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Tank unterdrückte den dringenden Wunsch, Jane durchzuschütteln. Dieser Vergleich war mehr als unfair. Schön, wenn sie das Gefühl vergessen hatte, wie es ist, wenn jederzeit und überall eine Sprengladung hochgehen konnte. Er lebte jeden Tag damit. Jeden Tag kämpfte er dagegen an, und zwar ohne zu saufen oder irgendwelche Pillen zu schlucken. Und ja, wenn sie schon dabei waren: Jane sah Dinge, die nicht da waren!
„Wenn du mich so fragst, ja, ich unterstelle dir, dass du Dinge siehst, die nicht da sind. Ich wollte nicht auf Seattle zu sprechen kommen, weil ich mir denken kann, wie furchtbar das für dich war. Ich habe es auf deine überreizten Nerven geschoben. Wenn ich es aber recht überlege, hattest du da bereits eine Armada von Pillen im Schrank.“ Seine Stimme war sehr ruhig. „Erwarte nicht von mir, dass ich zusehe, wie du dich damit kaputt machst, ohne dass ich ein Wort dazu verliere.“
Jane sah aus, als würde sie ihn jeden Moment anspringen. Er hatte sie noch nie so wütend gesehen.
„Ich bin vollkommen normal, Tank! Du hast doch gar keine Ahnung, wie mein Leben aussieht. Du warst nicht da. Du warst nicht da, als sie mich gefeuert haben. Du warst nicht da, als ich damit klarkommen musste, dass meine Familie verschwunden ist. Du hast dich in den hinterletzten Winkel dieser Welt zurückgezogen. Und jetzt meinst du, du könntest mir vorschreiben, wie ich zu leben habe?“ Ihre Stimme wurde schrill.
„Ich war nicht da? Ich habe dich allein gelassen? So siehst du das?“ Tank wusste, dass er bereuen würde, was er jetzt sagte, aber es war zu spät. „Dann werde ich dir jetzt was sagen. Eigentlich wollte ich nicht, dass du es je erfährst. Als du in Seattle in den Flieger gestiegen bist, bin ich zu Officer Wagmann vom Seattle Police Department gefahren. Wir haben gemeinsam ein paar Nachforschungen angestellt. Wir sind bis zur kanadischen Grenze hochgefahren. Wir haben deine Familie gefunden, sechs Fuß unter der Erde.“
Janes Hand klatschte in Tanks Gesicht. Er erstarrte. Verflucht, er hätte sich besser die Zunge abbeißen sollen.
„Du hast mir nichts gesagt! Du wusstest, dass sie tot sind. Du wusstest es und hast mir nichts gesagt. Wieso?“ Sie schrie die Worte heraus, während sie mit den Fäusten auf ihn losging.
Es gelang ihm mit Mühe, sie festzuhalten.
„Weil ich mir verdammt noch mal Sorgen mache und nicht wollte, dass du etwas Dummes tust. Weil du vollkommen fertig warst und ohnehin nichts hättest tun können. Du bist in Seattle gerade noch einer üblen Falle entgangen und du wärest ein zweites Mal hineingerannt. Du hast Feinde, Jane, und ich weiß nicht, warum.“
Jane hörte auf, sich zu wehren. „Du hättest es mir sagen müssen, Tank. Ich habe dir immer rückhaltlos vertraut. Immer, vom ersten Tag an. Wie konntest du mich so hintergehen? Ausgerechnet du?“ Ihr Blick war leer und verloren. „Du solltest mich jetzt besser zum Busbahnhof zurückbringen.“
„Es ist mitten in der Nacht, Jane. Bitte, bleib! Morgen reden wir darüber.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte gehen. Muss ich mir ein Taxi rufen?“
„Du würdest hier um diese Zeit keines bekommen. Ich fahre dich.“
Sie sprachen kein Wort, während der schwarze Ford Torino sie durch die Nacht trug. Tank verfluchte seine Worte mindestens tausendmal. Was hatte er nur angerichtet. Er wollte nicht, dass sie ging. Nicht so. Er sah die Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Es würde ihm nicht gelingen, sie zurückzuhalten.
Er öffnete die Tür. „Soll ich deine Tasche nehmen?“
„Nicht nötig! Semper Fi, Tank.“
Tank saß in seinem Wagen und schaute Jane nach, wie sie entschlossen davonstapfte. Er stützte die Ellenbogen auf das Lenkrad und barg sein Gesicht in den Händen. Wie zum Teufel konnte alles so schiefgehen? Er hatte sich unglaublich auf dieses Wochenende gefreut. Jane! Er hatte sie so vermisst. Vielleicht war er naiv gewesen. Die Zeit hatte sie beide verändert, sie einander entfremdet. Wenn sie nicht einmal mehr verstand, dass er sich um sie sorgte, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der ihm wirklich alles bedeutete … Wenn es nicht einmal mehr dieses Band zwischen ihnen gab, dann war es wohl sinnlos.
Er schluckte und startete den Motor. Im Radio spielten sie „We gotta get out of this Place“ von den Animals. Einer der Songs, die ihm in Verbindung mit dem Foto von Jane geholfen hatten, den Krieg durchzustehen. Jetzt konnte er ihn nicht ertragen. Er drehte das Radio aus.
***
Drei Wochen später
Jane warf die Tür ins Schloss, lehnte sich mit dem Rücken daran und atmete tief durch. Ein neuer Job und – wow – endlich mal einer, der diesen Namen auch verdiente. Keine Verkehrsunfälle, geliftete Politikergattinnen auf Abwegen oder Promi-Partys. Ein richtiger Job. Sie würde für die Capital Tribune nach Chile gehen. Ein Informant hatte der Zeitung ungeheuerliche Berichte zukommen lassen, die sie nachprüfen und am besten mit Bildmaterial belegen sollte. Es war ihr vollkommen egal, was sie über die Begleitumstände erfuhr. Zwei Kollegen vom Independant und von TIME-Magazine waren unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Der Chefredakteur der Capital Tribune, Lou Brant bot ihr den Job nur an, weil keiner von seinen Leuten lebensmüde war. Jane sei ja kriegserprobt, ob sie Lust habe? 5.000 $ plus Spesen.
Jane ließ sich nicht zweimal bitten. Es war nicht das Geld. Sie wusste in dem Moment, als sie zusagte, wie sehr ihr der Kick gefehlt hatte, das Adrenalin, das Leben in der Gefahrenzone, das Kribbeln in ihren Adern. Es war, als komme sie nach Hause. Vermutlich war sie verrückt, aber das störte sie kein bisschen.
Sie öffnete den Umschlag mit dem Briefing. Scheinbar führte der Geheimdienst eine verdeckte Operation in Chile durch, um die Installation einer Militärdiktatur zu unterstützen. Das war nichts Neues. Ganz Mittel- und Südamerika galt als wichtig für die Sicherung amerikanischer Interessen. In den meisten Ländern unterstützte die Regierung mehr oder minder fähige Generäle und Diktatoren. In Chile hatten die Menschen es gewagt, den Sozialisten Allende zu wählen. Als der seine Wahlversprechen in die Tat umsetzte und die ersten Großgrundbesitzer enteignete, war das vermutlich der Beginn des Weltuntergangs. Zumindest stand es amerikanischen Geschäftsinteressen entgegen. Jane konnte sich vorstellen, wie die Sache weitergehen würde. Es lief immer nach demselben Schema ab. Man schickte militärische Berater, unterstützte die Opposition und sorgte für Unruhen. Jane hatte in Vietnam vieles über das System gelernt. Es ging immer nur um Geld und Macht. Leider. Immerhin versprach die Sache, spannend zu werden.
Die zentrale Figur in dieser Operation war ein Captain a.D. James Dinnort, Angehöriger der US-Botschaft in Santiago de Chile, ziviler Berater. Er war seit 1969 im Land, also schon deutlich vor der Wahl Allendes. Was genau er dort tat, wusste niemand, der Mann war sehr diskret. Vor wenigen Tagen wurde er zusammen mit einem unbekannten chilenischen Militär durch eine Autobombe hochgejagt. Jane spürte, wie ihr Jagdfieber erwachte.
Chile
05. November 1973, früher Morgen in Santiago de Chile, Außentemperatur fünf Grad Celcius, im Laufe des Tages würden es etwa fünfzehn Grad werden. Bewölkt. Jane schaute aus dem Fenster, während die Maschine langsam über das Flugfeld rollte. Es war wenig los. Einige Frachtmaschinen, einige Militärflugzeuge. Na ja, wer wollte schon hierher? Sie stieg die Gangway hinunter. Unten wartete ein Kleinbus. Außer ihr waren nur zwölf weitere Reisende angekommen. Sie blickte sich um. Überall Sandsäcke, Militärfahrzeuge, Patrouillen. „Du hast Kriegserfahrung, deshalb haben wir dich ausgewählt.“ Sie hörte noch Lous Stimme. Ein Land nach einem Putsch ist irgendwie immer ein Land im Kriegszustand. Die Soldaten waren in Alarmbereitschaft, Maschinengewehre im Anschlag. Eine angespannte Stimmung lag in der Luft. Im Gebäude setzte sich die triste Atmosphäre des Flugfelds fort. Der Geruch nach Reinigungsmitteln stieg ihr in die Nase. Ein Beamter öffnete ihren Koffer und durchsuchte genüsslich ihre Unterwäsche, nachdem er eine gefühlte Ewigkeit lang ihren Pass kontrolliert hatte. Jane fürchtete schon, er würde sie auch noch einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen, aber dann bekam sie ihren Pass zurück und konnte ihren Koffer wieder zusammenpacken. Sie ignorierte das unangenehme Gefühl, als sie durch die Schleuse ging. Es war so, als bohre sich ein widerlicher Blick von hinten zwischen ihre Schulterblätter.
Ihr Kontaktmann sollte sie abholen. Javier Alvarez, argentinischer Journalist, der schon einige Zeit in Chile lebte. Ihr Blick fiel auf einen Mann, der die Ankommenden musterte. Er schien auf jemanden zu warten. Ob das Alvarez war? Wenn ja, hatte sie das große Los gezogen. Groß, schlank, leicht gebräunte Haut, schwarzes Haar. Er trug ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen, Jeansjacke, weiße Baumwollhose. Offenes Gesicht mit Dreitagebart.
„Señor Alvarez?“
Er nickte.
Javier Alvarez war überrascht. Die Tribune werde einen ihrer besten Fotografen schicken, hatte man ihm gesagt. Jemanden mit Erfahrung in Krisengebieten. Dass es eine Frau war, verblüffte ihn. Die Zeitung nahm ihn offenbar nicht ernst. Er hatte angedeutet, womit sie es hier zu tun bekamen. Für diesen Job brauchte man Nerven wie Drahtseile. Was also sollte er mit einer Frau? Gut, er konnte es nicht ändern. Immerhin war sie sehr schön und besaß eine Stimme wie Samt.
„Kommen Sie, Miss Mulwray. Verlassen wir diesen ungastlichen Ort.“
„Ich heiße Jane.“
Er lächelte. „Javier.“
Draußen stand ein 41er Ford Coupé, der seine guten Tage eindeutig hinter sich hatte. Javier verstaute Janes Gepäck und hielt ihr die Tür auf.
„Im Handschuhfach liegt dein Begrüßungsgeschenk, Jane.“
Sie schaute einen Moment irritiert, als sie das Fach öffnete. Begrüßungsgeschenk? Sie schaute auf eine 357er Magnum. Wie unauffällig. Eine 22er wäre ihr lieber gewesen.
„Es ist gefährlich hier. Besser, du hast eine Waffe.“
Jane schaute aus dem Fenster. Das also war Santiago de Chile. Eigentlich eine schöne Stadt. Alte spanische Kolonialgebäude in bunten Farben. Flanierstraßen, die zum Bummeln einluden. Weiträumige Piazzas mit Springbrunnen oder Statuen geschmückt. Aber es lag eine beklemmende Atmosphäre über allem. Militär und Polizei standen an jeder Ecke. Sie passierten Straßensperren, Sandsäcke. Nur wenige Menschen gingen ihren Geschäften nach. Sie beeilten sich, huschten beinahe im Schatten der Mauern. Nur nicht auffallen, nicht gesehen werden. Jane hatte Angst selten so greifbar gesehen.
Javier war auffallend still, irgendetwas schien ihn zu stören.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Javier?“
Er zögerte ein wenig zu lange mit der Antwort. „Nun ja, in Ordnung kann man hier eigentlich gar nichts nennen. Sieh dich um!“
Jane zog eine Augenbraue hoch. „Das meine ich nicht.“
Javier überlegte, wie er mit der Situation umgehen sollte, ohne unhöflich zu werden. Ihm fiel nichts ein. Besser, er sprach es direkt an.
„Nun, die Lage hier ist ziemlich brisant. Du bist bestimmt eine gute Fotografin, aber – ähm – wie soll ich das sagen? Für eine Frau kann das hier verdammt gefährlich werden. Ich begreife nicht, wie sie eine Frau in so eine Situation bringen können. Ich sollte dich am besten wieder in das nächste Flugzeug setzen, das von hier wegfliegt.“
Das war es also.
„Danke, dass du so offen bist. Die meisten hätten um den heißen Brei herumgeredet. Ich schlage vor, dass du mich einfach als Partner und nicht als Frau betrachtest. Ich habe vier Jahre in Vietnam gearbeitet und Reportagen von der Front gemacht. Ich habe mit den Jungs im Dreck gelegen. Ich wurde in einem Lager im Norden gefangen gehalten. Jetzt sitze ich hier neben dir und das würde ich nicht, wenn ich keine Ahnung hätte, wie man überlebt. Du wolltest jemanden mit Kriegserfahrung? Hier bin ich.“ Ihre Stimme klang kälter, als sie es beabsichtigte.
Javier war immer noch nicht glücklich darüber, mit einer Frau zu arbeiten. Gut, er hatte Jane vielleicht falsch eingeschätzt. Das war aber auch kein Wunder. Frauen, die so aussahen wie sie, arbeiteten für gewöhnlich vor der Kamera, als Model, Schauspielerin oder vielleicht Korrespondentin. Sie waren eine Verheißung für jeden Mann, er selbst machte da keine Ausnahme. Was war, wenn sie den falschen Leuten in die Hände fiel?
Jeden Tag verschwanden Menschen: Angehörige der alten Regierung, Gewerkschafter, jeder, der einer linken Partei angehörte oder nur verdächtig war, jemanden zu kennen, der es tat. Die Festnahmen erfolgten an Universitäten, in Regierungsgebäuden, am Arbeitsplatz, in der Wohnung. Es gab keinen sicheren Ort. Tausende wurden in das Nationalstadion gesperrt. Früher war das eine Sportstätte, jetzt diente es, wie so manche Schule oder Konferenzhalle, als Internierungslager. Es waren Orte des Grauens. Willkür, Folter, Mord. Niemand half ihnen. Es gab keine Anklage, keinen Anwalt, nur Gewalt und Tod. Wohin die Leichen verschwanden, wusste niemand. Die Familien bekamen keine Nachricht. Woher er das wusste? Mit viel Bestechungsgeld und noch mehr Glück war sein Bruder entkommen und untergetaucht. Es war vollkommen klar, was geschehen würde, wenn eine Frau wie Jane diesen Tieren in die Hände fiel. Die Vorstellung war für ihn unerträglich.
„Bitte missverstehe mich nicht, Jane. Ich respektiere deine Arbeit und ich wollte dich nicht beleidigen. Aber sollten uns Polizei oder Armee in die Finger bekommen, wäre es für mich leichter, zuzusehen, wie sie einen Mann fertigmachen, als wenn sie eine Frau vergewaltigen. Diese Leute schrecken vor nichts zurück. Es gibt keinen Funken Menschlichkeit dort.“
Jane schaute ihn an und lächelte leicht. „Okay, ich verstehe. Dann bleibt nur eins: Wir sollten alles daran setzen, uns nicht schnappen zu lassen.“
Javier nickte. „Guter Plan.“ Er bremste und stellte den Wagen, der erleichtert schnaufte, am Straßenrand ab.
Jane sah sich um. Das Viertel war nicht besonders repräsentativ. Die Straße war staubig, die Häuser schmucklos. Javier wies auf ein unauffälliges dreistöckiges Gebäude.
„Hier wohnte ein Freund von mir. Er verschwand, wie so viele. Ich habe einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Dort sollten wir einigermaßen sicher sein.“
Die Luft war ein wenig abgestanden, als sie die Wohnung betraten. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet und ordentlich. Es schien kaum vorstellbar, dass der Bewohner vor ein paar Wochen einfach verschwunden war.
Javier ging leise durch die Zimmer und schaute hinter Bilderrahmen und Vorhänge. Jane begriff sofort, dass er nach Wanzen suchte.
„Scheint sauber zu sein. Ich würde dir einen Kaffee kochen, aber den riecht man durch das ganze Haus. Die Wohnung gilt als unbewohnt. Wir sollten kein Risiko eingehen.“ Javier spähte vorsichtig durch das Fenster. Es war niemand zu sehen. Er entspannte sich ein wenig. „Du hast die Auswahl zwischen lauwarmem Dosenbier oder lauwarmer Cola.“ Er grinste ein wenig schief und zeigte auf eine Palette neben dem Kühlschrank.
Weder das eine noch das andere erschien Jane verlockend. Sie entschied sich für die Cola. Javier nahm ein Dosenbier und ließ sich auf einem der Stühle am Küchentisch nieder.
„Willst du dir Notizen machen?“
Jane nickte, setzte sich ihm gegenüber und zog ein Reisetagebuch hervor. Sie nippte an der Cola und sah Javier erwartungsvoll an.
„Es kann losgehen.“
„Also, beginnen wir bei Dinnort. Der Mann kam schon vor einigen Jahren her, lange bevor Allende die Wahl gewann. Dinnort war offiziell als ziviler Berater in der Botschaft tätig. Inoffiziell arbeitete er für die CIA. Er hatte Kontakt zu hohen Militärs. Sie versuchten, die Wahl zu verhindern, was aber nicht gelang. Den Leuten hier ging es nicht gut. Die meisten lebten in sehr einfachen Verhältnissen, während wenige reicher und reicher wurden. Jeder Großgrundbesitzer spielte sich als Herr über Leben und Tod auf. Die Arbeiter organisierten sich, gründeten Gewerkschaften. Sie nahmen dafür ein großes Risiko auf sich, denn Gewerkschafter lebten gefährlich. Allende gab uns Hoffnung. Nach seiner Wahl setzte er seine Versprechen tatsächlich um. Er tat viel, um die Lebensumstände zu verbessern. Preise für Mieten und Lebensmittel wurden eingefroren, Gesundheit und Bildung wurden kostenlos. So etwas ist teuer. Er begann, Konzerne und Großgrundbesitzer zu enteignen. Das brachte ihm mächtige Feinde ein. Die Großgrundbesitzer wollten ihren Besitz natürlich nicht kampflos aufgeben. Ausländische Konzerne, meist amerikanische, liefen Sturm. An dieser Stelle schlug die Stunde für Leute wie Dinnort. Er verfügte über beste Verbindungen. Er versuchte, einige Generäle zum Putsch zu bewegen. Das war nicht so einfach, wie er dachte. Der Leiter des Generalstabs mochte vielleicht den Sozialisten Allende nicht, aber er stand loyal zur Verfassung. Dinnort wechselte die Pferde. Er fand neue Freunde, die ganz bis nach oben wollten. Diese schreckten vor nichts zurück. Politische Gegner wurden entführt und ermordet. Der Generalstabschef wurde abgefangen, sein Wagen blockiert. Dann erschossen sie ihn und seine Begleiter. Das war der Tag, an dem ich begann zu recherchieren.“ Javier strich sich gedankenverloren durch die Haare und nahm einen Schluck aus der Dose. Er verzog angewidert das Gesicht. „Schmeckt grauenhaft. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, das Attentat. Allende ließ sich davon nicht einschüchtern. Dann begannen die Kampagnen. Sicher, die Versorgungslage hätte besser sein können, aber die Zeitungen übertrieben maßlos. Ich arbeitete damals für eine kleine Lokalzeitung, die politisch auf Seiten Allendes stand. Die gibt es natürlich nicht mehr.“ Javier lachte bitter. „Ich bekam mit, wie es lief. Die Geldkoffer wurden unverblümt in die Chefetagen getragen. Mit Geld kannst du dir alles kaufen und erst recht die öffentliche Meinung. Die Leute glaubten wirklich, wir stünden kurz vor dem Untergang. Internationale Beziehungen würden eingefroren, Devisenknappheit. Elektrizitätswerke wurden sabotiert. Es gab Stromausfälle. Die Leute gingen wieder auf die Straße. Die Transportarbeiter streikten. Ja, Dinnort verstand sein Handwerk. Dann kam der Putsch. Sie sagten, Allende habe Selbstmord begangen. Ich persönlich glaube, sie haben ihn umgebracht.“
Jane sah von ihrem Notizblock hoch. Javier hatte mit der rechten Hand die Dose zu einem Knäuel zusammengeballt. Seine Kiefer mahlten. Er brauchte ein wenig, um weiterzusprechen.
„Es war gut vorbereitet, das muss ich ihnen lassen. Sie verboten die Gewerkschaften und machten alle Zeitungen dicht, außer denen, die auf ihrer Seite standen. Sie verhafteten jeden, der etwas gegen die Putschisten – oh Verzeihung – ich meine natürlich die neue Regierung sagte oder auch nur dachte. Hier in Santiago steckte man sie in das Nationalstadion. Meinen Bruder haben sie auch erwischt, aber er konnte entkommen.“
Jane unterbrach ihre Notizen. „Hast du Beweise, dass die CIA hinter dem Mord steckt, hinter den Schmiergeldern? Dass Dinnort für die Firma gearbeitet hat? Ich glaube dir jedes Wort, aber mein Auftraggeber will hieb-, stich- und vor allem gerichtsfeste Beweise sehen. Wenn wir mit solch einer Story rausgehen, wird es einen Sturm geben.“
Javier nickte. „Ich weiß nicht, ob es reicht, aber ich habe Bilder. Die Fotos zeigen Kontaktleute der CIA, Vertreter chilenischer Militärs und Übergabe von Waffen und Munition. Es liegen Telegramme von ranghohen US-Politikern, CIA-Agenten an Verbindungsleute vor. Es existieren Belege von Geldtransfers, Tonbandmitschnitte und eidesstattliche Versicherungen von Interviewpartnern.“
„Wo? Kann ich es sehen?“
Javier schüttelte den Kopf. „Es ist nicht hier. Mein Bruder hat es mitgenommen. Er ist nach Bolivien geflohen und versteckt sich dort.“
Bolivien, Jane stieß einen Stoßseufzer aus. Wäre es nicht einfacher gewesen, direkt nach Bolivien zu gehen? Ihr Gedanke musste ihr wohl in Leuchtschrift auf der Stirn gestanden haben, denn Javier lächelte.
„Du würdest ihn nicht finden, Jane Mulwray. Er lebt im Untergrund. Es gibt Leute, die ihn schützen. Und wenn ich direkt von Bolivien aus Kontakt nach Amerika aufgenommen hätte, würde ich ihn und seine Leute gefährden. Versprich mir, dass du diese Geschichte bringen wirst, dann stelle ich den Kontakt her.“
Jane überlegte einen Moment. „Sag mal, Javier. Der Mord an Dinnort – haben dein Bruder oder seine Leute was damit zu tun? Darüber hast du mir nämlich gar nichts erzählt.“
Javiers Mine wirkte verschlossen. „Natürlich nicht. Er wurde ermordet, kein Zweifel, aber ich habe keine Ahnung, wer das war. Der Kerl war ein mieses Arschloch, der hat sich bestimmt mehr als genug Feinde gemacht.“
„Dann schlage ich vor, wir setzen genau da an, und zwar bevor wir nach Bolivien gehen. Ich weiß immer gern, womit ich es zu tun habe und ich mag keine unliebsamen Überraschungen. Soviel ich weiß, wurde sein Auto hochgejagt. Gibt es noch irgendwo Überreste davon?“
Javier überlegte einen Moment. Dinnort war tot. Wenn er wüsste, wer dafür verantwortlich war, würde er ihm wahrscheinlich ein Dankesschreiben zukommen lassen. Aber gut, wenn diese Americana unbedingt das Autowrack sehen wollte. Es konnte ja nicht so schwer sein, herauszufinden, auf welchem Schrottplatz das Ding stand.
„Ich werde es herausfinden.“
Jane nickte, während sie den Rest Cola herunterschluckte.
„Mmmh. Ich möchte dem amerikanischen Botschafter einen Besuch abstatten. Es interessiert mich brennend, ob der die ganze Zeit vollkommen ahnungslos war oder nicht.“
„Du willst in die amerikanische Botschaft? In das mutmaßliche CIA-Hauptquartier dieser Stadt? Bist du wahnsinnig?“
Sie lachte. „Ja, manchmal schon. Wäre ich sonst hier? Aber jetzt habe ich wirklich Hunger. Bekommt man hier irgendwo etwas Brauchbares zu essen? Und wage dich nicht, in diesem Kühlschrank nachzusehen!“
Javier nickte ergeben. Wenn diese Frau sie beide morgen in den Abgrund reißen wollte, indem sie in die amerikanische Botschaft stolzierte, sollten sie die Zeit genießen, die ihnen noch blieb.
„Ich kenne sogar ein sehr gutes Lokal. Ich denke, es wird dir gefallen.“
***
Javier stellte den klapprigen Wagen in einer Hofeinfahrt ab. Er öffnete die Beifahrertür und ließ Jane aussteigen. Dann bot er ihr mit einem Grinsen den Arm.
„Señora, darf ich Sie in eines der besten Lokale der Stadt ausführen?“
Jane lachte und hakte sich bei ihm ein. Er steuerte auf ein Gebäude zu, das im Stil einer Hazienda gebaut war. Es war mehrstöckig und besaß einen von außen nicht einsehbaren Innenhof, in dem einfache Tische standen. Balken, die den ganzen Hof überspannten, boten die Möglichkeit, Sonnensegel anzubringen. Im Sommer sicher eine angenehme Sache. Sie setzten sich an einen der Tische unter die Arkaden. Das Lokal war recht gut besucht. Hier war nichts von der düsteren Stimmung zu spüren.
Das Essen war bodenständig. Es gab Fleischeintopf, Maisbrot und Pastete. Zu allem wurde eine scharfe grüne Chilisauce serviert.
„Möchtest du Wein?“
Es war bestimmt besser, einen klaren Kopf zu behalten. Aber es war so schön hier, fast, als befände sie sich nicht in einer der gefährlichsten Städte, die die Welt gerade zu bieten hatte. Gegen ein Glas Wein war nun wirklich nichts einzuwenden. Sie nickte.
Der Rotwein war nicht allzu schwer und passte perfekt zu dem pikanten Eintopf. Sancho, der Wirt, kannte Javier und zwinkerte ihm zwischendurch zu. Es war klar, dass er Jane für Javiers Freundin hielt. Er war ein freundlicher älterer Herr mit puscheligen Ohren und einem geringelten buschigen Eichhörnchenschwanz, der hinten aus seiner Hose ragte. Jane schaute in ihr Glas und wieder zum Wirt. Der war allerdings bereits um die Ecke verschwunden. Aber der Barmann und die Kellnerin, die den Nachbartisch bediente, die waren da. Freundliche Hasenmäuse, die eifrig hin und her liefen. Hui, vielleicht hätte sie es doch besser bei einem Glas belassen sollen. Es gab keine eichhörnchenschwänzigen Kaninchen, die Lokale führten, auch nicht in Chile. Sie kicherte.