Die Stadt der Regenfresser

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Warum hatte Humboldt ausgerechnet ihn ausgewählt? Es gab doch mit Sicherheit bessere Hilfskräfte für so ein Unternehmen. Was sollte er überhaupt hier?
Oskar blieb stehen.
Der Groschen war gefallen. Er würde nicht mitkommen.
Die Wolken zogen rasch näher und löschten das verbliebene Tageslicht. Eine überwältigende Sehnsucht stieg in ihm auf. Was mochten seine alten Weggefährten wohl gerade treiben? Ob sie ihn vermissten? Siedend heiß fiel ihm ein, dass heute ja Freitag war. Der Abend ihres wöchentlichen ›Clubtreffens‹, wie sie es nannten. Es war alles so schnell gegangen, dass er nicht mal Zeit gefunden hatte, sich von ihnen zu verabschieden. Sie mussten ja denken, ihm sei sonst was zugestoßen. Vielleicht hatten sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden.
Er blickte zu der Wanduhr in der Ecke seines Zimmers. Kurz vor acht. Wie wäre es, wenn er einen kurzen Abstecher in die Innenstadt machen würde? Seinen Leuten Bescheid geben, ein, zwei Gläser mit ihnen trinken und erst dann in seine Bude heimkehren? Wie sehr er sich nach seinen Büchern sehnte! Komisch, die Helden in seinen Geschichten waren nie von Selbstzweifeln gequält. Für sie war immer alles ganz klar. Wie eine Eisenkugel auf einer schiefen Ebene folgten sie unbeirrbar ihrem Weg und überwanden auch die größten Hindernisse. Na ja, er war eben doch kein Held, sondern ein dummer Straßenjunge, der zu viel träumte.
Um sicherzugehen, dass keiner sein Verschwinden bemerkte, legte er einige Kissen unter seine Bettdecke, bis es so aussah, als würde er schlafen, löschte das Licht und stieg aus dem Fenster.
Langsam und leise wie ein Katze hangelte er sich entlang der Regenrinne nach unten. In der Wohnstube brannte noch Licht. Oskar warf einen Blick auf Humboldt, der an einem Tisch saß und an seinem Linguaphon herumbastelte. Eliza und Charlotte saßen daneben und unterhielten sich angeregt miteinander.
Lautlos ließ er sich ins Tulpenbeet fallen, wischte sich den Dreck von den Händen und lief geduckt zur angrenzenden Mauer hinüber. Das Licht aus der Wohnstube warf lange Schatten über den Rasen. Jetzt war er ganz sicher: Ihn würde niemand vermissen.
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung neben sich im Gras. Wilma. Der kleine Vogel lief mit schnellen Schritten neben ihm her und beobachtete ihn mit schief gehaltenem Kopf. Ein fragender Ruf ertönte.
»Psst.« Oskar blieb stehen. Er sah sich um, dann hockte er sich hin. »Verrat mich bloß nicht«, sagte er.
Der Vogel quiekte und wackelte dabei mit seinen Stummelflügeln.
»Was ich hier mache? Na, wonach sieht es denn aus? Ich gehe fort, das mache ich.« Er streichelte sanft über den Kopf des Vogels. Das Quieken ging in ein Gurren über.
»Nein, ich werde es mir nicht noch einmal überlegen. Ich gehöre nicht hierher, verstehst du? Ich fühle mich wie das fünfte Rad am Wagen und habe deshalb entschieden, dass es besser ist, wenn ich gehe.«
Der Kiwi piepste, als hätte er jedes Wort begriffen. Oskar musste lächeln. Wilma war ihm während der letzten Tage richtig ans Herz gewachsen. In ihr hatte er so etwas wie eine verwandte Seele gefunden. Im Grunde war sie genauso ein Außenseiter wie er. »Mach’s gut, meine kleine Freundin«, sagte er und streichelte ihr ein letztes Mal liebevoll über den Kopf. »Pass gut auf die anderen auf und halte die Einbrecher fern. Wirst du das für mich tun?«
Wilma blickte ihn mit ihren großen Augen an.
Er wandte sich ab, packte den unteren Ast einer Eiche und zog sich daran empor. Dann ergriff er den nächsten, schwang sich hinauf und kletterte immer höher. Als er auf Höhe der Mauerkrone war, stieg er hinüber. Er warf einen letzten Blick zurück zum Haus und den kleinen Kiwi unten im Garten, dann sprang er auf der anderen Seite hinab.
10
Harry Boswell benötigte einige Augenblicke, um sich zu vergewissern, wo er war. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Das schwache Licht spiegelte sich auf feuchten Felswänden wider. Er war in einer Art Höhle oder Gruft. Das Tropfen von Wasser brach sich in vielen Echos an den Wänden. Ein kühler Wind wehte ihm entgegen, der aus den Tiefen der Erde kam und nach Feuer und Rauch roch. Weiter hinten sah er ein Licht, das aus der Decke zu kommen schien. Es drang durch eine Öffnung im Felsgestein und fiel als heller Streifen in die Höhle, wo es eine bizarre Szenerie beleuchtete. Direkt unter der Öffnung befand sich eine Art Altar oder Kultstätte. Mehrere spitz zulaufende Obelisken umrahmten eine Fläche, auf der etliche Räuchergefäße standen. Dicker weißer Rauch quoll aus ihnen empor. Er stieg in die Höhe, wurde verwirbelt und bildete dabei geisterhafte Formen.
»Hallo?«
Seine Stimme rollte durch das Gewölbe und verhallte irgendwo in der Ferne.
»Ist da jemand?«
Jemand, jemand, jemand, lautete die Antwort.
Er versuchte, sich zu bewegen, aber er spürte, dass er immer noch gefesselt war. Er stand aufrecht mit dem Rücken an einen Pfahl gelehnt, den die Entführer irgendwie in der Erde verankert hatten. Seine Hände und Füße waren mit Lederbändern verschnürt, sodass es kein Entkommen gab. Seit Tagen schon hatte er sich gefragt, warum sein Ausbruchsversuch so völlig ohne Folgen geblieben war. Sie hatten ihn eingefangen und in seine Zelle zurückgesperrt, ohne ihn für sein Vergehen zu bestrafen. Ja, sie hatten ihm nicht mal die Essensration gekürzt. Nun kannte er die Antwort.
Wie es schien, hatten sie Größeres mit ihm vor.
Inmitten des Qualms war undeutlich eine Gestalt zu erkennen. Sie bewegte sich langsam vor und zurück, als wäre sie in einen tranceartigen Zustand gefallen. Summende Laute drangen an sein Ohr. Die Kreatur sang.
Boswell kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das Wesen war einen guten Kopf kleiner als er selbst und besaß außerordentlich lange Extremitäten. Zwischen seinen breiten Schultern ruhte ein mächtiger Kopf, der nach vorn in einen langen Schnabel auslief. Seine Schwingen peitschten den Qualm. Die Kreatur vollführte einige tanzende Bewegungen und trat dann aus dem Rauch heraus. Jetzt konnte Boswell sehen, dass sie über und über mit schwarzen Federn bedeckt war. Sie ähnelte einer gewaltigen Krähe, nur mit dem Unterschied, dass sie über Augen wie die einer Eule verfügte. Gelbe, handtellergroße Linsen, in denen sich die ganze Höhle zu spiegeln schien.
Beim Anblick dieser Augen entrang sich Boswells Kehle ein entsetztes Stöhnen. Das Wesen drehte ruckartig den Kopf. Es verharrte einen Moment, dann breitete es die Flügel aus und kam in einer Wirbelschleppe aus Rauch auf ihn zugesprungen.
»Nein, nein«, flüsterte Boswell. »Geh weg, verschwinde.«
Die Kreatur hüpfte ein paarmal um ihn herum, wobei sie krächzende Laute von sich gab. Dann blieb sie stehen. Der Rauch, der dem Gefieder entstieg, ließ sie aussehen, als käme sie direkt aus der Hölle.
»Was willst du?«, fragte er mit Panik in der Stimme. »Ich habe nichts, was ich dir geben könnte, ihr habt mir doch schon alles abgenommen.«
Der Vogel hielt seinen Kopf schief.
»Nawi.« Es klang wie ein Krächzen, aber es war eindeutig ein Wort.
»Was?«
»Nawi.« Das Wesen sprach mit einer alten und brüchigen Stimme.
»Du … du kannst ja reden.«
Die Kreatur deutete erst auf ihn, dann auf eines seiner Augen.
»Nawi hawa.«
»Das Auge?« Boswell war wie vom Donner gerührt. Es klang unglaublich, aber er verstand, was dieses Wesen sagte. Die Worte waren in Ketschua, der alten Sprache der Inka, einer Sprache, die man häufig in der Andenregion hörte.
»Quankuna Nawi hawa.«
»Das Auge am Himmel? Was … was meinst du damit?«
Das Wesen griff sich an die Hüfte, hob seinen Arm und hielt plötzlich einen Dolch in der Hand.
»Was …? Halt mal! Was soll das?« Er riss und zerrte an seinen Fesseln. Die Lederriemen schnitten ihm ins Fleisch, doch sie gaben keinen Millimeter nach. »Jetzt hör mal, ich hab dir doch nichts getan. Bitte lass mich am Leben, ich verspreche dir auch –«
Der Dolch zuckte vor.
Boswell spürte einen scharfen Schmerz. Mit angstgeweiteten Augen blickte er nach unten und sah, dass die Spitze des Dolches seine Fingerkuppe geritzt hatte. Ein Blutstropfen quoll daraus hervor. Er lief über seinen Finger, wurde größer und fiel dann herunter, wo er von der Kreatur in einer tönernen Schale aufgefangen wurde. Dann noch einer und noch einer. Es dauerte nicht lange und der Boden des Gefäßes war mit seinem Blut bedeckt. Als kein Blut mehr kam, war das Wesen zufrieden. Es näherte sich ihm bis auf eine Armlänge, wobei der Schnabel beinahe seine Nasenspitze berührte. Die großen gelben Augen schienen sich direkt in Boswells Hirn zu brennen.
»Quankuna Nawi hawa.«
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