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Einzelne Studierende (oder allenfalls kleine Gruppen von Studierenden) in ihrem Lernprozess zielorientiert und «kontraktiert» beraten, diagnostisch tätig sein (z. B. während Problem-based-Learning-Sequenzen, bei Stolpersteinen in einem Projekt oder in einer schriftlichen Arbeit, bei ungenügenden Leistungen), Beraten von Studierenden bezüglich Organisation des Studiums und beruflicher Ausrichtung etc.
Siehe Kapitel «Was ist Beratung?» (S. 19 ff.)
Beurteilen
Kompetenz- und lernzielorientiert Prüfen, Gestalten von Prüfungssituationen, Formulieren von Prüfungsfragen, Interpretieren und Bewerten von Leistungen, Kommunizieren von Bewertungen etc.
Institution vertreten
Beteiligung an der Entwicklung von Curricula, am Entwerfen von Kompetenzprofilen, an der Konzipierung von Beurteilungskonzepten und an Evaluationen; Kooperation mit dem Kollegium etc.
Gesellschafts-/Staatsvertretung sein
Als gesellschaftlich anerkannte «öffentliche» Expertin oder anerkannter öffentlicher Experte auftreten, als Modell wirken, «arriviert» sein. Türöffnerin oder Türöffner sein für gesellschaftliche Funktionen von Studierenden etc.
Rollenerwartungen der Studierenden an die Dozierenden
Die oben beschriebenen Rollen überschneiden sich selbstverständlich: Beispielsweise existieren Nahtstellen zwischen der Beurteilungs- und der Institutionsvertretungsrolle oder zwischen der Führungs- und der Lehrgestaltungsrolle.
Die Komplexität des Rollenstrausses erhöht sich zudem durch die spezifischen Rollenerwartungen der Studierenden: Die einen erwarten von den Dozierenden reine Expertise, andere möchten klare Führung, wieder andere begnügen sich mit zurückhaltender Begleitung. Weitere verlangen immer wieder individuelle Beratung oder pochen auf klare Beurteilung, einige sehen die dozierende Person als Vertretung der Institution oder als Modell einer gesellschaftlich anerkannten Funktion.
Diese Erwartungshaltungen verschieben sich von Fachgebiet zu Fachgebiet, von Dozent/in zu Dozent/in. Dies bedeutet, dass Dozierende sich dauernd zwischen differierenden Rollenerwartungen bewegen. Sie müssen Prioritäten setzen und Kompromisse zwischen den eigenen Rollenvorlieben und den Rollenerwartungen der Institution und der Studierenden eingehen.
Im fünften Kapitel werden exemplarisch drei ausgewählte Spannungsfelder beschrieben.
Beraten und Begleiten
Wie Sie den Beschreibungen weiter oben entnehmen können, unterscheiden sich Beratung und Begleitung einerseits durch den zeitlichen Aspekt (Begleitung findet in der Regel über eine längere Zeitspanne hinweg), andererseits durch die Quantität der Klienten (Beratung ist eher dialogisch und Face-to-Face-orientiert). Zudem integriert Begleitung immer auch ein Stück «Leitung» (Anleitung, Controlling). Typischerweise werden gerade in Projekt-begleitungen häufig verschiedene Rollen vermischt: Anleitung, Controlling und Beurteilung gehören genauso wie die Beratung zu den Begleitaufgaben in verschiedenen Phasen von Projekten (vgl. auch Johner in diesem Buch, S. 121 ff.). Der Begriff «Betreuung» entspricht am ehesten demjenigen der Begleitung (vgl. Suter in diesem Buch, S. 66 ff.), bezeichnet jedoch eher ein pädagogisches Verhältnis.
Beratung2 in unserem Sinne ist tendenziell symmetrisch orientierte, gemeinsame Arbeit an Fragestellungen oder Problemen. Begleitung hingegen kann als zurückhaltende Führung mit integriertem Beratungsanteil verstanden werden.
Reflexionsfragen Rollenstrauss







Wir fokussieren vorerst auf die Rolle Beraten. Zuerst wird der Begriff definiert, anschliessend werden drei Beratungsmodelle erläutert.
Was ist Beratung?
Definition von Beratung
Eine der bekanntesten und anerkanntesten Definitionen des Begriffs «Beratung» stammt von R. Lippitt (1959, in: Fatzer 2005, S. 56):
«Beratung (…) ist eine allgemeine Bezeichnung für mancherlei Beziehungsformen. Die allgemeine Definition von Beratung (…) hat folgende Voraussetzungen:




Sie sehen hier schon, dass beratende Tätigkeit in vielen Feldern (zum Beispiel der Lehre) gemäss dieser Definition gar keine Beratung wäre, da die Beziehung in der Regel häufig nicht freiwillig ist, die zeitliche Befristung nur bedingt gilt und Beraterinnen und Berater nicht immer «Aussenstehende» sind, sondern den «Klientinnen und Klienten» gegenüber meistens verschiedene Rollen wahrnehmen.
Diese mögliche Divergenz zeigt Schein auf eine andere Weise mittels folgender Grundmodelle auf:
Drei Grundmodelle der Beratung
ABeratung als Beschaffung von Information und Professionalität, Expertenberatung
Der Klient oder die Klientin weiss,



Der Berater oder die Beraterin beschafft die benötigten Informationen und erarbeitet die Lösungen.
BBeratung im Rahmen der Arzt-Patienten-Hypothese



CDas Prozess-Beratungs-Modell



nach Schein (2000, S. 25 ff.), modifiziert durch Thomann (2013)
Wenn Sie sich den Berater-Jargon (z. B. «Klientin/Klient») wegdenken, bemerken Sie vielleicht, dass die Zuordnung der eigenen Beratungstätigkeit zu einem der Grundmodelle gar nicht so einfach ist: Mögen Sie Beratung noch so sehr als zurückhaltende und moderierende Prozessberatung verstehen: Wenn Sie beispielsweise als (Fach-)Experte oder (Fach-)Expertin beauftragt sind, werden Sie auch so wahrgenommen. Da wäre zu entscheiden, ob Instruktion nicht grundsätzlich adäquater ist als Beratung.
Die Expertenhypothese des Modells von Schein setzt interessanterweise sehr selbstbewusste und handlungsfähige «Klientinnen und Klienten» voraus. Studierende würden hier genau wissen, was sie benötigen und Sie als Dozentin oder Dozent mit den «richtigen» Fragen kontaktieren (vgl. das fragegeleitete Lerncoaching in Landwehr/Müller 2006, S. 184 ff.).
Die Arzt-Patienten-Hypothese fasziniert vielleicht durch den hohen Machtanteil der Beratenden und käme einem gewissen «Betreuungspotenzial» auf der Seite der Dozierenden und einem «Abhängigkeitsbedürfnis» auf der Seite der Studierenden entgegen; es wäre jedoch verfehlt zu behaupten, Klienten oder Studierende müssten als «Kranke» «geheilt» werden.
Reflexionsfragen «Grundmodelle der Beratung»
Versuchen Sie die drei Grundmodelle zu verstehen und auseinanderzuhalten (auch wenn sie in der Realität ineinanderfliessen). Probieren Sie dann, mittels folgender Fragen an Ihre Beratungserfahrungen anzuschliessen:





Beratung definieren wir in unserem Zusammenhang als situationsbezogene und spezifische Hilfestellung bei der Analyse und bei der Lösung von Problemen oder bei auftauchenden komplexen Fragestellungen – wobei Beratung immer auch dialogisches und gemeinsames Denken und Handeln beinhaltet. Eine solche Beratung bezieht sich zudem auf ein professionelles Handlungsmodell (obwohl auch Laien effizient beraten können). Professionelle Beratung zeichnet sich also durch bestimmte Beratungskompetenzen der Beratungsperson sowie durch deutliche Abgrenzung der Beratung von alltäglichen Situationen aus.
Das Schwergewicht der Beratungskompetenz liegt bei Formen der Expertenberatung im jeweilig spezifischen Fachwissen, bei Formen der Prozessberatung in Kenntnissen von sozialwissenschaftlichen Theorien und Verfahren.
Zum professionellen Beratungshandeln gehören die Berücksichtigung von spezifischen Prozessphasen, eine adäquate Kontraktierung, die sorgfältige gemeinsame Diagnose sowie angepasste Interventionen – zum Beispiel durch die Wahl von adäquaten Fragen.
Sie finden dazu in diesem Buch verteilt ausgewählte Instrumente:
Instrument 1:Fünf Phasen der Beratung (S. 33)Instrument 2:Ablauf einer Beratung im Hochschulalltag (S. 50)Instrument 3:Der Beratungskontrakt (S. 62)Instrument 4:Diagnose in der Beratung (S. 101)Instrument 5:Landkarte des Fragens (S. 105)Instrument 6:Gesprächsführung (S. 125)Instrument 7:Intervision – Vorgehensmodell und Checkliste Contracting (S. 148 & S. 150)Begleiten: Steuerung innerhalb des Kontinuums «Beratung – Instruktion – Führung»
Wir beschäftigen uns im Folgenden mit der Begleitungsrolle, die sich von der Beratungsrolle unterscheidet, indem sie Führungshandeln integriert.
Innerhalb der zu begleitenden Projektphasen «Initiieren – Realisieren – Präsentieren – Evaluieren» beispielsweise (siehe Text von Roger Johner, S. 109 ff.) ist die Anleitung zu Beginn eine Führungsaufgabe, während im Zuge der Realisierung Beratung gefordert ist.
Lernen begleiten
Im Zusammenhang mit Lernbegleitungsaktivitäten stehen folgende Aufgaben im Vordergrund:





Diese Aufgaben beinhalten verschiedene direktive und non-direktive Interventionsformen, die flexibel und situationsadäquat eingesetzt werden. Es wird dabei deutlich, dass hier nicht nur Beratungs-, sondern auch Führungsund Beurteilungskompetenzen notwendig sind. Mit anderen Worten: Es geht dabei um eine flexible Rollengestaltung und um ein situationsgerechtes «Management» von Lernprozessen.
Eine Darstellung aus der Beratungsliteratur (nach Lippitt und Lippitt 1995, S. 56) lässt sich auf die Tätigkeit von Dozierenden übertragen. Sie ist hilfreich, um sich innerhalb der verschiedenen Rollengestaltungsmöglichkeiten zwischen Führung und Beratung bewusst und transparent zu bewegen. Ziel ist es dabei immer, sich nach links zu bewegen (siehe Grafik, S. 24), um die Selbstorganisation der «Klientinnen und Klienten» (sprich Lernenden) zu fördern; bei Bedarf ist es jedoch legitim, ja notwendig, sich punktuell und temporär (wieder) nach rechts zu bewegen, ohne dadurch in eine «Arzt-Patienten-Beziehung» abzugleiten. Diese Bewegungstendenz nach links und die notwendigen «Abstecher» nach rechts benötigen eine Form der grundsätzlichen Rollentransparenz im Rahmen einer Kontraktierung, zum Beispiel: «Ich werde mir erlauben – auch wenn ich Sie tendenziell eher berate –, Ihnen bei begründeter Notwendigkeit auch Wissen zu vermitteln». Auch braucht es eine deutliche Rollentransparenz bei «Kategorienwechseln«, welche die tendenzielle Bewegung nach links immer einbezieht, etwa: «Ich möchte Ihnen jetzt etwas Wichtiges zeigen, was Sie schliesslich in Ihrer selbstständigen Arbeit weiterbringen soll», oder: «Ich helfe Ihnen gerne über diese Klippe hinweg, erwarte jedoch, dass Sie danach Ihren Weg möglichst selbstständig weitergehen». So verdeutlicht die dozierende Person ihre Erwartung, dass die Lernenden auf ihren eigenen Füssen stehen sollen.
Begleitung: Das Kontinuum von Aktivitäten der Dozierenden zwischen Führung und Beratung

Abb. 2 Mögliche Rollen von Dozierenden zwischen Führung, Expertise und Beratung (verändert nach: Lippitt/Lippitt 1995, S. 56)
Reflexionsfragen «Kontinuum Führung – Instruktion – Beratung»
Erinnern Sie sich an Beispiele von Begleitungsaktivitäten im Hochschulalltag (bei Projekten, bei schriftlichen Arbeiten, beim Selbststudium):







Ausgewählte Spannungsfelder
Schon zu Beginn dieses Textes wurde erwähnt, dass im Praxisalltag gelegentlich unklar ist, in welcher Rolle Dozierende agieren sollen. Solche Dilemmata sind unumgänglich; einige solcher Spannungsfelder und der mögliche Umgang mit diesen werden im Folgenden skizziert. Dabei wird das dritte Spannungsfeld «Beraten versus Beurteilen» vertieft behandelt.
Spannungsfeld 1: «Führen versus Beraten»
«Mich zum richtigen Zeitpunkt zurückzunehmen zugunsten der Aktivierung studentischen Lernens, den Studierenden nicht gleich beim ersten Stolperstein den richtigen Input zu geben, ihnen die Problemlösung zuzutrauen, fällt mir immer noch schwer. Und wenn mir dies gelingt, warte ich wiederum manchmal viel zu lange mit einer notwendigen Intervention.»
Dozentin Höhere Fachschule aus einem Lernbericht

Abb. 3 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 1
Lehrende sind in der Regel so sozialisiert, dass sie den Lernenden (gerne) Stolpersteine aus dem Weg räumen; damit legitimieren sie nicht selten ihre Funktion. Dabei bedenken sie zu wenig, dass die Lernenden auch durch Misserfolge ihre Kompetenz erweitern. Dies gelingt aber nur, wenn die Lehrenden sich mit Interventionen zurückhalten. Gleichzeitig ist es jedoch notwendig, bei zu starker Irritation der Lernenden die Steuerung des Lernprozesses zu beeinflussen, Hinweise zu geben, Rahmen zu schaffen – eben Führung zu übernehmen (oder in der Rolle des Experten/der Expertin zu agieren). Eine solche adäquate Pendelbewegung (siehe auch Grafik S. 24) zwischen Führung und Beratung gehört zur den anspruchsvollsten und spannendsten Ansprüchen an die Tätigkeit der Dozierenden.
Dieses Spannungsfeld ist gerade im Rahmen der Formen von selbstorganisiertem oder problemorientiertem Lernen äusserst wirksam.
Spannungsfeld 2: «Experte oder Expertin sein und Institution vertreten versus Begleiten und Beraten»
«Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein wissenschaftlicher Anspruch mich zum ‹Träger› von fachlichen Standards meiner Organisation, aber auch der ‹professional community› macht und dass dieser Umstand mir mehr Verantwortung überträgt, als ich in der pädagogischen Beziehung zu Studierenden wahrhaben möchte.»
Hochschuldozentin aus einem Lernbericht

Abb. 4 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 2
Dozierende tragen die Verantwortung, Menschen in ihrem Wissen, Können und ihren Werthaltungen auf die beruflichen Anforderungen vorzubereiten. Diese Ansprüche der Praxis gestalten die Zielvorgaben des Lernens. Gleichzeitig tragen Dozierende als Experten und Expertinnen auf ihrem Gebiet die Verantwortung gegenüber professionellen Standards in der Praxis (sowie in der Ausbildung). Mit ihrer Sicht auf das «Danach» sind Dozierende somit in der Pflicht, dieses nicht nur als feste Konstante zu betrachten, auf die es die Studierenden vorzubereiten gilt, sondern durch die Kompetenzentwicklung der Studierenden auch auf die Praxis einzuwirken. Sie sind somit quasi Qualitätsträger.
Dozierende sind dadurch auch zur Forderung, nicht nur zur Förderung der Lernenden aufgerufen. Auch wenn durch die lebendige Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden eine «Quasi-Kollegialität» entsteht.
Spannungsfeld 3: «Beraten versus Beurteilen»
«Studierende in ihren Lernprozessen und bei ihren Arbeiten zu begleiten und sie schliesslich zu beurteilen, ist für mich eine grosse Herausforderung – manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mich dabei eigentlich selbst beurteile.»
Hochschuldozent aus einem Lernbericht

Abb. 5 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 3
Lehrende begleiten und beraten Lernende in ihrem Lernen, und sie beurteilen den Lernerfolg. In Praxisprojekten oder schriftlichen Arbeiten werden Studierende beraten und schliesslich beurteilt. Die Institution unterstützt und berät die Studierenden und erteilt ihnen zum Schluss ein Diplom – oder nicht.
Dies widerspiegelt einen der grössten alltäglichen Rollenkonflikte von Lehrenden: Der pädagogisch orientierten Begleitung folgt in der Regel die summative Beurteilung von Leistungen, einer scheinbar symmetrischen Beziehung kann der asymmetrische Bruch folgen. Die Nähe der begleitenden formativen Beurteilung wird durch die Distanz der summativen Beurteilung infrage gestellt, Enttäuschungen können auf beiden Seiten entstehen. Gelegentlich wird innerhalb der Institution die Beurteilungsfunktion personell von der Begleitungsfunktion getrennt. Nicht selten verlagert sich dann die vormals intrapersonelle Spannung in eine institutionelle (Beurteilende werden von Studierenden mit höherem Status versehen etc.).





