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»Der äschert uns noch das ganze Dorf ein«, rief mit dramatischer Gebärde eine Nachbarin, die in ihrem Morgenmantel herausgestürmt war.
»Wer so was bloß macht? Wer so was bloß macht?«, klagte eine jüngere Frau.
»Bei dem ganzen Pack, das hier rumläuft, wundert mich gar nichts mehr«, lallte ein alter Mann mit Spazierstock, der offenbar in der Eile vergessen hatte, sein Gebiss einzusetzen.
»Ach, warte mal ab, das ist wahrscheinlich einer, an den überhaupt keiner denkt«, sagte der alte Zimmermann. »Meistens kommen doch diese Spitzbuben aus dem eigenen Dorf.«
»Gnade dem Gott, wenn ich den erwische«, knurrte ein stämmiger Bauer. »Der kann von Glück sagen, wenn die Polizei den hops nimmt.«
Auch Geister-Gertrud war unter den Schaulustigen, eine Lehrerwitwe, die sich einbildete, das zweite Gesicht zu haben, und viel wirres Zeug redete. »Das sind bloß erst die Vorboten«, sagte sie beschwörend. »Wenn der Himmel brennt, dann brennt es auch auf der Erde. Der Halleysche Komet kommt ja nun immer näher auf uns zu. Das kann doch jetzt jeder mit bloßem Auge sehen. Ich garantiere euch: Ehe der Sommer ins Land gegangen ist, ist es vorbei mit Mutter Erde.«
»Ach, hör doch auf zu spinnen, Gertrud«, fuhr der alte Schmied dazwischen. »Das Feuer hier ist bestimmt nicht vom |33|Himmel gefallen. Der Komet läuft hier wahrscheinlich irgendwo zwischen uns rum.«
Wieder stürzte ein Holzträger um. Funken tanzten über der Rauchsäule, die durch den durchgebrannten Dachstuhl stieg.
Cord fühlte sich unwohl in seinem Tanzkostüm. Es war ihm peinlich, dass Jelena neben ihm stand. Zum Glück konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen, wie stark sie geschminkt war. Doch ihr Parfümduft behauptete sich auch noch gegen den Qualm. Sie schwieg verstört, wagte es nicht einmal, ihren Begleiter anzusprechen. Stattdessen wandte sich ein Nachbar Kröger zu.
»Na, prasselt ja wieder prächtig«, spottete der Mann. »Da wird einem doch richtig warm.« Nachdem er Cord Kröger näher in Augenschein genommen hatte, fügte er hinzu: »Bist wohl auch noch nicht im Bett gewesen, Kollege, was? Wo kommst du denn noch her so spät inner Nacht?«
Cord ließ die Frage unbeantwortet. Da stieß ihn der Nachbar kumpelhaft an, indem er einen kurzen Seitenblick auf Jelena warf. »Aber nicht schlecht die Dame, wirklich. Nicht von schlechten Eltern.«
Cord tat, als habe er nichts gehört. »Die hätten die Bullen da man rausholen sollen«, sagte er stattdessen, indem er seine Augen über den Rinderstall schweifen ließ. Tatsächlich drang Muhen und Blöken aus dem Fachwerkbau neben der brennenden Scheune. Die Tierlaute mischten sich mit dem Prasseln und Knacken des Feuers und dem Knattern des Wasserstrahls. Immer lauter tönte nun auch das Heulen eines Martinshorns. Offenbar näherte sich ein zweiter Feuerwehrzug. Auch ein Polizeiauto kam mit Sirenengeheul auf den Hof gerast.
Wieder krachten Balken zu Boden, Funken sprühten auf. Plötzlich stieg Rauch aus dem Bullenstall.
»Mensch, jetzt brennt es auch im Rinderstall«, rief Kröger aufgeregt. »Die Biester müssen raus, verdammt noch mal.«
|34|Im gleichen Atemzug rannte er auch schon auf das Stallgebäude zu, froh, der peinlichen Situation mit Jelena zu entkommen, endlich diese Tatenlosigkeit zu überwinden.
Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schlug, als er vor der Stalltür stand. Brennende Strohhalme tanzten wie Glühwürmchen im Dämmerlicht. Er ignorierte die Warnrufe der Feuerwehrleute, schob den Riegel zur Seite, riss das Stalltor auf. Beißender Qualm wallte ihm entgegen. Die Bullen hatten sich ängstlich an die gegenüberliegende Mauer gedrängt. Er brach sich eine Latte von einer Trennwand, lief auf die Tiere zu und schlug mit der Latte auf sie ein, um sie in Richtung Ausgang zu treiben. »Raus hier, raus, ihr Biester!«, brüllte er. »Oder wollt ihr ersticken?«
Die verängstigten Tiere setzten sich in Bewegung, trotteten durch das geöffnete Tor ins Freie. Gott sei Dank! Endlich!
Gerade aber hatte der letzte Bulle den Stall verlassen, da krachte eine schwere Ladung von brennendem Heu und Balken durch den Dachboden und versperrte den Ausgang.
Cord Kröger stockte das Blut, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Ich sitze hier fest, schoss es ihm durch den Kopf, gefangen. Ein Wasserstrahl knatterte gegen den brennenden Heuhaufen, löschte das Feuer, verstärkte aber gleichzeitig die Rauchentwicklung. Cord wurde schwindlig. Bloß nicht schlappmachen, stieß es ihm durch den Kopf. Bloß raus hier, bloß weg, verdammt. Er spürte, wie ihm die Beine weich wurde, wie er zu taumeln begann. Der Rauch brannte ihm so in den Augen, dass er sie gleich wieder zusammenkniff. Zwischen dem Knistern und Knacken hörte er das Blöken der Kühe, das Tatütata von Martinshörnern und unverständliche Schreie. Fast war ihm, als würde er auch Musik aus dem Klanginferno heraushören, Schlagerfetzen wie »Anita, Anita« – aber das war wohl nur das Martinshorn, wenn er nicht gar schon anfing zu fantasieren.
|35|Plötzlich riss ihn ein Knall aus seinem Dämmer. Entsetzt sah er, dass sich ein Topf mit Schmieröl in Brand gesetzt hatte, er spürte, wie ihn die Hitzewelle erfasste. Eine furchtbare Angst durchfuhr ihn, Todesangst. Doch sie lähmte ihn nicht, sie gab ihm einen letzten Schub, half ihm, sich aufzubäumen gegen das drohende Unheil. Panisch blickte er sich um.
Schließlich entdeckte er das Fenster. Die Hoffnung mobilisierte seine letzten Kräfte. Er torkelte auf das Fenster zu, zertrümmerte mit einer Latte Glas und Fensterrahmen und zwängte sich hinaus.
Er war wie benommen, als er sich hinter dem Stall im taufeuchten Gras wiederfand. Keuchend sog er die frische Nachtluft ein. Ihm wurde schwarz vor Augen. Feuerwehrleute stürmten auf ihn zu, fragten nach seinem Befinden. Obwohl er beteuerte, dass alles in Ordnung sei, bugsierten sie ihn zu einem Krankenwagen. Doch abgesehen von einigen Schürfwunden hatte er die brenzlige Situation im Stall unbeschadet überstanden.
Seine Kleidung allerdings hatte stark gelitten. Hemd und Hose waren verschmiert und zerrissen. Doch das allgemeine Schulterklopfen und die anerkennenden Blicke machten den Schaden mehr als wett. Er fühlte sich wie ein Held. Die Bäuerin fiel ihm um den Hals und dankte für die mutige Hilfe.
Auch der Ortsbrandmeister lobte ihn, wenn er auch einschränkend hinzufügte, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ein Feuerwehrmann mit Schutzkleidung den riskanten Einsatz übernommen hätte.
Cord hielt Ausschau nach Jelena. Seine Tanzpartnerin stand immer noch wie verloren in ihrem eleganten Seidenkleid inmitten der Schaulustigen.
»Was machst du für gefährliche Sachen«, begrüßte sie ihn. »Das Herz hat mir stillgestanden.«
|36|»Ach, sah schlimmer aus als es war«, wehrte er ab. »Aber jetzt bin ich wirklich bettreif, stehend k.o.« Er reichte ihr seine rußverschmierte Hand und zog sie in Richtung Auto.
Die Flammen waren inzwischen so gut wie gelöscht. Dennoch richteten die Feuerwehrleute ihren Wasserstrahl beharrlich auf die Reste der niedergebrannten Scheune, um einen möglichen Schwelbrand zu verhindern.
Auf dem Hof blökten die Bullen, die gerade mit viel Mühe in eine andere Scheune getrieben wurden. Drei waren schon ausgerissen, man wollte sie einfangen, wenn es richtig hell war.
Beim Weggehen sah Cord Kröger, wie Björn am Lattenzaun lehnte. In der einen Hand hielt er eine Zigarette, in der anderen seinen Feuerwehrhelm.
»Rauch nicht so viel, Björn«, rief er ihm zu.
Der junge Feuerwehrmann starrte ihn mit seinen müden Augen an, als sei er ganz woanders. Er benötigte einen Augenblick, bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte.
»Alles in Ordnung, Chef.«
»Dann ist ja gut. Aber sieh mal zu, dass du langsam ins Bett kommst.«
Als Kröger seinen Nissan aufschloss, sah er, dass Morgenrot den Himmel färbte.
»Du bist ja ein richtiger Held«, sagte Jelena im Auto zu ihm. Zärtlich streichelte sie ihm über die verschmierte Hose. Die Lust keimte wieder in ihm auf. Aber gleichzeitig musste er gähnen.
|37|4.
Er war fix und fertig. Funken tanzten vor seinen Augen. Dabei war das Feuer längst gelöscht. Es räucherte zwar noch, und unter dem Schutt und der Asche glomm die Glut bei jedem Windstoß wieder auf. Aber die Gefahr war gebannt. Alles unter Kontrolle. Und er, Björn Bergmann, hatte einen wichtigen Beitrag bei den Löscharbeiten geleistet. O ja, er hatte verdammt noch mal allen Grund, stolz zu sein. Selbstzufrieden spuckte der Junge mit dem Baseballkäppi in Richtung Brandstelle. Gestandene Feuerwehrmänner hatten ihm anerkennend auf die Schulter geklopft, ein Bier in die Hand gedrückt oder eine Zigarette angeboten. Auch Cord Kröger hatte gesehen, wie er gekämpft hatte, auch Cord. Dass der sich als Retter im Rinderstall vor seiner wasserstoffblonden Tussi beweisen musste, verstand Björn. Er gönnte es seinem Chef.
Weniger toll fand er es, dass sein Vater angerückt war. Wie der ihn angeglotzt hatte, die ganze Zeit. Kein Wort hatte er zu ihm gesagt, aber die Blicke hatten Bände gesprochen. Grimmig, vorwurfsvoll, geradezu hasserfüllt hatte der ihn in seiner Feuerwehrkluft beäugt. Dabei war er damals seinem Vater zuliebe überhaupt erst in die Jugendfeuerwehr eingetreten und in den ersten Jahren immer auch sehr stolz gewesen, wenn er nach den Wettkämpfen mit Siegerurkunden nach Hause gekommen war. Doch damit war es vorbei, lange schon. Wahrscheinlich, dachte Björn, kann es der alte Saufkopf einfach nicht ertragen, dass ihn sein eigener Sohn übertrumpft. Möglicherweise aber spukt dem auch noch was anderes im Kopf herum.
|38|5.
Es klopfte. »Kaffee ist fertig, Cord«, rief eine Frauenstimme hinter der Schlafzimmertür. »Cord, Cor-hord. Warum antwortest du denn nicht? Das geht auf Mittag zu, du willst ja wohl nicht den ganzen Tag im Bett liegen.«
Er öffnete das linke Auge, gähnte, streckte sich und hoffte inständig, dass seine Mutter endlich Ruhe geben würde. Er fühlte sich bleischwer. Draußen rumorten die Vögel. Sonnenstrahlen stahlen sich durchs Fenster und schlugen durch das abgedunkelte Schlafzimmer eine Lichtschneise, in der Staubpartikel tanzten. Er versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern. Doch das Nachtgespinst zerstob wie ein Regenbogen. Erst jetzt entdeckte er die Frau, die neben ihm im Bett lag. Jelena starrte ihn mit großen Augen an. Er hätte sich am liebsten wieder umgedreht und weitergeschlafen, um den Peinlichkeiten zu entfliehen, die dieser fortgeschrittene Morgen wahrscheinlich noch bereithielt. Aber was half das? »Scheiße« war das erste Wort, das ihm wie ein Stoßseufzer entfuhr.
»Guten Morgen«, flüsterte Jelena ihm zärtlich zu.
»Morgn.«
Schläfrig und mutlos klang dieser Morgengruß, den er eher verlegen als leidenschaftlich mit einem Kuss untermauerte.
»Cord, das Ei wird kalt«, tönte erneut die Frauenstimme hinter der Tür, diesmal schon sehr ungeduldig, fast beleidigt. Als die Antwort immer noch ausblieb, setzte die Frau besorgt nach: »Cord, Cor-hord. Dir is ja wohl nichts zugestoßen letzte Nacht?«
|39|»Jetzt hör doch mal endlich auf mit dem Geschrei, ist ja schrecklich«, erwiderte der Angerufene. »Ich komm schon, verdammt noch mal.«
Damit schlug er die Federdecke zurück und stieg gähnend aus dem Bett. Jelena blickte zur Seite, während er stöhnend damit begann, die auf dem Boden liegenden Socken und die Unterhose vom Vortag anzuziehen. Hastig angelte er sich Hemd und Hose aus dem Kleiderschrank.
»Bis gleich.«
Damit war er auch schon aus dem Raum geschlurft.
Als seine Mutter ihn mit ihrer Sicht des nächtlichen Brandes bestürmen wollte, unterbrach er sie und bat sie kleinlaut, noch ein Frühstücksgedeck dazuzustellen. »Ich hab da vom Tanzen ’ne Frau mitgebracht. Ich wollte sie eigentlich noch nach Hause fahren, aber bei dem Feuer und dem ganzen Terz heute Nacht sind wir drüber weggekommen.«
Seine Mutter atmete tief durch und zog vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. »Da hätteste auch mal früher was von sagen können, da reicht der Kaffee ja gar nicht. Aber ich setz eben noch welchen auf.«
Mit diesen Worten trottete sie kopfschüttelnd in die Küche.
Nach einer Weile tauchte Jelena vollständig bekleidet aus dem Schlafzimmer auf, um gleich darauf wieder mit ihrer Handtasche für zwanzig Minuten im Badezimmer zu verschwinden. Cord erhielt von seiner Mutter den Auftrag, sie zu fragen, ob sie ihr Ei gekocht oder gebraten wünsche. Und wenn gebraten, ob als Rühr- oder Spiegelei zubereitet. »Ohne Ei is für meine Mutter kein Sonntag, weißte«, fügte er entschuldigend hinzu.
Aber Jelena wollte überhaupt kein Ei – eine Mitteilung, die Anna Kröger wie eine böse Zurückweisung aufnahm. Eingeschnappt wandte sie ihren Kopf zur Seite.
|40|Dennoch ließ sie sich nicht davon abhalten, kurze Zeit später dem Gast den Kaffee persönlich einzuschenken. Obwohl sie gerade achtzig geworden war und schon reichlich gebückt ging, achtete die weißhaarige Bauersfrau immer noch auf ihr Äußeres. Regelmäßig ließ sie beim Friseur ihre Dauerwelle erneuern. Und ihre Körperfülle verbarg sie geschickt unter weiten Kleidern. An diesem Morgen allerdings trug sie – wie meist im Haus – eine geblümte Kittelschürze.
Anders als ihr Sohn hatte sie keine Probleme, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen. So war es auch an diesem Mittag. Der nächtliche Brand feuerte ihre Redseligkeit zusätzlich an.
»Ist das nicht furchtbar? Ist das nicht furchtbar?«, lamentierte sie, ohne mit einer Antwort zu rechnen. »Lange macht mein Herz das nicht mehr mit. Als heute Nacht die Sirenen gegangen sind, hab ich wieder solche Stiche gekriegt, dass ich Tabletten nehmen musste. Nee, nee, wo das noch hinführen soll. Man traut sich gar nicht mehr einzuschlafen. Und immer am Wochenende. Jetzt ist es schon das siebte Mal. Zwei Wochen vor Ostern ist es losgegangen. Da hat man ja noch gedacht, dass es ’n Kabelbrand war oder so was. Aber als dann eine Woche später schon wieder die Sirenen geheult haben, da war natürlich der Fall klar. Jetzt läuft im ganzen Dorf die Polizei rum. Aber die finden auch nichts. Manch einer traut sich schon gar nicht mehr aus dem Haus. Jeder hat doch Angst, dass er sich verdächtig macht. Cord, erzähl doch mal, wie sie dich neulich nachts kontrolliert haben.«
»Kontrolliert is wohl nicht der richtige Ausdruck.« Er musste sich räuspern, bevor er fortfahren konnte. »Ja, äh, das war wirklich ’ne komische Sache. Ich konnte nicht schlafen. Deshalb bin ich noch mal ’n bisschen vor die Tür gegangen und habe ’ne Runde um den Hof gedreht. Und auf einmal kommt da so ’n Auto, kein Streifenwagen, sondern ’n ganz normales Auto kommt da langsam auf mich zu. Ich hab |41|mich natürlich total erschrocken und gedacht, dass mein letztes Stündlein geschlagen hätte. Aber dann dreht auf einmal einer von den beiden im Auto das Seitenfenster runter und ruft: ›Polizei, können wir bitte mal Ihren Ausweis sehen?‹ Ich hatte natürlich keinen Ausweis dabei, hatte mir ja nur schnell meine Jacke über den Schlafanzug gezogen. Und als ich ihnen dann gesagt habe, was Sache ist, da hat einer einen Block gezückt und sich alles aufgeschrieben: Name, Alter, Wohnort, Beruf und so. Dabei hat der mich die ganze Zeit angeglotzt, als ob er mich längst durchschaut hätte.«
»Zum Glück hast du diesmal eine Bezeugerin, dass du unschuldig bist«, warf Jelena schüchtern ein.
»Bezeugerin ist gut. Aber wer weiß, was denen durch den Kopp geht«, erwiderte Cord. »Auf jeden Fall hab ich mir ganz schön Hemd und Hose versaut, als ich da heute Nacht durchs Stallfenster gekrabbelt bin. War wirklich Rettung in letzter Minute – für mich und für die Bullen.«
An dieser Stelle horchte auch seine Mutter auf und fragte ausnahmsweise nach, sodass er Gelegenheit erhielt, seine nächtliche Heldentat in aller Breite zum Besten zu geben.
»Junge, Junge, sich so in Gefahr zu begeben«, sagte die Bäuerin kopfschüttelnd. »Das wären die Rinder doch nicht wert gewesen, dass man dafür sein Leben riskiert.« Sie seufzte. »Schlimm. Als es hier vor vier Wochen nebenan gebrannt hat, hab ich’s auch mit der Angst gekriegt.«
Eine Fliege landete auf dem Küchentisch. Anna Kröger hielt den Atem an, holte aus und fing das Insekt mit der rechten Hand. Während sie die Fliege zerdrückte und in den Abfalleimer warf, kaute ihr Sohn an einem Brötchen herum. Jelena dagegen setzte die Kaffeetasse, die sie gerade noch zum Mund führen wollte, ab und blickte irritiert auf die Tischkante.
Nach der Fliegenbeseitigung ergriff Anna Kröger wieder das Wort. In allen Einzelheiten erzählte sie von dem Brand, |42|den sie selbst beobachtet hatte. Jelena schmierte sich nach der kurzen Verstörung ein Marmeladenbrötchen und nippte an ihrem Kaffee. Schweigend fand sie sich damit ab, dass die alte Frau an ihrer Person kein Interesse zeigte. Cord war nicht entgangen, dass Jelena sich nach dem Aufstehen ein dezentes Make-up aufgelegt hatte. Er schämte sich vor ihr. Nicht nur, weil seine Mutter das Gespräch so hemmungslos an sich riss und fortfuhr, nebenbei Fliegen zu fangen, sondern auch wegen der zurückliegenden Nacht. Kaum hatte er sich ins Bett gelegt, war er auch schon eingenickt. Diese Russin musste ihn für einen Versager halten, für ein impotentes Muttersöhnchen.
Björn kam zur Tür herein. Der hoch aufgeschossene Junge war bereits wieder in Feuerwehruniform und brachte einen intensiven Rauchgeruch mit in die Küche. Schüchtern grüßte er in Jelenas Richtung.
»Ich geh dann noch mal wieder hin«, teilte er seinem Chef mit. »Am besten, ich nehm gleich den alten Fendt mit, dann kann ich vielleicht mit dem Frontlader bisschen beim Aufräumen helfen. Geht doch klar, Cord, oder?«
»Ja, mach man, Björn«, sagte Cord. »Sieht auch besser aus, wenn wenigstens einer vom Hof da die Stellung hält.«
»Ganz fleißiger Junge«, sagte Anna Kröger, als Björn wieder hinausgeschlurft war. »Der ist erst gegen sechs nach Hause gekommen, und um zehn ist er schon wieder raus aus den Federn. Ganz feiner Junge, wenn er bloß nicht immer so viel spucken würde.«
Cord erklärte seiner Besucherin, dass der Junge ein Zimmer auf seinem Hof bezogen habe. Mit seinen Eltern sei er schon längere Zeit »über quer«. Sein Vater, ein dorfbekannter Säufer, habe ihn oft geschlagen. Nach den Sommerferien werde Björn eine landwirtschaftliche Lehre bei ihm beginnen.
|43|»Wenn du dich angestrengt hättest, hättest du auch schon so ’n Jungen in dem Alter haben können, Cord«, scherzte seine Mutter und lächelte herausfordernd. »Aber heutzutage«, fuhr sie mit Blick auf Jelena fort, »heutzutage findet ja eher ein Strauchdieb ’ne Braut als ein rechtschaffener Bauer.«
»Ach, Mama, jetzt fang doch nicht wieder mit der alten Leier an.«
»Das is ja wohl nichts Unrechtes, he, he, he.« Die alte Frau kicherte in sich hinein. »So jung bin ich ja leider auch nicht mehr, dass ich noch jahrelang auf Enkelkinder warten könnte. Aber noch is nicht aller Tage Abend, he, he, he.«
Jelena senkte verschämt den Blick. Peinliches Schweigen legte sich über die Frühstücksgesellschaft. Schließlich ergriff die Bäuerin wieder das Wort. »Noch ’n bisschen Kaffee?«
Jelena lächelte gequält und schüttelte den Kopf. Dann bat sie Cord, sie bald nach Hause zu fahren. »Meine Mutter weiß ja gar nicht, wo ich bin.«
Das Angebot, kurz zu Hause anzurufen, lehnte sie jedoch ab.
Cord bemühte sich erst gar nicht, sie zum Bleiben aufzufordern. Als habe er nur auf ein Stichwort gewartet, sprang er sofort auf. »Ich muss heut Nachmittag auch noch spritzen«, murmelte er vor sich hin. Jelena unterließ es nachzufragen, was er damit meinte. Denn sie verstand nicht, dass es darum ging, das Getreide gegen Unkraut, Pilze und Schädlinge mit Pflanzenschutzmittel zu besprühen.
Immer noch hing Rauchgeruch in der Luft. Herbert begann zu kläffen, Cords Jagdhund, ein Deutsch Drahthaar mit graubraunem Fell, war in der großen Diele eingesperrt. Er sprang an seinem Herrchen hoch und jaulte und winselte, als wollte er sich über die lange Vernachlässigung beklagen. »Is ja gut, alter Junge«, redete Cord auf ihn ein, während er ihm das struppige Fell massierte. Dann schoss Herbert auch auf Jelena zu, sprang ebenfalls an ihr hoch und versuchte sie zu beschnüffeln. Jelena wich ängstlich zurück. »Platz«, kommandierte |44|Cord Kröger. Sofort legte sich Herbert seinem Herrn ergeben zu Füßen.
Auf dem Weg zum Auto zeigte Kröger seiner Besucherin kurz den Hof. Unter dem Scheunenvordach stand sein Prunkstück: der neue Trecker – ein imposantes Gefährt mit grüngrauer Metalliclackierung, Hightechkabine und wuchtigen Reifen.
»Das is er.« Kröger mühte sich redlich, seinen Stolz im Zaum zu halten, denn das Gerede der vergangenen Nacht war ihm mittlerweile peinlich. Jelena aber spielte nun mit.
»Na, das ist wirklich ein schöner Traktor, da würde ich auch gern einmal mitfahren und die weite Aussicht genießen«, sagte sie.
»Warum nicht? Musik gibt’s da oben auch.«
Eingedenk seiner nächtlichen Lobpreisung sah er keine Veranlassung mehr, technische Einzelheiten vorzuführen.
Bevor er seine Besucherin zum Auto führte, zeigte er ihr aber noch seine Schweineställe – fensterlose Flachbauten mit grün lackiertem Stahlblech verkleidet.
»Alles vollautomatisch. Das ganze Füttern steuert der Computer. Ich muss nur alle drei Tage mit dem Frontlader bisschen Mais und so nachfüllen, und dann holt sich der Computer, was er für die Futtermischung braucht: Schrot, Kraftfutter, Wasser und der ganze Mist wird automatisch zusammengerührt.«
Jelena staunte. »Aber wie kommt das denn zu den Tieren hinein?«
»Das wird durch Rohre gepumpt und landet am Ende in den Buchten. Ich kann ganz genau eingeben, wie viele Schweine versorgt werden müssen, und dann verteilt der Computer das Zeug. Genau nach Diätplan – dreimal am Tag ist Raubtierfütterung. Du kannst es dir ja mal angucken …«
Mit diesen Worten lotste er seine Besucherin auch schon zum ersten Stall. In den Buchten war es stockdunkel. Das |45|änderte sich erst, als er den Lichtschalter betätigte. Geblendet von dem ockerfarbenen Licht grunzten die Schweine in ihren engen Buchten auf und starrten die Besucher an.
»Ist es immer so finster hier?«, fragte Jelena beklommen.
»Ja, meistens. Is doch klar: Je dunkler, desto weniger bewegen sich die Viecher. Und je weniger die sich bewegen, desto schneller werden sie fett, das ist wie bei den Menschen. Paar Stunden am Tag schaltet sich das Licht natürlich an, denn zum Fressen brauchen die Tiere natürlich Licht. Sonst gehen die nicht ran an das Futter, und wenn sie nicht fressen, dann werden sie nicht fett. Nach spätestens sechs Monaten müssen die schlachtreif sein, sonst zahl ich drauf.«
»Die armen Schweine.«
»Na ja, klingt vielleicht brutal, aber ich muss natürlich auch leben. Schweinehaltung ist heute ein knapp kalkuliertes Geschäft. Da bewegt man sich immer haarscharf über der Verlustzone und manchmal auch darunter. Du weißt doch selbst, wie wenig ein Kilo Koteletts heute kostet und dass die Supermärkte sich mit ihren Scheiß-Sonderangeboten gegenseitig unterbieten. Ich sag immer: Wer nicht mehr als fünf Euro für ein Kilo Schnitzel bezahlen will, der hat auch kein Recht, sich als Tierschützer aufzuspielen.«
»Und wir setzen uns eine Maske auf und tanzen Schweinetango«, sagte Jelena. »Nach Tanzen ist deinen Schweinchen bestimmt nicht zumute.«
»Dafür müssen die Schweinchen auch nicht so schwitzen.«
Er führte Jelena in weitere Ställe. Einen früheren Rinderstall hatte er für Jungschweine zur sogenannten Vormast umgebaut. Dies war die erste Station, in die die Ferkel kamen, die Cord Kröger im Alter von acht Wochen von den Züchtern aufkaufte. Hier drang durch die geöffneten Tore immerhin noch Tageslicht zu den Tieren vor, und anstelle der sonst üblichen Spaltenböden war der Stall mit Stroh ausgestreut.
|46|»Dass sie erst mal ’n bisschen zu Kräften kommen.«
Ein anderer Stall war nahezu leer. Nur wenige Schweine bewegten sich dickbäuchig und schwerfällig durch einen Gang oder standen teilnahmslos in ihren Buchten. »Die andern sind vorgestern weggegangen. Die landen morgen schon bei dir inner Fleischtheke«, erklärte er grinsend. »Diese hier müssen noch ’n paar Tage, aber spätestens Ende der Woche gehen die auch weg.«
Der Himmel hatte sich bezogen, als die beiden wieder ins Freie traten. Doch es war immer noch mild. Aus der Marsch rief ein Kuckuck, so durchdringend, dass es wie Bellen klang. Jelena sog die frische Frühlingsluft tief ein. »Da kann man doch froh sein, dass man als Mensch geboren ist«, sagte sie.






