Die Stadt der Regenfresser

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»Hexerei«, murmelte Oskar, während er misstrauisch das seltsame Gerät anstarrte.
»Keineswegs.« Humboldt kicherte vergnügt. »Das Zauberwort heißt Magnetismus. Und zwar Magnete von einer besonders starken Sorte. Aus Meteoriten, um genau zu sein.«
»So wie ein Kompass?«
»Exakt, mein junger Freund. Nur, dass sich der magnetische Südpol nicht in der Arktis befindet, sondern hier in deiner Hand. Egal wohin du auch gehst, egal wie weit du dich auch von mir entfernst, das Auge zeigt mir stets die Richtung.«
»Auch durch Gebäude hindurch?«
»Durch Gebäude, durch ganze Stadtteile, ja selbst durch Berge hindurch. Willst du es mal nehmen?«
Oskar nickte und ließ sich von Humboldt den seltsamen kleinen Kasten geben. Er war bedeutend schwerer, als er aussah. Die kleine Kugel blickte ihn an wie ein bösartiges Auge. Sie erinnerte ihn an jene Augen lebensechter Holzmarionetten, wie sie manchmal auf Jahrmärkten zu bestaunen waren. Oskar hatte Marionetten noch nie leiden können.
Von dem Metallgestell gingen leichte Schwingungen aus. Es brummte und summte und kitzelte seine Finger. Als er versuchte, sie zu lösen, spürte er, dass sie irgendwie an dem Metall zu kleben schienen. Angewidert stellte er das Ding zurück auf den Tisch und legte auch gleich das krumme Metallstück daneben. Es flutschte sofort herüber und blieb an dem Kasten hängen.
»Hexerei«, murmelte er noch einmal, dann richtete er seinen Blick wieder auf Humboldt. »Na schön. Wenn Sie mich also nicht einsperren lassen wollen, was dann? Sie werden mich wohl kaum einfach laufen lassen.«
Humboldt wiegte den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht gleich. Zunächst mal möchte ich, dass du dir mein Angebot anhörst.«
»Ein Angebot?« Oskar zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. »Was hätte einer wie Sie jemandem wie mir schon anzubieten?«
»Ich will, dass du mich auf meiner nächsten Reise begleitest.«
»Wie bitte?«
»Du wirst deine Strafe durch harte Arbeit abtragen«, fuhr der Forscher fort. »Waschen, putzen, Waffen reinigen, Besorgungen machen. Ich brauche einen Diener, der mir zur Hand geht und das tägliche Einerlei erledigt. Ein Junge, der es gewohnt ist, selbstständig zu handeln, und sich nicht fürchtet, wenn es mal brenzlig wird. Meine letzte Reise stand unter einem – sagen wir mal – ungünstigen Stern.« Der Forscher wechselte einen Blick mit Eliza, die immer noch stumm im Hintergrund stand. »Ich wurde beraubt und meine Diener ließen mich im Stich. Allesamt Leute, die ein ellenlanges Register an Referenzen vorzuweisen hatten. Menschen, die in den feinsten Häusern Berlins gearbeitet hatten. Und alle haben sie mich enttäuscht. Als sie merkten, dass kein Geld mehr da war, schwirrten sie auf und davon. Eliza und ich standen von einer Sekunde auf die andere ohne Personal da. Keine Diener, keine Träger, keine Führer. Wir mussten unverrichteter Dinge wieder heimkehren. Damals habe ich mir geschworen, nur noch mit einer kleinen Gruppe auf Reisen zu gehen. Mit Leuten, die sich in jeder Lage zu helfen wissen und die – wenn es die Situation erfordert – Dinge organisieren können, wenn du verstehst, was ich meine. Es würde zu lange dauern, dir das jetzt alles auf einmal erklären zu wollen, darum mache ich dir einen Vorschlag.« Er sah Oskar prüfend an. »Ich zeige dir mein Labor und erkläre dir, worum es geht. Du übernachtest hier und lässt dir die Sache durch den Kopf gehen. Wenn du dich morgen früh entscheidest zu gehen, werde ich dich nicht hindern. Dann bist du wieder ein freier Mann. Wärst du mit diesem Angebot einverstanden?«
Oskar blickte skeptisch. »Das ist doch ein Trick, habe ich recht?«
»Kein Trick. Nur ein offenes und ehrliches Angebot.«
Ha, dachte Oskar. Offen und ehrlich, dass ich nicht lache. Vermutlich genauso ehrlich wie diese Nummer mit dem Kompass. Andererseits: Was, wenn doch etwas dran war? Die Sache hatte auch ihren Reiz. Misstrauisch blickte er zwischen dem ungleichen Paar hin und her. In Anbetracht einer fehlenden Alternative nickte er vorsichtig. Morgen früh könnte er sich immer noch aus dem Staub machen.
»Abgemacht«, sagte er. »Eine Nacht.«
»Prächtig.« Humboldt rieb sich die Hände und stand auf. »Dann folge mir in mein Laboratorium. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Oh, ich vergaß zu fragen: Hast du Hunger? Eliza macht dir gerne eine Kleinigkeit. Dann kannst du dich etwas stärken, während ich dich herumführe.«
3
Die Treppe, die in den Keller hinunterführte, roch alt und modrig. Die Stufen waren von der Feuchtigkeit ganz rutschig und aus dem Mauerwerk drang Schimmel. Die Petroleumlampe in Humboldts Hand spendete nur dürftiges Licht. Ihr flackernder Schein warf merkwürdige Schatten auf die grob behauenen Steine, sodass sie manchmal aussahen wie hämische Fratzen. So hatte Oskar sich immer mittelalterliche Folterkeller vorgestellt. In banger Erwartung eines Schreies oder des Klirrens von Ketten nahm er noch einen Bissen von seinem Brot. Eliza hatte es mit irgendeiner scharfen Wurst und exotisch schmeckenden Gemüsestückchen belegt. Der Geruch von Gewürzen und frischen Kräutern stieg ihm in die Nase.
»Eine interessante Haushälterin haben Sie da«, bemerkte er. »Ein wenig seltsam, aber das Essen schmeckt sehr gut. Wo findet man so jemanden?«
Humboldt war stehen geblieben und drehte sich zu ihm um. »Eliza ist weit mehr als nur eine Haushälterin«, sagte er. »In ihrem Land war sie eine mächtige Zauberin. Sie verfügt über Fähigkeiten, die du dir nicht mal im Ansatz vorstellen kannst. Eine davon ist die Telepathie. Schon mal davon gehört?«
Oskar schüttelte den Kopf.
»Es ist eine Gabe, die es einem ermöglicht, über weite Entfernungen hinweg mit anderen Menschen zu kommunizieren, allein mittels der Kraft der Gedanken.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin nie dahintergekommen, wie sie es macht, aber sie kann es, das ist unbestritten. Echte Magie, wenn du so willst. Aber um deine Frage zu beantworten: Ihre Heimat ist Haiti, der westliche Teil der Insel Hispaniola, in der Karibik gelegen. Ein wildes und urtümliches Land. Seine Einwohner verstehen sich auf alle Sorten von Magie, manche gutartig, manche böse. Erinnerst du dich an das Pulver, das ich dir ins Gesicht geblasen habe? Das war so eine Art von Zauberei. Es handelte sich dabei um eine Substanz, die Eliza aus ihrer Heimat mitgebracht hat«, erläuterte Humboldt. »Sie mischen sie dort aus allerlei Kräutern und Mineralien zusammen. Sie spielt bei einem Ritual namens Voodoo eine wichtige Rolle. Die Zauberer von Haiti besitzen die Fähigkeit, einen Menschen völlig willenlos zu machen, zu einer leeren Hülle ohne Geist, der nur auf Befehle reagiert. Eliza wird dir vielleicht bei Gelegenheit mal davon erzählen.«
Oskar hob eine Augenbraue. Bei Gelegenheit? Dieser verrückte Kerl ging also wirklich davon aus, dass er bleiben würde? Warum war er sich seiner Sache so sicher? Was war hier unten?
Nachdenklich biss er noch einmal von dem Brot ab.
Humboldt ging weiter und blieb vor einer massiven Eichentür stehen. Aus den unergründlichen Tiefen seiner Hose holte er einen riesigen Schlüsselbund hervor, wählte einen Schlüssel aus und schloss auf. Beim Öffnen quietschte die Tür in ihren Angeln.
Rötliches Licht drang von innen heraus. Humboldt löschte seine Lampe und winkte Oskar zu sich heran.
»Komm, mein junger Freund. Tritt näher.«
Oskar bezähmte seine Furcht und ging an Humboldt vorbei. Doch kaum war er in den Raum getreten, blieb er wie angewurzelt stehen.
Das Erste, was ihm auffiel, war die immense Größe. Vor ihm erstreckte sich ein quadratischer Saal von mindestens zwanzig Meter Länge, der von zahlreichen Petroleumlampen erhellt wurde. Überall standen Tische und Ablagen, auf denen sich seltsame Apparaturen befanden. Eine angenehme Wärme herrschte hier. Für einen Keller ganz und gar ungewöhnlich. Die Decke war gewölbt und mit Kreuzgraten versehen und wurde vonsteinernen Säulen getragen, die den Raum in regelmäßige Abstände untergliederten. Die rundbogigen Nischen entlang der Wände unterstrichen den Eindruck, sich im Inneren einer Kirche zu befinden.
Fragend blickte er seinen Gastgeber an.
»Ganz recht«, sagte Humboldt, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Eine ehemalige Krypta. Die Kirche selbst gibt es nicht mehr. Sie wurde im Dreißigjährigen Krieg bis auf die Grundmauern zerstört. An ihrer Stelle wurde ein Haus errichtet, mit dessen Besitzer ich seinerzeit gute Kontakte pflegte und der es mir, kurz vor seinem Tod, zu einem angemessenen Preis verkauft hat. Was du hier siehst, ist das Herzstück des gesamten Anwesens: ein Forschungslaboratorium, wie du es in Berlin – ich möchte sogar sagen: in ganz Europa – kein zweites Mal finden wirst.«
Oskar richtete seine Aufmerksamkeit auf die Gerätschaften, die hier herumstanden. Überall sprudelte und gluckerte es. Funken sprühten und Dämpfe stiegen auf. Auf manchen Tischen standen mannshohe Glaskolben, in denen aus grünlicher Flüssigkeit kleine Bläschen aufstiegen. An anderen rotierten Metallräder, scheinbar ohne äußeren Antrieb. Wieder auf anderen Tischen standen große Metallkugeln, zwischen denen bläuliche Blitze hin und her zuckten. Es war, als wäre er in die Werkstätte eines Hexenmeisters geraten.
»Das, was du hier siehst«, sagte Humboldt und deutete mit einer weit ausladenden Geste auf sein Labor, »sind die Früchte jahrelanger Forschung und Arbeit. Wärme, Licht, Elektrizität, die Grundlagen moderner Wissenschaft. Nichts davon hat mit Zauberei zu tun, alles ist erklärbar. Vorausgesetzt, man macht sich die Mühe und forscht gewissenhaft. Für Scharlatanerie ist hier kein Platz, genauso wenig wie für Ignoranz. Was mich interessiert, sind die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft. Nicht zu vergessen natürlich die Astronomie, die Sternenkunde. Ich werde dir mal mein Observatorium im obersten Stockwerk zeigen – falls du möchtest. Doch zunächst will ich dir erklären, wohin die Reise geht und was ich dort will.«
Auf dem Weg zu einem riesigen Tisch am hinteren Ende der Krypta kamen sie an einer gläsernen Vitrine vorbei. Sie war bis auf den letzten Fleck mit Waffen gefüllt. Pistolen, Messer, Armbrüste. Nichts davon sah den Waffen, die Oskar kannte, auch nur entfernt ähnlich. Alle waren sie modifiziert oder umgebaut worden und wirkten wirklich furchteinflößend.
»Was ist denn das hier?«, fragte er. »Haben Sie vor, in den Krieg zu ziehen?«
Humboldt sah Oskar ins Gesicht. »Wissen ist nicht immer leicht zu erlangen«, sagte er. »Noch immer gibt es viele, die lieber an altem Aberglauben festhalten und moderne Erkenntnisse für Teufelswerk halten. Dann gibt es natürlich die Neider und Konkurrenten, von denen die meisten mit kriminellen Methoden arbeiten. Das Leben eines Forschers ist mit Gefahren gespickt und man ist gut beraten, sich zur Wehr setzen zu können.« Er griff nach einer Armbrust. »Dieses Stück hier verfügt über eine Trommel zum Verschießen mehrerer Pfeile. Zwanzig Stück, um genau zu sein. Sie werden mittels Gasdruck abgeschossen und sind absolut tödlich.« Mit geschickten Bewegungen prüfte er Spannkraft und Zielgenauigkeit, ehe er das Instrument zurück an seinen Platz hängte. »Letztendlich hoffe ich immer, diese Geräte nie einsetzen zu müssen, aber manchmal führt eben kein Weg daran vorbei.«
»Und das hier?« Oskar deutete auf einen kleinen grauen Kasten, an dem ein Trichter, ähnlich wie bei einem Grammophon, befestigt war.
»Das ist eine meiner neuesten Erfindungen«, sagte der Forscher. »Ich nenne sie Linguaphon. Ein Gerät, welches das leidige Sprachproblem auf meinen Reisen lösen soll. Es ist noch nicht ganz ausgereift, aber ich habe vor, es bei der bevorstehenden Reise auf Herz und Nieren zu testen. Jetzt komm.«
Humboldt führte ihn nach hinten, drückte einen Knopf und setzte damit eine seltsam kalt leuchtende Lampe in Betrieb. Dann klopfte er auf einen Stuhl, der am Kopfende des riesigen Schreibtischs stand, und zog sich selbst auch einen Stuhl heran. »Zuerst mal möchte ich dir unsere Route zeigen.« Er öffnete eine Schublade, holte eine Karte hervor und breitete sie aus. »Unsere Reise wird lang und beschwerlich«, sagte er und fuhr mit dem Finger über die Abbildung. »Quer durch den Atlantik und an Feuerland vorbei. Schon mal davon gehört?«
»Aus Seefahrergeschichten. Es ist der Südzipfel von Südamerika, nicht wahr?«
»Ich sehe, du kennst dich aus. Die Einheimischen nennen es Tierra del Fuego. Eine wilde und unerforschte Gegend.«
»Wo starten wir?«
»Hier ist Berlin«, sagte der Forscher und tippte mit dem Finger auf die Karte. »Unser Schiff ist die Sakkarah der DDG Kosmos. Das Dampfschiff fährt von Hamburg über Le Havre, Montevideo und Buenos Aires bis runter an die Südspitze von Feuerland, durch die Magellanstraße und dann wieder hinauf bis an die chilenisch-peruanische Grenze. Auf dem Weg nach Callao lassen wir uns in Camaná absetzen, einer Stadt in der Region Arequipa. Dort mieten wir uns ein paar Maultiere und begeben uns bis zu diesem Punkt.« Sein Finger kam auf der Karte zum Stillstand. Eine Markierung war dort eingezeichnet, ein paar Wörter und eine lange Zahl.
»Cañón del Colca«, las Oskar. »Dreitausend Meter.«
»Die tiefste Schlucht der Erde«, sagte Humboldt. »Zumindest, wenn man den Landvermessern trauen darf. Der Cañón ist das Ziel unserer Reise.«
»Peru«, sagte Oskar. »Was wollen Sie denn dort?«
»Es gibt eine Legende in dieser Gegend«, sagte Humboldt und wandte sich seinem Arbeitstisch zu. Er öffnete eine Schublade und fing an, darin herumzuwühlen. »Alte Schriften berichten von den sogenannten Regenfressern. Es heißt, sie seien mächtige Zauberwesen, denen es gelungen sei, die Fesseln der Schwerkraft zu zerschneiden und wie Vögel den Himmel zu beherrschen.«
»Sie meinen, sie können fliegen? Das ist doch Unsinn, oder?«
»Die Legende besagt, sie würden die Regenwolken durchkreuzen und dem Land darunter immerwährende Dürre bescheren. Sie seien so gut wie nie zu sehen, weil sie oberhalb der Wolken lebten. Es heißt, nur Eingeweihte könnten den geheimen Weg zu ihrer Stadt finden. Ein Weg, der von mächtigen Wächtern bewacht werde. Na, klingt das nicht abenteuerlich genug?«
»Und so was glauben Sie?«
Humboldt lächelte. »Du bist ein Skeptiker, das gefällt mir. Jemand, der nicht gleich alles für bare Münze nimmt, sondern sich ein eigenes Bild machen will. Was die Regenfresser betrifft: Viele Legenden haben irgendwo einen wahren Kern.« Der Forscher zuckte die Schultern. »Wir werden es allerdings kaum herausfinden, wenn wir uns nicht die Mühe machen, selbst nachzuschauen, nicht wahr?«
Oskar war nicht überzeugt. »Das ist ganz bestimmt nur ein Märchen. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Können Sie es sich denn leisten, jeder Legende nachzugehen?«
»Natürlich nicht.« Auf Humboldts Gesicht erschien ein verschmitzter Ausdruck. »Es gibt da allerdings eine Sache, die du dir ansehen solltest. Warte mal, ich zeige sie dir.« Er zog eine Schublade auf und wollte gerade hineingreifen, als Oskar hochschrak. Er hatte eine Bewegung im hinteren Teil des Laboratoriums bemerkt. Es war nur ein Schatten gewesen, nicht größer als ein Hund, aber er hätte schwören können, dass es auf zwei Beinen lief. »Was ist das?«
Angestrengt spähte er in die Schatten, konnte aber nichts entdecken. Er glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als er die Bewegung erneut bemerkte. Diesmal auf der linken Seite und viel dichter dran. Jetzt konnte er auch ein Geräusch hören: das Klappern von hornigen Zehen auf Steinplatten. Die seltsame Erscheinung schien den Schatten der Tische dazu zu nutzen, sich unbemerkt zu nähern. Oskar schob seinen Stuhl zurück. Das war definitiv kein Hund. Es war auch keine Katze oder Ratte. Es war etwas gänzlich anderes.
»Nur keine Angst«, sagte Humboldt. »Das ist nur Wilma. Sie will uns einen Besuch abstatten.«
Die Kreatur war jetzt ganz nah. Langsam schob sie sich ins Licht. Ein langer Schnabel, wache, kluge Augen, ein stumpfer Körper und riesige Füße. Oskars Augen wurden groß wie Murmeln.
Das Wesen drehte den Kopf, musterte ihn eingehend und gab dann ein fragendes Quieken von sich.
Humboldt holte eine kleine Dose aus einem der Regale, öffnete sie und warf dem Wesen etwas in den Schnabel. Dann ging er vor ihm in die Hocke und streichelte ihm über den Kopf.
Oskar vergaß vor Verblüffung, den Mund zu schließen. »Das ist ein Kiwi«, stammelte er.
Der Forscher hob erstaunt die Augenbraue. »Ganz recht. Eine in Neuseeland heimische Zwergstraußenart. Du kennst dich aber gut aus.«
»Brehms Tierleben«, sagte Oskar. »Ich habe mal ein paar Seiten daraus in irgendeiner Illustrierten abgebildet gesehen. Ich habe mir nie vorstellen können, dass so ein Wesen tatsächlich existiert.«
»Oh, der Kiwi existiert«, sagte Humboldt. Er warf ihm noch einen Happen in den Schnabel. In der Dose waren irgendwelche Insekten. Käfer oder so. »Er ist der kleinste flugunfähige Laufvogel der Welt. Der Name dieses Prachtexemplars ist Wilma und sie ist ein Mädchen. Eigentlich ist der Garten ihr Revier, aber wenn sie merkt, dass ich hier unten bin, kommt sie mich besuchen. Sie hat einen eigenen Eingang dort hinten. Sie ist sehr klug. Willst du sie mal streicheln?«
Oskar streckte die Hand aus. Der Kiwi pickte kurz danach, doch als Oskar nicht zurückzuckte, ließ er sich widerstandslos am Kopf kraulen.
»Siehst du, sie mag dich. – So, genug gespielt, Wilma«, sagte Humboldt und gab dem Vogel einen Schubs. »Ab mit dir in den Garten, Insekten fangen. Husch, husch.« Der Vogel gab ein grunzendes Geräusch von sich und rannte dann schnurstracks in den hinteren Teil des Laboratoriums, von wo er gekommen war.
»Niedlich.« Oskar hatte seinen anfänglichen Schrecken überwunden. Dieses Haus steckte wirklich voller Überraschungen.
»Vor allem ein guter Aufpasser«, sagte Humboldt. »Besser als jeder Hund. Sie sieht zwar nicht gut, dafür hört und riecht sie umso besser. Außerdem ist sie nachtaktiv und kann einen Heidenspektakel machen, sollte jemand versuchen, auf das Grundstück zu kommen. Aber jetzt weiter. Erinnerst du dich, ich wollte dir etwas zeigen.« Er griff in die Schublade und zog einen Gegenstand heraus, der in mehrere Lagen Stoff gehüllt war. Er wickelte ihn aus und hob ihn hoch. Oskars Blick fiel auf eine flache, stumpf glänzende Kupferplatte. Etwa fünfzehn Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit. Nicht viel mehr als ein Blech. Das Ganze sah recht ramponiert aus. Die obere Ecke war abgebrochen und es befanden sich überall Kratzer und Einschläge darauf. Die eine Seite war von einer dunklen Schicht überzogen, die im Licht der Lampe merkwürdig fleckig wirkte.
»Das ist alles?« Oskar war enttäuscht. Nach all den Ankündigungen und der Vorfreude hatte er mit etwas wirklich Sensationellem gerechnet. Doch von allen Dingen, die er hier unten gesehen hatte, war dies bei weitem das unspektakulärste.
»Das, mein junger Freund, ist die Wiege der Rätsel.« Humboldts Augen leuchteten vor Aufregung. »Der größte Schatz, den ich hier unten aufbewahre.«
»Das soll ein Schatz sein? Das ist doch nur ein Stück Blech.«
»Es ist eine fotografische Platte«, sagte der Forscher. »Ich weiß nicht, ob du so etwas schon einmal gesehen hast. Vor einigen Jahren war es das übliche Verfahren, um Bilder dauerhaft auf ein Metallblech zu bannen. Es ermöglicht eine genaue, um nicht zu sagen exakte Darstellung der betreffenden Szene. Dies ist eine authentische Wiedergabe der Wirklichkeit, ein Betrug ist daher so gut wie unmöglich. Die Kameras waren sehr schwer und klobig, weshalb man in jüngerer Zeit dazu übergegangen ist, Fotos auf Filmmaterial zu belichten.«
»Ich erkenn da gar nichts.«
»Du musst sie im richtigen Winkel zum Licht halten. Hier, probier es am besten selbst aus. Aber vorsichtig, sie ist von unschätzbarem Wert.« Humboldt reichte ihm die Platte. »Eigentlich ist diese Technik veraltet«, fuhr er fort. »Wer immer diese Aufnahme gemacht hat, muss jemand sein, dem es gelungen ist, die Kamera auf ein handliches Format zu verkleinern. Ein Spezialist vermutlich.«
Oskar nahm das Metallblech und hielt es schräg gegen das Licht. Plötzlich erkannte er etwas. Ein Bild erschien. Es war völlig farblos, besaß aber trotzdem Tiefe und Details. Die Darstellung war so fein, dass man jeden Stein und jeden Grashalm erkennen konnte. Messerscharf ragte ein Zweig durchs Bild, an dem fächerartige Blätter hingen. Dahinter waren Häuser zu sehen. Merkwürdige Gebäude, die wie Wespennester aussahen und die, wie es schien, in eine Felswand hineingebaut worden waren. Strickleitern verbanden sie miteinander, während Hängebrücken die größeren Abgründe überspannten. Das Überraschendste aber waren die dunklen Flecken. Was Oskar anfangs für Wolken gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Luftfahrzeuge. Schiffe, Boote und zigarrenförmige Ballons, große und kleine, wohin das Auge reichte. Manche von ihnen hatten entfernte Ähnlichkeit mit Libellen, andere mit Schneeflocken, wieder andere waren völlig fremdartig. Sie alle waren bemannt und schwebten durch die Luft wie die Samen einer Pusteblume. Oskar lief ein Schauer über den Rücken. Es kostete ihn einige Mühe, sich von dem Anblick loszureißen.
»Faszinierend, nicht wahr?« Der Forscher nahm die Platte wieder an sich, schlug sie in die Tücher und legte sie zurück ins Fach.
»Wo haben Sie die her?«, fragte Oskar.
Humboldt deutete auf einen Fluss. »Gerüchten zufolge befand sie sich in einer Ledertasche, in der noch mehr von den Platten waren. Sie wurden an einen Sammler unbekannter Herkunft verkauft. Es war ein Riesenglück, dass ich überhaupt an diese eine gekommen bin. Gefunden wurde sie in einem Fluss namens Camaná.« Er tippte auf die Karte. »Er entspringt hier oben in den Bergen und durchquert das Gebiet des Cañón del Colca. Die Aufnahme muss also irgendwo hier gemacht worden sein.« Er umkreiste ein Gebiet von der Größe eines Daumennagels. »Ich werde demnächst dorthin aufbrechen und ich möchte, dass du mich auf dieser Reise begleitest. Betrachte es einfach als eine Art Bewährungsprobe. Entwickelt sich alles zu meiner Zufriedenheit, bekommst du von mir eine feste Stelle angeboten. Wenn nicht … nun, dann trennen sich unsere Wege. Was hältst du von dem Vorschlag?«
Oskar hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war immer noch ganz benommen von der Vision, die er gerade gehabt hatte. Das Bild auf der Kupferplatte hatte sich ihm ins Gedächtnis geprägt wie das Brandzeichen in den Rücken einer Kuh. Es war ihm unmöglich, es wieder abzuschütteln.
»Wann geht es los?«, murmelte er gedankenverloren.
»Unser Schiff startet in zehn Tagen.«
4
Zur selben Zeit in New York …
Der Zweispänner raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entlang Manhattans 5th Avenue in Richtung Central Park. Die Pferde hatten Schaum vor dem Maul und ihre Flanken glänzten vor Nässe. Der Mann auf dem Kutschbock scherte sich keinen Deut um die Protestrufe der Passanten und die Flüche der Kutschenbesitzer, die Mühe hatten, ihre Pferde im Zaum zu halten. Immer wieder ließ er die Peitsche knallen, während er seine Tiere zu noch mehr Eile anfeuerte.
Endlich tauchte das Gebäude des Global Explorer an der Kreuzung zur 58th East auf. Das Firmenlogo in Form eines gigantischen X schimmerte hoch über den anderen Dächern im Licht der Morgensonne. Zehn Flaggen, die eine Weltkugel, umrahmt von dem Firmenslogan ›Xplore the world in one day‹, zeigten, flatterten in der frischen Brise, die vom Hudson herüberwehte.
Max Pepper war spät dran. Sein Chef, der Firmengründer und Zeitungsmogul Alfons T. Vanderbilt, war kein Mann, den man warten ließ. Er hatte die Pforten des Sitzungszimmers, in dem an diesem Nachmittag Punkt 17 Uhr eine außerordentliche Redaktionssitzung stattfinden sollte, bereits vor fünf Minuten öffnen lassen. In weiteren fünf Minuten würden sich die Türen, die zum Sitzungssaal führten, unwiederbringlich schließen. Waren sie erst einmal zu, öffneten sie sich erst wieder, wenn Vanderbilt es erlaubte. Und Gnade demjenigen, der nicht rechtzeitig da war. Max hatte schon erlebt, dass Leute, die eine wirklich gute Entschuldigung hatten, gefeuert wurden, nur weil sie drei Minuten zu spät kamen. Max hatte keine Entschuldigung außer der, dass seine Frau mit einer Grippe das Bett hütete und er seine Tochter noch zum Klavierunterricht hatte bringen müssen. Gewiss, er hätte sich noch schnell etwas ausdenken können, aber Vanderbilt roch es, wenn jemand ihm Lügen auftischte. Seine einzige Chance bestand darin, noch vor Schließen der Türen in diesen Saal zu gelangen.