Die Stadt der Regenfresser

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Wie ein Wahnsinniger fuhr er auf den Abstellplatz vor dem Verlagsgebäude, bremste, klemmte seine Aktentasche unter den Arm, sprang aus der Kutsche, schleuderte dem Wachmann die Zügel in die Hand und raste die Treppenstufen empor. Die Glocken der nahe gelegenen Saint Thomas Church schlugen bereits. Seine Ledersohlen klackerten über den Marmorfußboden, während er mit weiten Schritten die Eingangshalle durchquerte, um dann die Treppen zum ersten Stock emporzuhasten. Als er den Gang zum Westflügel erreichte, sah er mit Schrecken, dass Winkelman sich bereits anschickte, die Türen zu schließen.
Aloisius Winkelman war Vanderbilts persönlicher Hausdiener, ein Relikt aus den Gründerjahren. Er sah aus, als habe er sein ganzes Leben in staubigen Archiven und leeren Korridoren verbracht. Ein Mann, so grau und schrumpelig, dass man glauben konnte, eine in Formaldehyd konservierte Leiche vor sich zu haben.
»Halt!«, brüllte Max, doch der Hausdiener fuhr völlig ungerührt mit der Schließung der Tür fort. Das Dröhnen, mit dem der erste Flügel sich schloss, hallte durch den Korridor. Entweder war Winkelman taub oder sadistisch. Vermutlich beides. Max bemerkte, wie ein schales Lächeln seinen Mund umspielte, als er sich anschickte, auch noch den zweiten Flügel zu schließen.
Max mobilisierte seine letzten Reserven und schoss halb laufend, halb schlitternd durch den Spalt, der rasch immer schmaler wurde. Dann war er durch. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Max versuchte zu stoppen, geriet jedoch ins Rutschen und krachte gegen den Kartenständer. Einige der mannshohen Kartenrollen fielen heraus und landeten scheppernd auf dem Boden. Max beeilte sich, sie wieder einzuräumen, sortierte sie, so gut es ging, und drehte sich dann um. Im Saal war es totenstill. Kein Scherz, kein Kommentar, nur anklagendes Schweigen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Sechzehn Redakteure, die meisten von ihnen in der Vorstandsetage des Global Explorer, beäugten ihn misstrauisch durch ihre vernickelten Brillen. Fast alle von ihnen waren älter als Max und trugen ihre Standesabzeichen – dunkle Anzüge, gezwirbelte Bärte und grau melierte Haare – mit großer Würde. Mit den kirschholzgetäfelten Wänden und marmornen Büsten im Hintergrund sahen die Herren aus, als würden sie für ein Gemälde posieren.
Vom Turm der Kirche drang der letzte Glockenschlag herüber. Alfons T. Vanderbilt, der am Kopfende des langen Tisches saß, hob seinen Hammer und klopfte dreimal auf die Gummiablage. Max beeilte sich, seinen Platz einzunehmen. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihn die Anstrengung mitgenommen hatte. Kurzatmig und mit wackeligen Knien ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Mit fahrigen Bewegungen strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und prüfte den Sitz seiner Krawatte.
»Meine sehr verehrten Vorstandsmitglieder, liebe Redakteure.« Vanderbilts Stimme war voll und wohltönend. »Ich begrüße Sie zur ersten außerordentlichen Sitzung in diesem Jahr.« Er sandte einen kurzen, aber ehrfurchtgebietenden Blick in die Runde. »Mit Vermerk des heutigen Datums, des 18.April 1893, möchte ich die Vollzähligkeit des Redaktionsstabes festhalten. Das Komitee ist hiermit abstimmungsberechtigt.«
Der Stift des Protokollführers kritzelte laut vernehmbar über das Papier des Sitzungsbuchs. Während Max sich noch fragte, worüber denn abgestimmt werden sollte, wuchtete sich Alfons T. Vanderbilt aus seinem Sessel und ging zur Kartenwand hinüber. Jedes Mal, wenn Max seinen Chef sah, schien dieser noch ein paar Kilo zugenommen zu haben. Sein Leib glich mittlerweile einem mit Gänsedaunen ausgestopften Kopfkissen, auf dem ein kleiner Kürbis thronte. Die weißen Haare waren dünn und kurz geschnitten, sodass die gerötete Kopfhaut durchschimmerte. Von hinten betrachtet sah der Firmenchef aus wie ein riesenhaftes Baby, das man in einen Anzug gestopft hatte. Vanderbilt griff nach einem Zeigestab aus Bambus, ging zur topografischen Übersichtskarte von Südamerika und ließ den Stab auf die Andenregion knallen. Alle sechzehn Redakteure einschließlich Max zuckten zusammen.
»Peru«, sagte Vanderbilt und richtete seine stechenden Augen auf Max. »Ihr Ressort.«
Der Redakteur erwiderte Vanderbilts Blick mit ungutem Gefühl. Täuschte er sich, oder war es hier plötzlich wärmer geworden?
Er starrte auf die Karte. Die untere Hälfte von Amerika gehörte zu seinem redaktionellen Zuständigkeitsbereich. Der Global Explorer war eine wöchentlich erscheinende Publikumszeitschrift, die sämtliche Bereiche der Naturwissenschaften umfasste. Von Expeditionen in unbekannte Länder über die neuesten Errungenschaften in Medizin und Technik bis hin zur Entdeckung neuer Tierarten. Es gab kein Thema, das nicht ausführlich und mit größtmöglicher wissenschaftlicher Seriosität behandelt wurde. Natürlich fanden sich auch immer wieder mal Beiträge, die sich über kurz oder lang als Märchen entpuppten, aber die Leser liebten diese Geschichten. Beiträge über Seemonster, Dinosaurier und Schneemenschen gehörten ebenso zum Erscheinungsbild des Explorer wie Berichte über versunkene Hochkulturen und rätselhafte Weltreiche. Doch seit einiger Zeit wehte ein frischer Wind in der Verlagsszene. In Washington war eine neue Gesellschaft gegründet worden. Eine Vereinigung, die sich rühmte, die größte geografische Gesellschaft der Welt zu sein, und die mit ständig wachsenden Mitgliederzahlen protzte. Ihr monatlich erscheinendes Fachmagazin erfreute sich großer Beliebtheit und schickte sich an, dem Explorer den Rang abzulaufen. Sein Name war National Geographic Magazine.
Max schluckte. »Was ist mit Peru?«
»Wann haben Sie zuletzt etwas von Boswell gehört?«
Max blickte verwundert. Harry Boswell war ein Fotograf, der im Auftrag des Global Explorer die Andenregion erkundete. Seine Reise dauerte nun schon über ein Jahr. In regelmäßigen Abständen verfasste er Reiseberichte und schickte diese zusammen mit seinen Aufnahmen an das Verlagshaus in New York. Bisher waren seine Berichte mit größter Regelmäßigkeit eingetroffen, doch seit etwa drei Monaten hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Kein Brief, kein Paket, kein Telegramm.
Max begann zu ahnen, worum es bei dieser außerordentlichen Sitzung ging. Er versuchte, sich an das Datum der letzten Sendung zu erinnern. »Es war Dezember vorigen Jahres«, sagte er und seine Stimme klang seltsam dünn. »Er hatte mir ein paar Aufnahmen der Andenregion nahe der chilenischen Grenze geschickt. Recht spektakuläres Material. Sie erinnern sich? Wir brachten einen Bericht darüber im Februar.«
»Und seitdem?«
»Funkstille«, gab Max zu. »Ich habe ein paarmal versucht, ihn telegrafisch über unsere Kontaktleute in Lima zu erreichen, aber Fehlanzeige. Wie es scheint, ist Boswell spurlos verschwunden. Ich wollte noch einen Monat warten, ehe ich eine offizielle Vermisstenanzeige herausbringe.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie Neuigkeiten, was aus ihm geworden ist?«
Statt einer Antwort kehrte Vanderbilt an seinen Platz zurück, griff unter den Tisch und brachte eine Ledertasche zum Vorschein. Es war ein abgewetztes, völlig stockfleckiges Teil, das so aussah, als habe es das letzte halbe Jahr im Hudson River gelegen. Max hielt den Atem an. Unzweifelhaft die Tasche von Boswell, eine Spezialanfertigung eines Lederwarenherstellers hier in der Stadt. Max erinnerte sich noch, wie stolz der Fotograf ihm seine Neuerwerbung präsentiert hatte, damals, ehe er in Richtung Süden aufbrach. Dreck und Reste von Pflanzenfasern fielen ab, als Vanderbilt die Tasche auf den Tisch legte. Der Zeitungsmogul zog ein Taschentuch aus der Hose, wischte sich kurz die Finger ab und machte sich dann daran, die lederne Deckklappe zu öffnen. »Diese Tasche wurde uns vor drei Tagen aus Lima zugeschickt«, sagte er, sichtlich angeekelt von dem schmutzigen Leder. »Sie kursierte dort für einige Zeit auf dem Schwarzmarkt, ehe einem aufmerksamen Zwischenhändler das Logo unserer Zeitung auffiel.« Er tippte auf das X und den umrahmenden Schriftzug. »Er setzte sich daraufhin mit unserem Kontaktmann in Verbindung, der in meinem Namen die Preisverhandlungen führte. Die Summe für den Rückkauf dieser Tasche war astronomisch. Mehr Geld, als Sie sich vorstellen können.«
»Und Boswell?«
»Von ihm fehlt bislang jede Spur. Wir wissen nur, dass er sich im Bereich der Colca-Schlucht aufgehalten hat. Wir werden bald eine Suchmannschaft vor Ort schicken, die nach seinem Verbleib forscht.«
Max schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist denn so besonders an der Tasche, dass Sie dafür Geld geboten haben? Für mich sieht sie aus wie ein wertloses Stück Leder. So etwas würde ich höchstens kaufen, um damit meine Frau zu erschrecken.«
Außer einem verhaltenen Räuspern blieb es still im Saal. Sein Scherz war offensichtlich auf unfruchtbaren Boden gefallen.
»Das liegt daran, dass Ihnen der Weitblick fehlt«, sagte Vanderbilt mit sarkastischem Unterton. »Was mich daran interessiert, ist weniger das Äußere als vielmehr ihr Inhalt. Sind Sie denn gar nicht daran interessiert, zu erfahren, woran Boswell gearbeitet hat, ehe er verschwand?« Der Zeitungsmogul bedachte ihn mit einem Lächeln, aus dem gleichzeitig Überlegenheit und Tadel herauszulesen war.
»Doch, natürlich …«
Vanderbilt ließ seine Wurstfinger im Inneren der Tasche verschwinden und holte vier reichlich ramponiert aussehende Metallbleche heraus. Fotoplatten.
Max beugte sich vor, konnte aber nichts erkennen. Mit gönnerhafter Miene ließ der Verleger jeweils zwei Platten nach rechts und zwei nach links wandern, während er aus verquollenen Augen die Reaktion seiner Redakteure beobachtete.
Diese ließ nicht lange auf sich warten. Ausrufe des Erstaunens waren zu hören, scharfes Einatmen, das Knarzen von Leder und das Rücken von Stühlen. Es dauerte nicht lange und kein einziger von den Redakteuren saß mehr auf seinem Platz, Max Pepper eingeschlossen. Alle waren aufgesprungen, um zu sehen, was Boswell da fotografiert hatte. Es bildete sich eine Traube von dunkelblauen Anzügen, weißen Hemden, Manschettenknöpfen, vernickelten Brillen und gesträubten Bärten. Es wurde geschoben und gedrängelt wie in der Schule bei der Milchausgabe. Schweißgeruch lag in der Luft. Max versuchte, sich vorzuarbeiten, scheiterte aber an der Aggressivität seiner Kollegen. Endlich gelang es ihm, seine Finger um eine der Metallplatten zu schließen und sie zu sich heranzuziehen. Er hielt sie im richtigen Winkel gegen das Licht und betrachtete die feinen Ätzungen.
Dann sagte er für längere Zeit nichts mehr.
5
Als es Max endlich gelang, seine Augen von der Aufnahme zu lösen, bemerkte er, dass Vanderbilt direkt neben ihm stand. Sein Gesicht war rot vor Erregung.
»Verblüffend, nicht wahr?«
Max’ Verstand bemühte sich, eine rationale Erklärung für das Gesehene zu finden, doch es gelang ihm nicht. »Sind Sie sicher, dass das keine Fälschung ist?«, brachte er schließlich mit krächzender Stimme heraus. »Irgendein optischer Trick, um uns an der Nase herumzuführen?«
Vanderbilt zuckte die Schultern. »Wenn es so wäre, hätten wir es mit einer verdammt guten Illusion zu tun«, sagte er. »So oder so, es wäre auf jeden Fall einen Artikel in unserer Zeitschrift wert. Aber wichtiger noch: Ich muss Boswell finden. Er muss darüber berichten, was er da fotografiert hat. Ich möchte, dass Sie sich darum kümmern, Max. Persönlich.«
Max hob den Kopf. Erst jetzt wurde ihm klar, was sein Verleger da von ihm verlangte. »Ich … ich soll nach Südamerika fahren?«
»Ganz recht. Und zwar so bald wie möglich. Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, Ihre Sachen zu packen und sich von Ihrer Familie zu verabschieden. Auf Ihren Namen ist ein Bahnticket ausgestellt, das Sie quer durch die Staaten bis nach San Francisco bringen wird. Von dort werden Sie mit dem Schiff Richtung Süden bis nach Lima fahren. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich regelmäßig bei mir melden.«
»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Max. »Ich bin Zeitungsredakteur, kein Abenteurer. Ich habe keine Ahnung von der Logistik eines solchen Unternehmens, geschweige denn von den Sitten und Gebräuchen eines Landes wie Peru. Und überhaupt: Was soll diese Eile? Ich sehe keinen Grund für einen überstürzten Aufbruch. Ich finde, wir sollten das alles noch einmal in Ruhe überdenken.« Seine Stimme wurde leiser. Er war sich mit einem Mal bewusst, dass das Gerangel an den Tischen beendet war und alle Augen sich auf ihn gerichtet hatten.
»Der Grund, mein lieber Pepper, ist folgender …«, Vanderbilt plusterte sich auf wie ein Truthahn. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass wir es mit einem unserer ärgsten Widersacher zu tun haben.«
»Dem National Geographic?«
Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Schlimmer. Wie wir aus Lima erfahren haben, hat es ursprünglich fünf Platten gegeben. Durch einen dummen Zufall scheint eine davon auf dem Schwarzmarkt an jemand anderen verkauft worden zu sein. Jemand, der uns allen bekannt sein dürfte und der uns große Schwierigkeiten machen kann. Sein Name …«, er legte eine Kunstpause ein, »… ist Carl Friedrich von Humboldt.«
Wieder waren Ausrufe des Erstaunens zu hören, diesmal jedoch durchsetzt mit Flüchen. Jeder in diesem Raum kannte den Namen. Der Forscher – der Legende zufolge ein illegitimer Spross des großen Alexander von Humboldt – hatte sich in den vorangegangenen Jahren als zäher Widersacher erwiesen. Immer, wenn irgendwo eine neue Insel, ein unbekannter Stamm oder gar eine verschollen geglaubte Kultur entdeckt wurde, war Humboldt schon vor ihnen da gewesen. Sei es in Madagaskar, in Tasmanien oder auf den Osterinseln. Er hatte Grönland genauso bereist wie Indien, Afghanistan und den Hindukusch. Der Mann schien ein untrügliches Gespür für interessante Standorte und einen schier unersättlichen Hunger auf Abenteuer zu haben.
An sich war daran nichts Verwerfliches, Abenteurer gab es genug. Dieser Humboldt neigte jedoch dazu, seine Funde zu publizieren und das National Geographic hatte bereits großes Interesse an seinen Berichten bekundet.
»Sie sehen also, mein lieber Pepper, wie wichtig der Faktor Zeit in diesem Fall ist. Wenn Humboldt Wind von der Sache bekommen hat, zählt jeder Tag.«
»Wenn der Mann wirklich an der Sache dran ist, dann sehe ich noch weniger Grund, jemanden wie mich auf diese Reise zu schicken. Humboldt ist ein Abenteurer, wie er im Buche steht. Ein Forscher von echtem Schrot und Korn. Zäh, skrupellos und absolut unberechenbar. Gegen einen solchen Konkurrenten hätte ich keine Chance.«
»Sie werden nicht allein sein«, sagte Vanderbilt und ein schwer zu deutendes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich werde Ihnen jemand zur Seite stellen, der es in Sachen Intelligenz und Durchtriebenheit durchaus mit Humboldt aufnehmen kann. Jemand, der sich an jedem Ort der Erde zurechtfindet und sich hervorragend zu verteidigen weiß. Ich wende mich nur an sie, wenn es um Aufträge von besonders heiklem Charakter geht. Sie arbeitet gerne im Verborgenen. Ihr Name ist Valkrys Stone.«
»Eine Frau?« Max glaubte, sich verhört zu haben.
»Ganz recht.« Vanderbilt verschränkte die Arme hinter dem Rücken und richtete seinen Blick hinüber zum Central Park. »Miss Stone arbeitet schon seit vielen Jahren für mich. Sie haben von ihr bislang noch nichts gehört, weil hierfür keine Notwendigkeit bestand. Sie schätzt es, unerkannt zu bleiben. Aber sie ist eine der Besten ihres Faches, das können Sie mir glauben.«
Max schwieg. Während er nach außen hin so tat, als würde er sich Vanderbilts Vorschlag durch den Kopf gehen lassen, überlegte er fieberhaft, wie er aus dieser unangenehmen Situation herauskam. Er war ein Stadtmensch, ein Stubenhocker, wenn man so wollte. Er liebte es, über fremde Länder zu berichten, aber selbst dorthin zu reisen war ihm ein Gräuel. Schon als Kind war ihm jede Ortsveränderung zuwider gewesen. Er zermarterte sich das Hirn, was sein Chef wohl als Entschuldigung durchgehen lassen würde. Das Dumme war: Ihm fiel nichts ein. Die Sekunden verrannen. Mit jedem Ticken der Wanduhr wurden die Blicke der Anwesenden bohrender. Endlich hielt Max es nicht mehr länger aus. Kleinlaut und mit einem ganz miesen Gefühl im Bauch sagte er: »Wenn es denn unbedingt sein muss …«
Der Zeitungsmogul lachte und schlug ihm seine Pranke zwischen die Schulterblätter. »Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Pepper. Das ist der Geist, der in diesen heiligen Hallen weht. Lassen Sie uns doch mal über eine Gehaltserhöhung sprechen, wenn Sie wieder zurück sind.«
6
Einige Tage später, irgendwo in den peruanischen Anden …
Harry Boswell erwachte aus einem tiefen, unruhigen Schlaf. Er benötigte ein paar Sekunden, bis er seine Gedanken sortiert und sich vergewissert hatte, dass er immer noch eingesperrt war. Er stellte fest, dass er am Boden lag, vermutlich, weil er mal wieder aus seinem Bett gefallen war. Kein Wunder. Seit seiner Entführung konnte er nicht mehr richtig schlafen. Er wurde von Albträumen geplagt, die ihn selbst in den frühen Morgenstunden nicht zur Ruhe kommen ließen. Seine Liegestatt bestand nur aus einer schmalen, unbequemen Pritsche und einer groben Decke. Nichts, was man auch nur annähernd als Bett bezeichnen konnte. Das dünne Laken reichte bei weitem nicht aus, ihn vor der feuchten Kälte zu schützen, die Nacht für Nacht aus der Schlucht emporkroch. Matratze und Tuch waren aus irgendwelchen Gräsern geflochten, die zwar zäh und widerstandsfähig, aber keineswegs wärmend waren.
Er rappelte sich auf. Von seinen Verletzungen war kaum noch etwas zu sehen. Die Wunden auf seinem Rücken und seiner Schulter waren verheilt. Auch das Gift war restlos aus seinem Körper verschwunden. Geblieben war die Gewissheit, ein Gefangener zu sein. Eingesperrt in einer vier Quadratmeter großen, kokonartigen Zelle mit rundem Boden und gewölbter Decke. Fenster gab es keine und die einzige Tür war immer verschlossen.
Wie viele Wochen oder Monate waren vergangen, seit er in das geheime Reich eingedrungen war und seine Fotos geschossen hatte? Drei? Vier? Er wusste es nicht mehr. Nach seiner Flucht hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht als Folge des Giftes. Gut, man hatte ihn gerettet. Man hatte ihn geheilt und wieder zu Kräften kommen lassen, aber wofür? Seit seiner Gefangennahme hatte er mit niemandem gesprochen. Essen und Trinken brachte man ihm, wenn er schlief. Seine Notdurft verrichtete er über einer Öffnung, die ins Bodenlose führte. Ein Loch, das zu klein war, um dadurch entfliehen zu können, aber wiederum groß genug, um fortwährend Angst vor dem bodenlosen Abgrund zu haben. Allerdings hatte das Loch auch einen Vorteil. Boswell war in der Lage, ein wenig von der Welt zu erkennen, die ihn umgab. Wenn er mit dem Gesicht ganz nah heranging, konnte er sehen, dass seine Zelle wie ein Wespenkokon in eine senkrechte Felswand gebaut war. Viele weitere Kokons befanden sich dort. Manche klein, manche von beträchtlichen Ausmaßen. Sie waren durch Leitern, Zug- und Hängebrücken miteinander verbunden, auf denen sich irgendwelche Gestalten bewegten. Doch sie waren zu weit entfernt, als dass er sie genauer hätte sehen können. Ab und zu sah er eines der seltsamen Luftschiffe unter sich hinweg kreuzen. Manche schlank und schmal, andere dick und bauchig. Das waren Momente, in denen er jedes Mal vor Ehrfurcht die Luft anhielt. Dieses seltsame Volk bewegte sich mit derselben Sicherheit und Grazie durch die Lüfte, wie es die wohlhabenden New Yorker mit ihren Segelbooten daheim auf dem Wasser taten.
Was ihn bedrückte – mal abgesehen davon, gefangen gehalten zu werden –, war die Tatsache, dass es ihm in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal gelungen war, seine Entführer zu Gesicht zu bekommen. Er wusste nicht, wie sie aussahen, wie sie sich kleideten, welchen Schmuck sie trugen. Gewiss, er hatte schon oft versucht, den Moment abzupassen, in dem man ihm sein Essen brachte, aber es war wie verhext. Sie schienen genau zu wissen, wann er schlief und wann er nur so tat. Blieb nur der Blick durch das Loch.
Boswell bemerkte, dass er seine Brille nicht aufhatte. Er suchte unter dem Bett, doch da war sie nicht. Er kniff die Augen zusammen und spähte umher. Durch die Ritzen im Flechtwerk des Daches fielen Sonnenstrahlen in seine Hütte, die wie strahlende Finger durch die Dunkelheit tasteten. Plötzlich sah er die Brille an einem weiter entfernten Teil der Hütte funkeln. Er wollte sie schon aufheben, als er einen merkwürdigen Geruch bemerkte. Rauch. Es roch, als ob irgendwo in der Nähe ein Brand ausgebrochen wäre. Er kniff die Augen zusammen. Unter der Brille stieg eine schmale Rauchsäule in die Höhe. Er rutschte näher heran und untersuchte das Phänomen. Eines der Brillengläser hatte wohl das Schilf entzündet. Ein kleines Flämmchen züngelte empor. Er wollte es gerade mit einem Schöpfer Wasser löschen, als ihm eine Idee kam.
Vorsichtig nahm er die Brille und fuhr damit langsam über das knochentrockene Binsengeflecht. Die gleißenden Strahlen ausnutzend, entzündete er an mehreren Stellen das Grasgeflecht und hielt die Glut dadurch am Leben, dass er sanft blies. Zum Glück war die Rauchentwicklung relativ gering. Wären die Gräser feuchter gewesen, hätte ihn der Qualm vermutlich sofort verraten. So aber gelang es ihm, den Boden Stück für Stück und entlang eines schmalen Streifens in Kohle zu verwandeln.
Nach einer guten Stunde hatte er sein Werk vollendet. Schweißgebadet lehnte er sich zurück. Er hatte einen Kreis von vielleicht achtzig Zentimetern umrissen, gut zu erkennen an der Glutspur, die sich als schwarzer Streifen abzeichnete. Er setzte seine Brille auf, erhob sich und trat mit dem Fuß auf die geschwächte Bodenpartie. Ein morsches Krachen ertönte.
Hoffnung keimte in ihm auf.
Noch einmal trat er auf, diesmal fester. Das Krachen wurde lauter und die Zelle erzitterte. Er konnte nur beten, dass sein Befreiungsversuch von niemandem bemerkt wurde. Wenn es ihm nur gelänge, mehr Druck auf die Bodenpartie auszuüben! Jetzt versuchte er etwas anderes. Er ließ sich auf sein rechtes Knie fallen. Dabei verlagerte er sein ganzes Gewicht auf die rechte Seite, sodass seine achtzig Kilo punktgenau zum Einsatz kamen. Ein hässliches Knirschen ertönte. Die Pflanzenfasern brachen an mehreren Stellen. Er spürte, dass es beim nächsten Mal klappen würde. Seine Hände schwitzten vor Aufregung. Noch einmal ließ er sich fallen und legte so viel Kraft in die Bewegung, wie ihm möglich war. Sein Bein versank in der plötzlich entstandenen Öffnung – und er stürzte um ein Haar hinterher. Dank seiner schnellen Reflexe gelang es ihm gerade noch, sich festzuhalten.
Vorsichtig zog er sein Bein heraus. Vor ihm klaffte ein mannsbreites Loch im Boden.
Er konnte seine Begeisterung kaum zügeln. Wenn ihn nur niemand gehört hatte! Er spitzte die Ohren. Alles war ruhig. Kein Geschrei, kein Gerenne. Es schien tatsächlich so, als sei seine Befreiungsaktion unbemerkt geblieben. Er wartete noch ein paar Minuten, um ganz sicherzugehen, dann beugte er sich vor und streckte seinen Kopf durch die Öffnung.
7
Nein!«
Elizas Gesicht war schweißgebadet.
Ihre Hände hatten das Metallblech gepackt und hielten es fest umklammert. Die Finger waren so verkrampft, dass die Knochen weiß hervortraten. Oskar schrak von seiner Lektüre hoch. Er hockte in einem Ohrensessel, den Kopf vorgebeugt und die Nase tief vergraben in Brehms Tierleben, dessen sämtliche Bände in ledergebundener Erstausgabe vor ihm im Regal standen.
»Nein.«
Humboldt schob seinen Stuhl zurück und eilte mit besorgtem Gesicht zu ihr hinüber. Der Tisch war übersät mit Reisedokumenten und Ausweispapieren, letzte Vorbereitungen für ihre bevorstehende Reise.
Die letzten Tage waren ziemlich aufregend gewesen. Oskar hatte mit dem Forscher Besorgungen machen dürfen, hatte ihn zu Spezialausstattern begleitet und neben ihm auf dem Kutschbock sitzen dürfen. Genau wie die feinen Herrschaften, die sonst immer mit Verachtung an ihm vorbeigefahren waren. Es waren Tage gewesen, an denen er fast vergessen hatte, wer er war und woher er kam.
Doch die Zeit neigte sich dem Ende zu. Schon bald würden sie aufbrechen und Oskar hatte immer noch keine Entscheidung getroffen.
Humboldt strich beruhigend über Elizas Arm. Er versuchte, ihr das Blech aus der Hand zu nehmen, doch sie hielt es so fest gepackt, dass ihr die scharfe Kante ins Fleisch schnitt. Ein Blutstropfen quoll hervor. Oskar beeilte sich, das Buch zurückzustellen, und lief ebenfalls zu den beiden hinüber.
»Bitte lass los.« Humboldts Stimme war gleichzeitig sanft und fordernd. »Leg sie wieder hin.«