, das sich ihm zuwandte, war schön, wenn auch außergewöhnlich. Die Frau mochte etwa dreißig Jahre alt sein, so genau konnte er das nicht abschätzen. Sie hatte große, seelenvolle Augen und einen vollen Mund. Ihre Ohren waren mit goldenen Ringen geschmückt. Sie sah nicht so aus, als wolle sie ihm etwas antun.
»Möchtest du mal probieren? Schmeckt sehr gut und hilft gegen Kopfschmerzen.« Sie vollführte ein paar seltsame Gesten über der Tasse, die wie Zauberei anmuteten.
Irgendwie spürte er, dass die Frau nichts Böses im Schilde führte, und seine Panik verflog. Er nickte und ließ sich von ihr das Getränk an den Mund führen. Das Gebräu schmeckte stark, bitter und süß, ganz anders als der Tee oder der Kakao, den man in feinen Gasthäusern bekam und den Oskar mal von Hannah, dem hübschen Küchenmädchen im ›Alten Zollhaus‹, zu kosten bekommen hatte. Es weckte die Lebensgeister und beruhigte seinen Kopf.
Gierig schlürfte er die Tasse leer. Als er fertig war, waren die Schmerzen bis auf ein winziges Druckgefühl verschwunden.
»Gut gemacht«, sagte sie und stellte die Tasse wieder weg. »Geht es jetzt besser?«
Er nickte.
»Mein Name ist Eliza«, sagte die Frau. »Darf ich?« Sie deutete auf seine Fesseln. Ehe Oskar antworten konnte, löste sie seine Armschlingen und dann seine Kopf- und Fußfesseln. Sie arbeitete schnell und geschickt und im Nu war er wieder frei. Er spürte, wie das Blut in seine Hände schoss, und massierte seine Gelenke.
»Wie heißt du?«
Oskar schwieg. Seine Augen suchten nach einem Fluchtweg.
»Ja, ich weiß, was du denkst.« Sie deutete auf die Bänder. »Ich muss mich für diese Behandlung entschuldigen. Sie diente nur zu deiner eigenen Sicherheit.« Sie lächelte entschuldigend. »Mein Herr ist manchmal ein wenig ungeschickt. Ich habe ihm die Menge genau vorgeschrieben, aber er musste ja gleich das Doppelte nehmen. Sei beruhigt, der Kopfschmerz dürfte gleich vorbei sein.«
»Wo bin ich hier?« Oskar stand langsam auf. Seine Beine fühlten sich noch etwas zittrig an, aber immerhin trugen sie ihn schon wieder.
»Im Haus meines Herrn«, lautete die Antwort. »Möchtest du ihn sehen?«
»Wen?«
»Deinen Gastgeber.«
Oskar ging ein paar Schritte. »Ich weiß nicht …«
»Er würde sich freuen, dich zu sehen.« Sie warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Ich weiß, dass dir das alles sehr seltsam vorkommen muss, aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Folge mir einfach.«
Das Haus war von beeindruckender Größe. Schon allein der Speisesaal war ehrfurchtgebietend. An der Decke hing ein Kristallleuchter, der das hereinflutende Tageslicht einfing und es in tausendfaches Funkeln zerlegte. Inmitten einer Reihe sehr komfortabel aussehender Stühle stand ein Tisch, an dem bequem dreißig Leute Platz finden konnten. Wertvolle geschnitzte Vitrinen und Abstelltische zeugten vom erlesenen Geschmack des Hausherrn. Eliza legte ein zügiges Tempo vor, sodass Oskar kaum Zeit fand, die ganze Pracht zu bewundern. Schon waren sie im nächsten Raum, offenbar ein Studierzimmer. An den Wänden standen Regale, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Oskar trat näher und entdeckte verschiedene Zyklen aufwendig in Leder gebundener Werke. Lexika oder etwas Ähnliches. Daneben standen Bücher, bei denen es sich offenkundig um Kartenwerke und Reisebeschreibungen handelte. Bücher, auf deren Einband Windrosen, Wappen und Kontinente geprägt waren. Daneben Aberdutzende Karten aller Größen und Formen. Große, kleine, gerollte und hängende, Weltkarten, Landkarten, geologische Karten und Seekarten.
Er begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Mann vielleicht doch nicht der wahnsinnige Irre war, für den er ihn gehalten hatte. Offenbar verfügte er über Bildung und ein beträchtliches Vermögen. Einen Schatz wie diesen hatte Oskar jedenfalls noch nirgends gesehen, nicht mal in der Stadtbibliothek.
Oskar hatte eine Schwäche für spannende Erzählungen. Ritterromane, Piratengeschichten, Abenteuer in fremden Ländern. Mit Karl May hatte er sich durch das wilde Kurdistan geträumt und mit Jules Verne 20 000 Meilen unter die Meeresoberfläche. So konnte er seinem Dasein als kleiner Gauner auf den Berliner Straßen für eine Weile entfliehen. Viele Abenteuerromane erschienen in Fortsetzungen in der Berliner Illustrirten Zeitung, die Oskar bei Hannah im ›Alten Zollhaus‹ lesen konnte. Manchmal investierte er einen Teil seiner Beute in Bücher, die er zu Hause in seiner Bude lagerte. Einige hatte er natürlich auch gestohlen, aber die meisten ehrbar erworben. Bücher waren etwas, wovor er Respekt hatte, und hier gab es mehr davon, als er je in seinem Leben auf einem Haufen gesehen hatte. Auch wenn es sich um Sachliteratur handelte, so waren es doch immer noch Bücher. Was war das nur für ein Mann, der Straßenjungen entführte und so viele Bücher besaß?
Dominiert wurde der Raum von einem gewaltigen, in einem hölzernen Rahmen befindlichen Globus. Einer Weltkugel von solch ehrfurchtgebietenden Proportionen, dass ihr Gewicht gar nicht abzuschätzen war. Gerne hätte Oskar sie in Drehung versetzt, aber die Haushälterin war schon weitergegangen und wartete in der Eingangshalle auf ihn.
Dieser Raum war von allen der beeindruckendste. Spätestens jetzt war Oskar überzeugt, in das Haus irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit geraten zu sein. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und in regelmäßigen Abständen waren Kerzenhalter befestigt. Zwei mächtige, geschnitzte Holzsäulen trugen eine gewölbte Decke, die mindestens vier Meter hoch war. Auf ihr waren Naturszenen zu sehen. Berge, Wasserfälle, dichter Dschungel und weite Wüsten. Bilder, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hatte. An den Wänden befanden sich präparierte Tierköpfe aus aller Herren Länder. Elefanten, Nashörner und Tiger, aber auch kleinere Tiere wie Antilopen, Schakale und Luchse. Viele kannte er aus dem Tierpark, manche waren ihm völlig unbekannt. Staunend und mit offenem Mund stand er einfach da und blickte nach oben. Offenbar hatte der Herr dieses Hauses die ganze Welt bereist. Vor seinem geistigen Auge erschien die Person des Allan Quatermain, des Bezwingers von Afrika, des Entdeckers von König Salomons Minen. Konnte es sein, dass ihn das Schicksal direkt in die Arme des Abenteuers geführt hatte?
Oskar riss sich von dem Anblick los. Er durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Er war betäubt worden, entführt und gefesselt, und solange er dafür keine einleuchtende Erklärung erhalten hatte, lautete sein oberstes Ziel Flucht.
Eine breite Eichentreppe führte in weitem Bogen nach oben. Eliza winkte ihm zu. »Komm, mein Junge. Du solltest deinen Gastgeber nicht warten lassen.« Sie nahm seine Hand und geleitete ihn in den ersten Stock. Dort, am Ende eines langen Flurs, blieben sie stehen. Sie klopfte an eine Tür, dann trat sie, ohne eine Antwort von innen abzuwarten, ein.
Der Raum war groß und warm. Im Kamin prasselte ein Feuer. Durch die Fenster konnte man einen Blick auf Parkanlagen erhaschen. Es war Abend und hinter den Bäumen versank feuerrot die Sonne.
Hinter einem riesigen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz saß ein Mann, der in ein dickes, ledergebundenes Buch vertieft war. Oskar hielt den Atem an. Die wasserblauen Augen, die buschigen Brauen und die Brille gehörten unverkennbar seinem Entführer. Trotzdem wirkte er verändert. War er bei ihrer ersten Begegnung noch in düsteres Schwarz gehüllt gewesen, hatte er sich nun für eine Kombination freundlicherer Farben entschieden. Er trug eine knielange, reich bestickte Jacke aus weinrotem Samt, darunter bequeme, weite Stoffhosen und hellbraune Wildlederschuhe. Seine Haare hingen in einem Zopf über der linken Schulter. Beinahe wie bei einem Chinesen.
Als sie eintraten, hob der Mann den Kopf. Mit einem Knall schlug er das Buch zu und schob es auf die Seite. »Komm rein«, sagte er mit einer Stimme, die zwar immer noch barsch klang, aber deutlich freundlicher als noch vorhin auf der Straße. »Ich sehe, du bist wieder wohlauf? Gut so.« Er räusperte sich und ging zu einem Schrank hinüber, in dem etliche Flaschen aufgereiht standen. »Was möchtest du? Wasser? Tee? Vielleicht einen Branntwein?« Er blickte kurz zu Eliza hinüber, die entschieden den Kopf schüttelte. »Nein, keinen Branntwein. Milch. Wie wäre es mit einem Glas Milch?«
Oskar setzte ein Pokergesicht auf. Die ganze Situation war äußerst merkwürdig. Eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination befiel ihn. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Gar nichts? Was dagegen, wenn ich mir einen genehmige?« Der Mann nahm sich ein Glas und schüttete etwas von einer bräunlichen Flüssigkeit hinein, vermutlich etwas Hochprozentiges. Er nahm einen Schluck. »Setz dich«, sagte er und deutete auf ein breites Sofa gegenüber dem Tisch. Oskar blickte argwöhnisch zu Eliza. Als diese ihm zu verstehen gab, dass es in Ordnung wäre, ließ er sich steif auf den weichen Kissen nieder. Er versank beinahe darin.
»Schon besser«, sagte der Mann. »Du fragst dich sicher, wo du bist und was ich von dir will, habe ich recht? Du sollst es erfahren, doch zunächst mal möchte ich damit beginnen, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Und wie heißt du?«
»Oskar Wegener.«
Sein Gastgeber deutete ein Nicken an. »Freut mich, dich kennenzulernen, mein Junge. Willkommen in meinem Heim.«
Oskar setzte einen skeptischen Blick auf. Wieso war der plötzlich so freundlich? »Ist Ihr Name wirklich Humboldt? So wie der berühmte Entdecker?«
»Du sprichst vermutlich von Alexander von Humboldt, meinem Vater.« Er warf Oskar einen kurzen Blick über den Rand seiner Brille zu. »Genau wie er darf ich mich in aller Bescheidenheit einen Naturforscher nennen. Du weißt doch sicher, was das ist?«
»Natürlich.« Oskar reckte sein Kinn vor. »Jemand, der Schmetterlinge auf Nadeln spießt und sie dann in einen Schaukasten steckt.«
Der Mann versteifte sich. »Ja, hm. Unter anderem auch das – wenn es die Forschung verlangt. Wobei das eher nicht zu meinem Tätigkeitsbereich gehört. In bin in erster Linie Entdecker. Ich bereise Orte, die zuvor noch nie erforscht wurden, beschreibe und kartografiere sie, sammele und beobachte die Flora und Fauna und stelle mein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung.« Er deutete auf das schwere, ledergebundene Buch auf dem Tisch. »Was du hier siehst, ist der erste Band einer umfangreichen Enzyklopädie, an der ich gerade arbeite und die ich eines Tages zu veröffentlichen gedenke. Es wird das Standardwerk des neuen Jahrhunderts werden. Ein Lexikon für jedermann. Kompakt, umfassend und erschwinglich. Nicht nur etwas für die verkopften Professoren an unseren Universitäten. Ein aufgeklärtes Werk für aufgeklärte Denker.« Er trank den Rest und stellte sein Glas lautstark auf dem Tisch ab. »Ehe ich es herausgebe, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen. Noch ist die Welt nicht bereit für dieses Werk. Noch gibt es zu viele Personen, die es lieber verbieten lassen würden. Holzköpfe, die noch nie einen Schritt vor die eigene Tür unternommen oder einen Blick über die Hecken ihres mickrigen Vorgartens getan haben, die uns aber erzählen wollen, wie die Welt funktioniert. Ich habe vor, ihnen gehörig den Wind aus den Segeln zu nehmen.«
»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Oskar herausfordernd.
Humboldt hob die Augenbrauen. »Du hast mich bestohlen, schon vergessen?«
Aha, jetzt war es mit der Freundlichkeit vorbei. Oskar schluckte. »Verstehe. Dann werden Sie mich jetzt der Gendarmerie übergeben?«
»Nein.«
»Nicht?« Oskar war verblüfft. Es dauerte eine Weile, dann fragte er vorsichtig: »Was dann?«
Der Forscher gestattete sich ein schmales Lächeln. »Wie wär’s, wenn du mir ein bisschen was über dich erzähltest. Wo kommst du her, wer sind deine Eltern und was machst du so?«
»Was ich so mache, haben Sie ja gesehen«, erwiderte Oskar. »Ich bin Botenjunge. Ich renne hin und her und stelle eilige Lieferungen zu. Kein besonders guter Job, aber man schlägt sich so durch.«
»Und da kam dir der Gedanke, mir meine Börse zu klauen.«
Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn. »So offen, wie Sie Ihr Portemonnaie heraushängen lassen, war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie jemand bestiehlt«, sagte Oskar und setzte noch einen obendrauf: »Sie haben das regelrecht herausgefordert. Eigentlich bin ich derjenige, der sich beschweren müsste. Sie haben mich in Versuchung geführt. Geradezu kriminell, so ein Verhalten.«
Der Forscher lachte. »Du kannst mich ja anzeigen. Ich frage mich, wem der Richter wohl glauben würde. Aber jetzt mal im Ernst: Was ist mit deinen Eltern? Was machen sie und wo leben sie?«
Oskars Augen wurden schmal. »Meine Eltern sind tot«, stieß er hervor. »Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war, und meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl ein ziemlicher Rumtreiber. Vielleicht ein Seemann oder so.«
»Das tut mir leid«, sagte der Forscher mit ernstem Gesicht. »Dann warst du sicher schon sehr früh auf dich allein gestellt.«
Oskar winkte ab. »Die meiste Zeit war ich im Heim. Irgendwann wurde es mir zu dumm. Ich bin dort weg und habe mich selbstständig gemacht. Straßenkehrer, Botengänge, Aushilfsdienste. Was man halt so macht, wenn man nicht weiß, was man am nächsten Tag fressen soll. Aber das Gefühl kennen Sie vermutlich nicht.«
»Besser, als du denkst«, erwiderte der Forscher knapp, ohne näher darauf einzugehen. Er nahm sein Glas wieder vom Tisch und stellte fest, dass es bereits leer war. Gedankenverloren drehte er es zwischen seinen Fingern.
Oskar beobachtete den Mann eine Weile unter seinen gesenkten Augenbrauen. »Hören Sie, dieses Gespräch führt zu nichts«, sagte er. »Machen Sie es kurz. Übergeben Sie mich einfach den Behörden und vergessen Sie die ganze Sache. Damit wäre jedem gedient.« Und er wäre nicht länger in den Händen dieses Verrückten, dachte Oskar. Den Gendarmen war er schon oft genug entwischt, darin hatte er Übung.
Um Humboldts Mund spielte ein schmales Lächeln. »Dich nur hinter Gitter zu sperren wäre viel zu einfach. Es würde dir auch nicht gerecht werden, denn immerhin hast du deine Sache ja recht gut gemacht. Die meisten Trickbetrüger sind absolute Dilettanten. Armselige Taschenspieler. Man sieht ihnen schon aus zehn Meter Entfernung an, dass sie etwas im Schilde führen. Deine Nummer mit dem Aktenordner hingegen war ausgezeichnet.« Oskar wollte protestieren, aber Humboldt hob die Hände. »Ja, ja, ich weiß, du bist nur ein einfacher Botenjunge, aber nehmen wir mal an, du wärst keiner. Nehmen wir mal an, du wärst ein ganz gewöhnlicher kleiner Taschendieb …«
Jetzt also doch, was hatte der Mann nur mit ihm vor? Warum rief er nicht endlich die Gendarmen?
»… dann hättest du deine Sache sehr gut gemacht. Die Sache mit der Verkleidung, den Akten und der anschließenden Flucht über die Dächer – merveilleux!«
Oskar wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es klang wie ein Lob.
»Nicht gut genug, fürchte ich«, murmelte er.
Humboldts Augen leuchteten geheimnisvoll. »Nun, was das betrifft – eigentlich hattest du gar keine richtige Chance.«
»Wie meinen Sie das?«
Statt einer Antwort öffnete der Forscher eine Schublade. Er zog das Portemonnaie heraus, das Oskar ihm gestohlen hatte.
»Erinnerst du dich daran?«
»Allerdings.«
Der Forscher wedelte mit der Geldbörse. »Fragst du dich nicht, wie ich dich gefunden habe?«
»Doch, allerdings. Ich war doch schon längst im Haus. Es war unmöglich, mich zu sehen. Woher wussten Sie, welche Richtung ich einschlagen würde?«
Humboldt öffnete das Portemonnaie. »Sieh her.«
Er entnahm ihm das stumpf glänzende Metallstück, das Oskar bereits auf dem Dachboden aufgefallen war. Er legte es auf den Tisch und schnippte es zu ihm hinüber.
»Steck es ein.«
»Was soll ich?«
»Steck es ein. Und dann steh auf.«
Oskar überlegte einen Augenblick, ob er sich weigern sollte. Er war unfreiwillig in diesem Haus, das durfte er nicht vergessen. Andererseits interessierte ihn die Sache.
Er tat also, wie Humboldt gesagt hatte, und erhob sich von seinem Stuhl. Humboldt griff in seine Hosentasche und holte einen merkwürdigen kleinen Gegenstand heraus. Ein Metallgestell, in dem so etwas wie die Miniaturausgabe einer Weltkugel hing, nur mit dem Unterschied, dass diese hier auf zwei Achsen lagerte und in jede Richtung frei rotierte. Auf der Außenseite der Kugel waren mehrere Markierungen aufgemalt, die wie Winkelmaße aussahen. Einer dieser Punkte war rot hervorgehoben und zeigte genau auf ihn.
»Und jetzt beweg dich.«
Oskar trat einen Schritt zur Seite. Der rote Punkt folgte ihm. Er folgte ihm auch, als er nach links um den Tisch herum und wieder zurückging. Selbst als er auf einen Stuhl kletterte, wieder hinuntersprang und vor dem Tisch in die Hocke ging, folgte ihm der rote Punkt, als könne er jede seiner Bewegungen voraussehen. Wie ein Auge.