Die Stadt der Regenfresser

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Doch seine Worte blieben wirkungslos. Die Frau zitterte am ganzen Leib.
»Eliza!« Sein Ton wurde strenger. »Lass sie los!«
Endlich war eine Reaktion zu erkennen. Sie hob ihren Kopf. Ihr Blick war in weite Ferne gerichtet.
»Was ist mit dir? Hattest du eine Vision?«
Ein kaum wahrnehmbares Nicken war zu sehen.
»Die Platte?«
Wieder ein leichtes Nicken. Das Blut hatte sich mittlerweile zu einer kleinen Pfütze gesammelt.
»Du musst die Platte jetzt weglegen! Löse den Kontakt, ich befehle es dir.«
Langsam und unter Aufbringung all ihrer Willenskraft öffnete Eliza ihre Hände. Die Platte fiel scheppernd auf den Tisch.
»Oskar, ein Taschentuch, schnell.«
Oskar eilte ins Nebenzimmer und holte eine Stoffserviette.
»Was hast du gesehen?« Humboldt nahm die Serviette und umwickelte die verletzte Hand. »Hatte es etwas mit der Platte zu tun?«
Eliza bewegte ihren Kopf langsam auf und ab. Sie wirkte immer noch völlig weggetreten. Die Augen weit aufgerissen, sämtliche Muskeln angespannt, saß sie da und starrte in die Ferne. Ihre unverletzte Hand zitterte.
»Sieht aus, als wolle sie etwas aufschreiben«, sagte Oskar. »Vielleicht möchte sie Stift und Papier.«
»Ausgezeichnete Idee.« Humboldt griff in die Schublade, holte einen Stift und Papier hervor und legte beides in ihre Reichweite. Elizas Hand schoss vor, griff nach dem Stift und begann, das Papier mit Zeichen zu füllen. Zuerst waren da nur fahrige Symbole zu sehen. Kringel, Schnörkel, Wellenlinien. Doch plötzlich begannen sich Buchstaben zu formen. Ein B, dann ein O und ein S. Hilfesuchend blickte Oskar zu Humboldt, doch der Forscher schien genauso ratlos zu sein. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Unverwandt starrte er auf das Papier, das mittlerweile aussah, als wäre eine Horde Ameisen mit Tintenfüßen darübergelaufen.
Endlich kamen Elizas Finger zur Ruhe. Ihre Hand entspannte sich und ihre Augen wurden wieder lebendig.
Oskar hielt den Kopf schief und versuchte zu entziffern, was da stand. Neben vielen unsinnigen Zeichen trat ganz deutlich ein Wort hervor. Er formte die Buchstaben mit seinem Mund.
»Boswell.«
Humboldt atmete laut hörbar ein. »Harry Boswell?«
»Wer soll das sein?« Oskar blickte verwundert auf. »Jemand, den Sie kennen?«
Der Forscher nickte nachdenklich. »Wenn es der ist, den ich meine, dann ist er ein Fotograf. Ein Reporter des New Yorker Magazins Global Explorer. Ein ziemlich unverfrorener Bursche, aber mutig. Bin ihm vor einigen Jahren mal begegnet. Ihm würde ich eine solch waghalsige Expedition durchaus zutrauen. Kann es sein, dass er es war, den du gesehen hast?«
Eliza schien immer noch unter den Nachwirkungen ihrer Vision zu leiden. Ein fiebriger Glanz lag in ihren Augen. »Harry Boswell. Das ist der Name, den ich im Geiste gehört habe.« Ihre Stimme klang matt und kraftlos. »Er ist in großer Gefahr.«
»Erzähl mir davon.«
»Er wird irgendwo gefangen gehalten. Er … er hat versucht, sich befreien. Es ist ihm gelungen, ein Loch in den Boden zu stoßen, durch das er fliehen konnte. Oh Gott, dieser Abgrund. Tiefer als alles, was ich je gesehen habe.« Eliza hielt Humboldts Hand umklammert. »Er ist über die Unterseite der Holzkonstruktion geklettert. Dann gelang es ihm, eine Brücke zu erreichen. Er wurde entdeckt. Sie haben ihn wieder eingefangen … hässliche Gesichter, wie Vögel. Bucklige, gedrungene Kreaturen, mehr Tier als Mensch.« Ihre Augen waren vor Furcht geweitet.
»Und dann?«, drängte Humboldt. »Was ist weiter geschehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Kontakt ist abgerissen. Ich habe ihn verloren. Es tut mir leid.«
Der Forscher streichelte ihr über die Hand. »Ist schon gut. Es braucht dir nicht leid zu tun«, sagte er. »Die Tatsache, dass du überhaupt einen Kontakt herstellen konntest, ist mehr, als wir erwarten durften.«
Oskar konnte sich nicht länger beherrschen. »Kontakt? Was für einen Kontakt? Was ist mit Eliza geschehen und wer ist dieser Boswell?«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Humboldt. »Du warst gerade Zeuge von Elizas besonderer Fähigkeit. Ich hatte dir davon erzählt.«
»Die Telepathie?«
»Ganz recht.« Er stand auf, ging an sein Bücherregal und zog einen dicken, ledergebundenen Band heraus. Er blätterte eine Weile darin herum, dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Aufgeschlagen legte er das Buch vor Oskar hin und deutete auf die Überschrift. ›Poltergeister, Kugelblitze und Telepathie – ein Ausflug ins Reich des Aberglaubens‹.
»Die Telepathie wird hierzulande ins Reich der Märchen und der dunklen Mächte verbannt«, sagte Humboldt. »Ich bin auf meinen vielen Reisen schon so manchen Menschen mit besonderen Fähigkeiten begegnet, doch Eliza ist etwas Besonderes. Sie verfügt über die Gabe, mit anderen Personen in Verbindung zu treten, und seien diese auch noch so weit entfernt.«
»Heißt das, sie und dieser Boswell sind sich gerade in Gedanken begegnet?« Das war doch wirklich zu toll. Oskar stellte sich sofort vor, wie es sein musste, in den Gedanken anderer Menschen herumzuspazieren. Ob er so etwas beruflich verwerten konnte …?
»Davon dürfen wir wohl ausgehen«, sagte der Forscher.
»Dann war er es, der das Foto gemacht hat.«
Humboldt nickte. »Ich glaube, die Platte ist der Schlüssel. Als Eliza sie berührte, muss sie eine Verbindung mit ihm eingegangen sein.«
»Und warum haben Sie das nicht schon früher versucht? Die Platte ist doch jetzt schon seit einer ganzen Zeit in Ihrem Besitz.«
»Haben wir«, sagte Eliza. Ihre Stimme war schwach und leise. »Aber manche Verbindungen brauchen länger als andere. Manchmal geht es nur an bestimmten Tagen oder zu einer bestimmten Stunde.« Ein müdes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich fürchte, es ist keine sehr genaue Wissenschaft.«
»Nein, meine Liebe.« Humboldt lächelte sie an. »Es ist Magie.«
»Und wo ist dieser Boswell?«, fragte Oskar.
»So genau kann ich das nicht sagen«, sagte sie. »Irgendwo in Peru. Die Verbindung war nur sehr kurz und die Vision leider nur sehr schwach. Ich habe Berge gesehen und eine Schlucht. Ich bin sicher, dass ich ein klareres Bild empfangen werde, je mehr wir uns ihm nähern.«
Humboldt räumte das Buch weg und kam zu ihnen zurück. »Auf jeden Fall ist es ein enormer Fortschritt. Wir müssen davon ausgehen, dass auch andere Unternehmen auf die Idee kommen könnten, eine solche Expedition anzutreten. Denkt daran: Es gab noch mehr solcher Platten. Aber die Tatsache, dass Eliza einen Kontakt herstellen konnte, verschafft uns einen gewaltigen Vorteil.«
»Was meinen Sie?«
»Es wird ab jetzt immer wieder möglich sein, mit Boswell Verbindung aufzunehmen. Wir können herausfinden, was er gerade tut und wo er sich aufhält. Vielleicht können wir ihm sogar mittels Telepathie Botschaften zukommen lassen.«
»Vorausgesetzt, er bleibt lange genug am Leben.« Elizas Gesichtsausdruck wirkte besorgt. »Was ich gesehen habe, war keineswegs ermutigend.«
»Ein Grund mehr, dass wir uns beeilen«, sagte Humboldt. »Jemand wie er könnte für das Gelingen unserer Reise von unschätzbarem Vorteil sein. Stellt euch nur mal vor, was er uns alles zu erzählen hätte.« Humboldt strahlte vor Aufregung, als er sich erhob und zu seiner Glasvitrine hinüberging. »Auf diese gute Nachricht brauche ich erst mal einen Schluck«, sagte er und nahm eine Flasche und ein Glas heraus.
In diesem Moment erklangen draußen im Hof die Geräusche von Hufen. Der Forscher spähte über den Rand seiner Brille durchs Fenster. Eine Kutsche war vorgefahren. Der Fahrer stieg ab und begann damit, Gepäckstücke abzuladen. Oskar glaubte eine junge Frau zu erkennen, die im Inneren der Droschke saß.
Humboldt stellte Flasche und Glas auf den Tisch und ging zum Fenster. »Da ist sie ja endlich. Das wurde aber auch langsam Zeit.«
8
Die junge Frau trug ein weißes Kopftuch, unter dem einige blonde Strähnen hervorlugten. Ihr Gesicht war länglich und von ausgesprochen heller Farbe. Sie sah aus, als würde sie wenig Zeit an der frischen Luft verbringen. Ihre hohen Wangenknochen, die schmalen, fein gezogenen Augenbrauen und der geschwungene Mund verliehen ihr ein hochmütiges Aussehen. Nicht unbedingt sein Typ, entschied Oskar, aber doch interessant genug, nicht gleich jedes Interesse zu verlieren. Sie trug ein hellblaues Kleid und weiße Schuhe, die ihr kühles Erscheinungsbild unterstrichen. Eine der typischen feinen Großstadtdamen, die Oskar schon oft bewundert, die ihn aber immer mit Verachtung gestraft hatten.
In Humboldts Begleitung trat er aus dem Haus und ging auf sie zu. Er wollte gerade zu einem fragenden Lächeln ansetzen, als sich ihre Blicke kreuzten. Die Augen des Mädchens hatten denselben eisgrauen Farbton wie die des Forschers.
Er schwieg.
»Hallo Onkel«, sagte sie, ohne Oskar weiter zu beachten. »Ich hoffe, ich komme nicht zu spät. Ich hatte leider keine Zeit, dir wegen meiner Ankunft zu telegrafieren.«
»In der Tat? Wir warten hier schon alle sehnsüchtig auf dich«, sagte Humboldt. »Wie war deine Reise?«
»Lang und beschwerlich, wie immer«, sagte das Mädchen. »Ich habe das Gefühl, der Kutscher ist durch jedes Schlagloch zwischen Heiligendamm und Berlin gefahren. Ich kann es kaum erwarten, mir endlich etwas Bequemes anzuziehen.« Ihr Blick streifte Oskar. »Wer ist das?«
»Ein Gast. Ein sehr talentierter junger Mann, den ich als Diener mitzunehmen gedenke. Ich dachte mir, er wird unsere kleine Expedition verstärken. Oskar, das ist meine Nichte Charlotte.«
»Sehr erfreut.« Ernsthaft bemüht um ein möglichst gutes Benehmen, streckte er ihr die Hand entgegen. Schließlich musste die junge Dame ja nicht gleich erfahren, dass er auf der Straße aufgewachsen war, doch das Mädchen ignorierte ihn.
»Ein neuer Diener? Wo hast du ihn gefunden? Hat er gute Referenzen?«
Humboldt musste sich ein Lachen verkneifen. »Nun, das vielleicht nicht gerade, aber ich habe das Gefühl, dass er genau der Richtige ist. Und ein weiterer Mann ist für diese Reise unerlässlich. Warum gehen wir nicht ins Haus und unterhalten uns drinnen weiter?«
»Sehr gerne, Onkel.« Mit einem kühlen Blick in Oskars Richtung sagte sie: »Die Koffer kommen ins Mansardenzimmer, ganz die Treppe rauf. Und sei vorsichtig damit, sie sind sehr alt und sehr wertvoll. Ich möchte nicht, dass sie irgendwelche Schrammen abbekommen.« Damit eilte sie in Begleitung ihres Onkels an ihm vorbei und durch die Haustür.
Oskar blieb wie vom Donner gerührt stehen. Was für eine Zicke! Humboldt hatte ihm nichts von einer Nichte erzählt, geschweige denn davon, dass er sie mitzunehmen gedachte. Für wen hielt sich dieses junge Fräulein? Sie tat so, als würde ihr das Haus gehören. Von Humboldt ließ er sich ja Befehle erteilen, aber von diesem Mädchen? Er starrte eine Weile grimmig zu Boden, bis er die belustigten Blicke des Kutschers und des Stallburschen bemerkte. Letzterer war ein netter, aufgeweckter Junge mit apfelroten Wangen. »Probleme mit dem Fräulein Charlotte?« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Oskar verkniff sich einen Kommentar und schnappte sich den ersten der drei Koffer. Er wollte unbedingt mitbekommen, was im Haus weiter gesprochen wurde.
»Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe«, hörte er die Stimme des Mädchens aus dem Speisezimmer. »Aber ich wollte so schnell wie möglich wieder zurück. Dieser Kurbetrieb macht mich wahnsinnig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welch belangloses Zeug da geredet wird. Und dann immer diese dämliche Etikette. Ich bin es leid, im weißen Kostüm herumzulaufen und artig zu knicksen.«
Oskar rückte näher an die Tür, die Ohren weit aufgesperrt.
»Wie geht es meiner Schwester?«, erkundigte sich Humboldt. »Hat sich ihr Zustand verbessert?«
»Mutter geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte Charlotte. »Sie ist kräftig genug, alles und jeden in ihrer Umgebung herumzukommandieren, mich eingeschlossen. Trotzdem wird sie wohl noch eine Weile dort bleiben müssen. Mindestens ein halbes Jahr hat der Arzt gesagt. Ihre Lunge ist immer noch sehr schwach.«
»Der Fluch der Frauen in meiner Familie«, sagte Humboldt. »Abgesehen natürlich von dir. Du warst stets mit einer bärenstarken Gesundheit gesegnet. Hast du ihr von unserer Expedition erzählt?«
»Kein Sterbenswörtchen«, sagte Charlotte entrüstet. »Sie hätte sofort wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen. Du weißt ja, wie sehr sie es hasst, dass ich unter deinem Dach wohne. Forschung und Wissenschaft sind ihr eben nicht damenhaft genug. Wenn sie auch noch erführe, dass ich mit dir auf Expedition gehe, würde sie durchdrehen. Ich habe ihr erzählt, dass wir eine Reise nach Wien unternehmen und eine Zeit lang nicht erreichbar sein werden.«
»Irgendwann wird sie es trotzdem erfahren«, erwiderte Humboldt düster. »Und dann steht uns mächtig Ärger ins Haus.«
»Nicht, wenn wir es geschickt anstellen«, sagte Charlotte. »Aber darüber müssen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Zuerst mal muss ich mich umziehen. Meinst du, dein neuer Diener hat die Koffer schon nach oben getragen? Einen besonders fleißigen Eindruck macht er nicht gerade.«
Oskar zuckte von der Tür zurück und beeilte sich, auch den zweiten Koffer ins Haus zu tragen. Als er wieder eintrat, stand Humboldts Nichte im Türrahmen.
»Ich dachte, du wärst schon längst fertig«, sagte sie mit missbilligendem Blick. »Was hast du nur die ganze Zeit über getrieben?«
»Ich musste dem Stallburschen mit den Pferden helfen«, log Oskar und ging an ihr vorbei.
»Wer’s glaubt«, sagte das Mädchen und schnappte sich den dritten Koffer. »Jetzt aber ein bisschen plötzlich! Ich sehne mich nach meinem Zimmer und einem warmen Bad.«
In diesem Augenblick kam Eliza aus der Küche. »Charlotte«, rief sie und umarmte die junge Frau. »Hattest du eine schöne Reise? Du musst durstig sein. Darf ich dir etwas anbieten? Wasser, Kakao oder Tee?« Oskar rümpfte die Nase. Er konnte sich vorstellen, was nun kam: Frauengespräche! Nichts, was man unbedingt belauschen musste.
Er ließ die beiden Damen am Fuß der Treppe stehen und schleppte die Koffer Stufe für Stufe empor. Schon nach der Hälfte kam er mächtig ins Schwitzen. Was hatte dieses Mädchen nur da drin? Ziegelsteine?
Keuchend und schnaufend erreichte er den obersten Treppenabsatz. Mit der Fußspitze öffnete er die Tür zum Mansardenzimmer und trat ein.
Der Raum war groß, luftig und hell. Durch das weit geöffnete Fenster drangen Frühlingsluft und das Gezwitscher von Vögeln. Oskar setzte die Koffer ab und sah sich um. Es gab ein Bett, einen Tisch sowie ein Sofa nebst Beistelltisch. Der meiste Platz wurde von Bücherregalen eingenommen, die entlang den Seitenwänden standen und randvoll mit Werken unterschiedlichster Größe und Ausstattung bestückt waren. Oskar konnte seine Neugier nicht beherrschen. Bücher übten eine magische Anziehung auf ihn aus. Er trat näher. Mit schnellem Blick überflog er die Rücken. ›Der große Sternenatlas‹, ›Vererbungslehre‹, ›Vom Einzeller zum Walfisch‹, ›Spanisch Aufbauwortschatz‹, ›Genealogisch-Etymologisches Lexikon Band 1 – 7‹ und so weiter. Keine Abenteuer, keine spannenden Expeditionen, nicht ein Buch, das irgendwie Spaß machen könnte. Das war eine Universitätsbibliothek und keine Lesestube.
»Und, gefallen dir meine Bücher?«
Oskar schrak zusammen. Charlotte hatte sich lautlos genähert. Darin schien sie eine Meisterin zu sein. Beschämt senkte er den Blick. Wie kam es nur, dass er sich in ihrer Gegenwart wie ein Dienstbote vorkam?
»Du scheinst den gleichen Geschmack wie dein Onkel zu haben«, sagte er. »Hast du nichts Spannendes –?«
»Wozu?«, fiel sie ihm ins Wort. »Für Schundhefte und Kolportageromane fehlt mir die Zeit. Im übrigen würde ich es vorziehen, wenn du mich mit ›Sie‹ anreden würdest.«
»Wie Sie wünschen.« Ihm schwoll der Hals. Kolportageromane? Schundhefte? Meinte sie damit etwa Jules Verne, Edgar Allan Poe, Karl May oder Arthur Conan Doyle?
Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Kannst du überhaupt lesen?«
Entrüstet hob Oskar den Kopf. »Natürlich, ich –«
»Na schön. Was liest du denn? Groschenhefte oder gar Liebesromane?« Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Hauptsächlich Geschichten aus fernen Ländern«, murmelte er leise. »Meistens Abenteuerromane.«
»Unterhaltungsliteratur also.« Sie nickte. »Das dachte ich mir. Nun, daran ist nichts Verwerfliches, aber ich bin der Meinung, dass Lesen in erster Linie der Bildung dienen sollte.« Sie fing an, ihre Koffer auszuräumen. Weitere dicke Schwarten kamen zum Vorschein. ›Grundlagen der Chemie‹, ›Artenkunde der Tierwelt Südamerikas‹, ›English Vocabulary‹. Jetzt wurde Oskar klar, warum die Koffer so schwer gewesen waren.
»Natürlich denken die meisten Männer, dass es unsinnig ist, wenn Frauen Bildung erlangen«, sagte Charlotte. »Aber das ist in diesem Hause anders. Mein Onkel fördert mich, wo er nur kann, und ich bin ihm zutiefst dankbar dafür.« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Wo stehst du in der Frage, ob Frauen an die Universitäten sollten?«
Oskar blickte verwirrt. »Wo ich … ? Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch keine Gedanken gemacht.«
»Siehst du? Das ist typisch«, sagte Charlotte. »Die klassische Rollenverteilung. Dabei gibt es so viele Frauen, die den Männern leicht das Wasser reichen könnten, wenn sie nur eine Chance bekämen. Aber es ist, wie du sagst: Niemanden interessiert es.«
Oskar presste die Lippen zusammen. »Wenn Sie mich dann entschuldigen würden …«
»Warte.« Sie zögerte einen Moment, während ihre eisgrauen Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Dann entspannten sich ihre Züge. »Wir hatten einen schlechten Start«, konstatierte sie mit kühler Sachlichkeit. »Vielleicht sollten wir noch einmal neu beginnen. Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Wie war doch gleich dein Name?«
»Oskar.«
»Einfach nur Oskar?«
»Oskar Wegener.«
»Schon besser.« Sie nickte und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Charlotte Riethmüller.«
Er zögerte. Erwartete sie jetzt etwa, dass er ihr einen Handkuss gab? Lieber würde er aus dem Fenster springen. Er überlegte, was wohl die richtige Form wäre, dann ergriff er ihre Hand und deutete eine Verbeugung an. Sie lächelte. Offenbar hielt sie die Begrüßung für angemessen. »Falls du dich über meinen Namen wunderst«, sagte sie, »mein Vater hieß Ferdinand Riethmüller. Er starb leider vor drei Jahren. Meine Mutter ist eine geborene Donhauser, genau wie mein Onkel.«
Oskar blickte verwundert auf. »Ich dachte, sein Name wäre Humboldt.«
»Irrtum.« Sie räumte den Rest ihrer Bücher aus, klappte den Koffer dann zu und schob ihn unters Bett. »Mein Onkel behauptet zwar immer, er wäre ein unehelicher Sohn von Alexander von Humboldt, aber dafür gibt es keinen wirklichen Beweis. Wenn du mich fragst, es ist eher so etwas wie ein Künstlername. Aber abgesehen davon ist er natürlich ein großer Forscher. Ich werde bei der bevorstehenden Expedition die Stelle der wissenschaftlichen Assistentin einnehmen.« Sie nickte ihm ernsthaft zu. »Da du ja, wie es scheint, mitkommen wirst, hoffe ich, dass wir beide gut zusammenarbeiten werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass diese Reise ein Erfolg wird. Ich fordere dich auf, deinen Teil dazu beizutragen.«
Oskar presste die Lippen aufeinander. »Ich werde mich bemühen.« Ihre Hochnäsigkeit war kaum zu ertragen. Nur noch wenige Augenblicke in diesem Zimmer und er würde platzen. »Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?«, würgte er heraus.
»Nein, das war’s im Augenblick. Ich werde mir jetzt ein Bad gönnen und danach lesen. Dabei möchte ich nicht gestört werden.«
Oskar deutete ein Nicken an und ging zur Tür. Auf dem Weg nach unten verspürte er das dringende Bedürfnis, irgend etwas kaputt zu machen. Seine Stimmung war auf dem absoluten Nullpunkt angelangt.
9
Drei Tage später …
Es war der Abend vor der Abreise.
Eliza hatte es sich nicht nehmen lassen, anlässlich ihres bevorstehenden Abenteuers etwas Besonderes zu kochen, und hatte sich dabei wieder einmal selbst übertroffen. Tassot de dinde – getrocknetes Truthahnfleisch, Grillot – Schweinefleisch, Diri et djondjon – Reis mit schwarzen Pilzen, Riz et pois – Reis mit Erbsen, Ti malice – kleine Banane, Piment oiseau – scharfe Soße und Grillot et banane pese – Koteletts mit Bananen. Eliza nannte es kreolisch, doch für Oskar war es wie Zauberei. Die Gewürze und Kräuter hatten eine merkwürdig belebende Wirkung. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein kleines Feuer in seinem Bauch entzündet und vergessen, es zu löschen. Während die anderen in das Studierzimmer hinübergingen und dort noch ein Glas Punsch tranken, räumte Oskar den Tisch ab. Dann machte er die Küche sauber und kehrte zu den anderen zurück.
»Komm her, mein Junge, setz dich zu uns.« Der Forscher paffte eine dicke Zigarre und klopfte auf den Sessel neben sich. »Wir wollen uns noch ein wenig unterhalten, ehe wir uns zu Bett begeben. Morgen wird ein anstrengender Tag, da sollten wir alle gut ausgeruht sein.«
»Ehrlich gesagt, ich würde lieber schon ins Bett gehen«, sagte Oskar mit gesenktem Kopf.
»Stimmt etwas nicht?«
»Nein, es ist nur … ich bin einfach müde.«
Der Forscher blickte ihn prüfend über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sicher, dass ich dich nicht zu einem Schluck überreden kann?«
Oskar warf Charlotte einen Blick aus dem Augenwinkel zu, dann nickte er. »Ganz sicher. Vielen Dank.«
»Nun, Reisende soll man nicht aufhalten«, sagte Humboldt. »Wir sehen uns dann morgen früh um sieben. Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe.«
Oskar deutete eine Verbeugung an und zog sich dann zurück. Er stieg die Treppe hinauf, ging in sein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Es war natürlich Unsinn, dass er müde war. Die Wahrheit war, er musste eine Entscheidung treffen.
Er ging hinüber zum Fenster, löste den Riegel und öffnete die beiden Flügel. Ein milder Wind wehte herein. Ein leichter Streifen von Abendrot war zu erkennen, darüber eine Front von Regenwolken, die rasch näher zog.
Während er einen Schwarm Vögel beobachtete, der über den Himmel flog, ließ er sich die ganze Sache noch einmal gründlich durch den Kopf gehen. Charlottes Eintreffen hatte seiner Vorfreude einen gehörigen Dämpfer verpasst. Durch sie war ihm klar geworden, dass er sich da in etwas hineingesteigert hatte. Etwas, was – nüchtern betrachtet – nichts als eine schöne Illusion gewesen war. Er hatte sich schon an der Seite Humboldts im indischen Dschungel auf Elefanten reiten sehen, er hatte sich ausgemalt, wie sie im finsteren Herzen Afrikas auf seltene Menschenaffen trafen, hart verfolgt von feindlichen Pygmäenstämmen. Er hatte geträumt, wie Karl May durch die Wüste oder das wilde Kurdistan zu reiten, Kara Ben Nemsi zu begegnen, packende Abenteuer zu erleben und als strahlender Held nach Berlin zurückzukehren, respektvoll gegrüßt von den feinen Herrschaften und umschwärmt von den jungen Damen. Mann, war er naiv gewesen! Der heutige Abend hatten ihm gezeigt, wo er wirklich stand.
Missmutig auf dem Bett sitzend, blickte er auf die näher kommenden Wolken. Für Oskar war klar, dass Charlotte die Schuld an allem trug. Den ganzen Abend hatte sie ihn von oben herab behandelt. Oskar hol dies, Oskar hol das. Räum meinen Teller weg, hol mir etwas zu trinken, mach dich nützlich in der Küche. Als wäre sie hier die Hausherrin. Er hatte es satt, sich von dieser hochnäsigen Person herumkommandieren zu lassen. Andererseits musste er ihr dankbar sein, dass sie ihm die Augen geöffnet hatte. Sie hatte ihm gezeigt, wie seine Aufgaben an der Seite Humboldts tatsächlich aussehen würden. Keine abenteuerlichen Kämpfe mit den Regenfressern hoch oben in ihren Himmelsstädten. Gepäck tragen, Kartoffeln schälen und Stiefelputzen, das war es, worum es für ihn auf dieser Reise gehen würde. Dinge organisieren, ja toll. Im Klartext hieß das, Einkäufe machen und den Laufburschen spielen.
Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. War er eigentlich verrückt? Er hatte doch alles, was er brauchte, hier in Berlin. Eine Unterkunft, seine Bücher und Freunde. Er war kein schlechter Taschendieb, er hatte sein Auskommen. Und vor allem hatte er etwas, was kein Herr Humboldt und keine Charlotte Riethmüller ihm trotz ihres vielen Geldes je bieten konnten: Freiheit. Hier konnte er tun und lassen, wonach ihm der Sinn stand, konnte aufstehen und schlafen gehen, wann er wollte, und war sein eigener Herr. Ein unschätzbares Gut, wenn man es erst einmal verloren hatte.