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Der Finanzkapitalismus wirtschaftet nur kurzfristig, behaupten seine Kritiker. Auf der Jagd nach der höchsten Rendite gehen Investoren über Leichen und interessieren sich nicht für Übermorgen. Zur Unterstützung dieser Thesen wird eine Reihe von Indizien herangezogen.
Zunächst zum Wirtschaften nach Quartalsergebnissen: Es gibt zweifellos zahlreiche Unternehmen, deren Führung versucht, von Quartal zu Quartal möglichst stabile Umsätze und Gewinne präsentieren zu können. General Electric war unter der Management-Legende Jack Welch das Paradebeispiel eines Unternehmens, das eine geradezu übernatürliche Stabilität aufwies und in jedem Quartal genau einen Cent mehr Gewinn erzielte, als Analysten prophezeit hatten. Mit dieser Strategie ließen sich zweifellos viele Anleger foppen. Doch es gab auch mehr als genug kluge Köpfe, die diese Tricksereien durchschauten. Kritiker des Wirtschaftens nach Quartalsergebnissen gehören offenbar nicht zu der letzteren Gruppe, denn sie sind selbst davon überzeugt, dass solche Tricksereien funktionieren.
Andere Kritiker jammern über das Aufkommen computergestützter Handelsstrategien, die im Mikrosekundentakt Wertpapiere kaufen und verkaufen, als Indiz für kurzfristige Anlagehorizonte. Das Aufkommen dieser Hochfrequenzhändler deutet jedoch eher auf das Gegenteil hin. Bis nach der Jahrtausendwende wurden Aktienkurse durch offizielle Kursmakler ermittelt, die bei festen Preisspannen zum niedrigeren Geldkurs (Disagio) kauften und teurer auf dem Briefkurs (Agio) wieder verkauften.
In Europa sind Kursmakler bereits in den 90er Jahren von der Computertechnik, in Deutschland insbesondere durch Xetra, ersetzt worden. An der New Yorker Börse konnten sie sich ihre lukrative Nische allerdings noch bis 2007 erhalten. Seitdem wird die Kurspflege nicht mehr von Menschen auf dem Parkett betrieben, sondern vollelektronisch von Computern in Sekundenbruchteilen. Die Preisspannen zwischen Kauf- und Verkaufskursen sind seitdem stark geschrumpft. Computergesteuerte Hochfrequenzhändler haben lediglich das Geschäft der ehemaligen Parketthändler übernommen, zudem mit wesentlich geringeren Margen.
Davon profitiert haben die Anleger, denn Transaktionskosten für institutionelle Anleger haben sich zwischen 2000 und 2011 halbiert.10 Auch Menschen, die nicht direkt an der Börse teilnehmen, kommen indirekt in den Genuss der niedrigeren Transaktionskosten, wenn sie Betriebsrenten oder Lebensversicherungen haben, denn deren Auszahlungen fallen bei niedrigeren Kosten entsprechend höher aus.
Hochfrequenzhandel stellt also keine fundamentale Wandlung des Börsengeschäfts dar. Es fand vielmehr eine Verschiebung des Geschäfts von Menschen auf dem Börsenparkett hin zu schnelleren und billigeren Computern statt. Ein technischer Wandel, der sich nicht wesentlich vom Übergang von Reisebüros zu Onlinebuchungen unterscheidet. Zwar gibt es nur wenige Firmen, die solche Computerstrategien einsetzen. Auch wurde Hochfrequenzhandel nicht von böswilligen Finanzhaien erfunden, sondern kam auf Betreiben der Wertpapieraufsicht zustande, die das Monopol der Parketthändler brechen wollte, um Transaktionskosten zu senken – eine Strategie, die aufgegangen ist. Wegen der extrem kurzen Haltedauer können Computer jedoch eine große Zahl von Transaktionen ausführen und sind deshalb für einen überproportional hohen Anteil an den Umsätzen verantwortlich.
Aus eigener Erfahrung und durch Gespräche mit Kollegen habe ich zwar den Eindruck gewonnen, dass es zu Beginn des computergestützten Handelns noch viele schlechte Programme zur Ausführung von Kundenordern gab. Dadurch konnten schnellere Systeme ab und zu ein paar Cent Marge pro Aktie machen. Inzwischen ist die Software aber so weit fortgeschritten, dass es kaum noch Möglichkeiten gibt, allein mit schnelleren Computern Geld zu verdienen, und viele ehemalige Hochfrequenzhändler bereits ihre Algorithmen und auch ihr Geschäftsmodell umstellen mussten. Zwischen 2008 und 2012 sind die Gewinne der Hochfrequenzhändler um drei Viertel zurückgegangen.11 Ironischerweise ist das Medieninteresse am Hochfrequenzhandel gerade in dem Moment gestiegen, als seine Profitabilität zu sinken begann.
Weitere Thesen über das angeblich kurzfristige Denken der Märkte basieren auf der Vorstellung, dass Kapital stets nur die höchste Rendite sucht und abgezogen wird, sobald anderswo höhere Gewinne locken. Im Kapitel 30 werde ich jedoch zeigen, wie sich Pensionsfonds als universelle Eigentümer verstehen, die auf Jahrzehnte hinaus die ihnen anvertrauten Ersparnisse verwalten. Die Behauptung, Fonds mit Milliarden an Kapital würden von einem Tag auf den anderen zwischen Anlagen hin- und her springen, ist absurd. Schon alleine durch die Größe des Anlagevolumens ist dies unmöglich.
Aber auch von der Anlagephilosophie her passt dies nicht zur Strategie der Fonds. Zunächst summieren sich Transaktionskosten bei häufigem Handeln schnell, so dass noch höhere Renditen notwendig wären, um die Kosten auszugleichen. Dies lässt sich aber nur durch höheres Risiko erzielen, was man wiederum nicht mit einem langfristigen Anlagehorizont vereinbaren kann. Noch wichtiger als Transaktionskosten ist für eine langfristig solide Rendite die Reduzierung von Risiken durch eine breite Streuung des Kapitals über verschiedene Anlageklassen wie Aktien, Anleihen und Immobilien, und das jeweils über verschiedene Länder hinweg.
Bei einer solchen Diversifikation kann man nicht einfach schnell der höchsten kurzfristigen Rendite hinterherjagen, da dies die sorgfältig geplante Risikostreuung durcheinanderbringt. Deshalb investieren seriöse Investoren ganz bewusst in Fonds und bei Managern mit niedriger Umschlagshäufigkeit. Das ist genau das Gegenteil kurzfristiger Renditejagd.
Man kann dem Finanzkapitalismus bestenfalls den Vorwurf machen, zu langfristig zu denken. Kapital stellt lediglich den Gegenwartswert zukünftig zu erwartender Gewinne dar. Je länger in die Zukunft man schaut, desto mehr Einfluss haben kleine Veränderungen in der Gegenwart. Ein Beispiel: Wenn eine Zahlung von 10.000 Euro pro Jahr um drei Prozent pro Jahr steigt, beträgt die Summe der Zahlungen nach 20 Jahren rund 268.000 Euro. Ist der Anstieg nur ein Prozent höher, also vier Prozent, beträgt die Summe rund 30.000 Euro mehr. Das entspricht also drei Jahren an zusätzlichen Zahlungen. Verlängert man die Dauer der jährlichen Zahlungen von 20 Jahren auf 30 Jahre, dann beträgt der Unterschied zwischen drei und vier Prozent bereits 85.000 Euro.
Dieses einfache Beispiel zeigt, weshalb nicht kurzfristiges Denken zu starken Kursschwankungen an Märkten führt, sondern langfristiges. Denn bei langfristigem Denken haben selbst kleine Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen große Auswirkungen auf den Gegenwartswert.12 Würde der Turbokapitalismus also wirklich nur kurzfristig wirtschaften, dann dürften die immer wieder beobachteten starken Kursschwankungen gar nicht auftreten.
Die These, wonach der Turbokapitalismus und die Finanzmärkte kurzfristig wirtschaften, klingt zwar auf den ersten Blick verführerisch, stellt sich aber bei genauerem Hinsehen als reine Phantasie heraus.
10 Siehe insbesondere die Analysen von Elkins McSherry Inc. oder Abel/Noser Corp.
11 Quelle: Rosenblatt Securities. Danach beliefen sich im Jahr 2008 die Gesamtgewinne aller Hochfrequenzhändler noch auf 2,94 bis 4,40 Milliarden Dollar, im Jahr 2012 auf nur noch 0,81 bis 1,21 Milliarden Dollar.
12 Auch Barwert genannt. Bei dem hier beschriebenen Beispiel wurde implizit mit einem Diskontsatz von null Prozent gerechnet. Das ist zwar nicht unbedingt realistisch, ändert aber nichts am grundsätzlichen Effekt, den kleine Schwankungen in Wachstumsraten langfristig bewirken.
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Regiert Geld die Welt?
Das gewaltige Wachstum der Finanzvermögen seit 1980 bringt Kapitalismuskritiker auf die Palme. Sie stellen erschreckt fest, dass Finanzvermögen wesentlich schneller gewachsen sind als die Wirtschaftsleistung. Von 1980 bis 2007 lag das nominale Wirtschaftswachstum bei durchschnittlich 6,2 Prozent, was bedeutet, dass sich die Wirtschaftsleistung von 1980 bis 2010 versechsfacht hat. Die Summe der weltweiten Finanzverbindlichkeiten stieg im gleichen Zeitraum um das 17fache mit einem Durchschnittswachstum von rund 10 Prozent.
Auf den ersten Blick deutet die Diskrepanz dieser Zahlen auf ein Ausufern des Finanzsektors hin. Oder, wie manche behaupten, dass sich Real- und Finanzwirtschaft voneinander abgekoppelt haben. Doch wie bei vielen anderen in diesem Buch beschriebenen Statistiken, die auf den ersten Blick alarmierend wirken, stellen sich die tatsächlichen Abläufe als harmlos heraus.
Das Jahr 1980 ist als Anfangspunkt zur Untersuchung verschiedener sozialer Phänomene sehr beliebt. Die 80er Jahre waren der Beginn einer sensationellen Wachstumsperiode der Weltwirtschaft, in der Milliarden Menschen in Entwicklungsländern aus tiefster Armut erlöst wurden. Es ist eine Periode, in der viele Entwicklungen parallel zueinander abliefen, so dass eine einseitige Fokussierung auf nur wenige Faktoren schnell zu Trugschlüssen führen kann. Beispielsweise stiegen aufgrund der sinkenden Zinsen seit 1980 sowohl Aktien- als auch Anleihen- und Immobilienpreise sehr stark.
Diese Beobachtung stellt jedoch nur eine partielle Sicht der Dinge dar und ist nicht sehr aussagekräftig. Denn Finanzvermögen allein sind kein guter Ansatzpunkt, um daraus allzu tiefgreifende Schlüsse zu folgern. Nehmen wir an, Sie besitzen eine Blaue Mauritius. Diese Briefmarke wurde zuletzt für vier Millionen Dollar versteigert. Solange Sie diese Briefmarke privat besitzen, ist sie zwar vier Millionen wert, zählt aber nicht zum weltweiten Finanzvermögen.
Nehmen wir nun an, Sie gründen jetzt eine Aktiengesellschaft und bringen als Kapital diese Briefmarke ein. Jetzt gehört Ihnen die Briefmarke nicht mehr. Sie ist Eigentum der Aktiengesellschaft, die jetzt vier Millionen wert ist. Folglich stellen die Statistiker einen Anstieg des weltweiten Finanzvermögens um vier Millionen Dollar fest. Kapitalismuskritiker werden mit Empörung reagieren, weil das weltweite Finanzvermögen schon wieder gestiegen ist, ohne dass sich bei der Wirtschaftsleistung etwas getan hat.
Steigende Finanzvermögen resultieren normalerweise aus produktiveren Aktivitäten als Briefmarkensammeln. Nehmen wir an, sie entwickeln eine Software, gründen eine Aktiengesellschaft, bringen die Software als Kapital in die AG ein und stellen dann Mitarbeiter ein, denen Sie Aktien als Bezahlung geben. Die Aktiengesellschaft wird dann an der Börse notiert, damit ihre Mitarbeiter gegebenenfalls ihre Anteile in bare Münze verwandeln können. Solange Ihnen die Software direkt gehörte, zählte sie nicht zum Finanzvermögen. Doch die Aktiengesellschaft hat einen Wert, um den dann wiederum das weltweite Finanzvermögen steigt. Auch hier würde wieder ein Aufschrei über den Wahnsinn der Märkte folgen.
In beiden Beispielen steigt das weltweite Finanzvermögen nur durch eine juristische Änderung der Besitzverhältnisse. Es bedurfte keiner mysteriösen Machenschaften von Finanzhaien. Direktes Eigentum an Briefmarken oder Software wird durch Zwischenschaltung einer juristischen Person zu indirektem Eigentum. Und genau das ist der Punkt: Ein Firmenwert ist nicht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt erwirtschaftet wird, sondern die Summe der langfristig zu erwartenden Gewinne – ob nun aus dem Verkauf einer Briefmarke oder von Software. Was genau als Finanzvermögen gemessen wird, hat nichts mit der Wirtschaftsleistung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun. Das heißt nicht, dass Finanzen und Wirtschaft von einander abgekoppelt sind. Es bedeutet vielmehr, dass wir in einer Welt leben, in der langfristig gedacht wird, allem Geschwätz über kurzfristiges Denken des Kapitalismus zum Trotz.
Die Entwicklung der Moderne, die messbare Finanzvermögen in die Höhe getrieben hat, ist also die Trennung von Privat- und Firmenvermögen. Im öffentlichen Leben ist die Trennung des Privatvermögens der Mächtigen vom Staatseigentum schon lange vollzogen – von einigen notorischen Kleptokraten in der Dritten Welt einmal abgesehen. L’état, c’est moi – das ist Geschichte. Im Wirtschaftsleben ereignete sich diese Trennung bei großen Kapitalgesellschaften schon im 19. Jahrhundert. Anstatt auf eigene Rechnung zu wirtschaften, gründen selbst kleine Unternehmer heute immer häufiger Kapitalgesellschaften.
Es ist durchaus sinnvoll, dass zwischen geschäftlichem und privatem Vermögen getrennt wird. Geschäftspartner haben mehr Vertrauen in ein Unternehmen als in eine Privatperson, besonders wenn es um größere Beträge geht. Ein Beispiel: Gerade im angelsächsischen Raum ist es vollkommen üblich, dass sich Ärzte oder Rechtsanwälte in Kapitalgesellschaften zusammenschließen. In Deutschland hingegen ist die Rechtsform der GbR für Sozietäten nach wie vor Standard. Folglich ist das Finanzvermögen angelsächsischer Rechtsanwälte höher als das ihrer deutschen Berufskollegen. Die Rechtsform beeinflusst, was als Finanzvermögen gemessen wird. Was kann man daraus folgern? Dass sich Anwälte und Ärzte zu Spekulanten wandeln, je nachdem, welche Rechtsform sie für ihre Praxis wählen? Oder dass, wie im Beispiel mit der Blauen Mauritius, das Sammeln von Briefmarken zum Auseinanderklaffen von Finanz- und Realwirtschaft führt?
Ein weiterer Faktor, der Finanzvermögen steigen ließ, sind zweifellos Privatisierungen von Staatseigentum im Westen wie auch in ehemals kommunistischen Staaten. Weder China noch die damalige Sowjetunion oder andere Ostblockstaaten hatten 1980 nennenswerte Unternehmen, die in Privatbesitz waren. Sobald diese Firmen privatisiert wurden – sei es über Gutscheine wie teilweise in Russland, die an alle Bürger verteilt wurden, oder auch durch weniger transparente Geschäfte – wuchs das globale Finanzvermögen um den Wert dieser nun häufig börsennotierten Unternehmen. Auch hier ist klar, dass der Übergang von Staats- zur Privatwirtschaft zwar die statistische Erfassung der Finanzvermögen von einem Tag auf den anderen explodieren ließ. Daraus nun aber abzuleiten, dass sich Finanzmärkte verselbständigt oder von der Wirtschaft abgekoppelt haben, ist natürlich völliger Unsinn.
Am absurdesten wird die Kritik am steigenden Finanzvermögen, wenn man die Ausgabe von Belegschaftsaktien betrachtet. Eigentlich sind sich alle einig, dass die Beteiligung der Arbeitnehmer an ihrem Betrieb etwas Positives ist. Sobald jedoch Belegschaftsaktien als Teil der Arbeitnehmervergütung neu ausgegeben werden, steigen der Gesamtwert des Unternehmens und damit auch das weltweite Finanzvermögen. An diesem Beispiel sieht man deutlich, wie wenig Aussagekraft diese Statistik hat, und wie schwierig es ist, daraus vernünftige politische Entscheidungen abzuleiten und zu begründen. Vergleichsweise trivial ist es hingegen, mit diesen großen Zahlen um sich zu werfen und Skandal zu schreien.
Und wie sieht es mit der Theorie aus, dass jedem Vermögen eine Schuld gegenüberstehen muss? Auch das ist Unsinn. Wer eine Immobilie besitzt, hat Vermögen. Wer eine Blaue Mauritius oder einen Picasso besitzt, hat Vermögen. All dies sind Vermögenswerte, denen keine Schulden gegenüberstehen. Genauso verhält es sich mit anderem Eigentum wie Aktien, GmbH-Anteilen und dem gezeichneten Kapital von genossenschaftlichen Banken. Lediglich Schuldtitel wie Anleihen, Pfandbriefe, Bankkonten, Sparkassenbriefe oder Festgeld sind Vermögen, denen auch tatsächlich Schulden gegenüberstehen.
Die Vorstellung, dies träfe bei allen Vermögenswerten zu, sagt uns viel über den Kenntnisstand der Kapitalismuskritiker.
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Sind Verbriefungen gefährlich?
Es besteht erstaunlich viel Übereinstimmung in der Ansicht, dass Verbriefungen13 einer der wesentlichen Mechanismen waren, durch den sich die Finanzkrise über Landesgrenzen hinweg und auf verschiedenste Bereiche der Wirtschaft ausdehnen konnte. Die Folge dieser Sicht sind zahlreiche Vorschriften und Gesetze, die Verbriefungen stärker einschränken sollen.
Doch zunächst zur Funktionsweise von Verbriefungen. Vergibt beispielsweise ein Flugzeugfinanzierer einen Kredit für den Kauf eines Flugzeugs, muss der Finanzierer natürlich über den Kreditbetrag verfügen. Um das nötige Kapital zu erhalten, besorgt sich der Flugzeugfinanzierer, meistens ein Finanzdienstleister, der sich auf dieses Segment spezialisiert hat, selbst einen Kredit beispielsweise von anderen Banken, die über reichlich Kundeneinlagen verfügen, aber selbst nicht die Möglichkeit haben, derart große und komplexe Finanzierungen durchzuführen.
Oder aber der Finanzierer emittiert eine Anleihe. Nun sind Flugzeugkredite meistens relativ sicherere Kredite mit geringer Ausfallwahrscheinlichkeit, so dass die Margen sehr gering sind. Es lohnt sich also kaum, einen Finanzierer mit eigenen Eigenkapitalanforderungen zwischenzuschalten. Es wäre für alle Beteiligten sinnvoller, wenn der Kredit direkt von den Eigentümern des geliehenen Kapitals vergeben würde. Verbriefungen sind eine einfache Lösung dieses Problems. Der Flugzeugfinanzierer verpackt eine Reihe von Krediten in eine Anleihe14 und verkauft diese, meist mit Hilfe einer Investmentbank, an Anleger. Dieser Vorgang wird als Verbriefung bezeichnet. Die Anleger wissen nun genau, welche Sicherheiten hinter der Anleihe stehen. Hätten sie stattdessen eine Anleihe des Flugzeugfinanzierers erworben, wüssten sie nicht genau, wie ihr Risiko aussieht – schließlich haben sie zusätzlich zum Ausfallrisiko der Flugzeugkredite noch das allgemeine Risiko, dass der Finanzierer in Konkurs geht. Beim Erwerb einer direkt durch Flugzeuge besicherten Anleihe weiß der Anleger hingegen genau, wie das Risiko aussieht.
Solche Finanzierungen sind meistens billiger, zum einen weil das Risiko für die Anleger besser einzuschätzen ist, zum anderen weil es keine Bank gibt, die eine Marge braucht. Verbriefungen sind inzwischen von allen nur denkbaren Forderungen aufgelegt worden. Verbriefungen von Hypotheken, Kreditkarten, Auto-Leasingverträgen und Studienkrediten sind durch die Finanzkrise weithin bekannt geworden.
Aber auch andere weniger offensichtliche Anwendungsgebiete existieren. So nahm beispielsweise der Musiker David Bowie in den 90er Jahren einen Kredit über 100 Millionen Dollar in Form von verbrieften Tantiemen auf. Er bot den Inhabern der Anleihe alle seine zukünftigen Lizenzeinnahmen als Sicherheit. Bowie tilgte die Anleihe übrigens pünktlich.
Der Staat Mexiko verbriefte während der lateinamerikanischen Schuldenkrise seine Öleinnahmen, um billig an Geld zu kommen. Durch diese Sicherheiten konnte Mexiko auf die Anleihen wesentlich niedrigere Zinsen zahlen als auf andere Kredite, die unbesichert waren und deren Gläubiger allein vom guten Willen und der Zahlungsfähigkeit Mexikos abhängig waren. Fluggesellschaften haben nicht nur Flugzeuge und Triebwerke verbrieft, sondern auch Start- und Landerechte und sogar Flugsteige auf Flughäfen.
Auch die Regierung unter Kanzler Schröder nutzte die Möglichkeit von Verbriefungen aktiv, um russische Staatsschulden loszuwerden. Eine eigene Zweckgesellschaft wurde dazu gegründet: die Aries Vermögensverwaltungs GmbH. Aries emittierte Anleihen in Höhe von fünf Milliarden Euro, die in die Kasse des Bunds flossen. Im Gegenzug trat der Bund alle Zahlungen, die Russland auf diese Schulden leistete, an Aries und damit die Käufer der Anleihen ab.
Sogar ein Kreditderivat packte der damalige SPD Finanzminister Hans Eichel in diese Verbriefung. Hätte Russland die Zahlungen auf die Schulden eingestellt, wären 80 Prozent der Verluste von den privaten Anleihekäufern getragen worden und der Rest von der KfW. Der Bund schloss also eine Wette auf eine russische Staatspleite ab, die ihm Verluste ersparte.
Die KfW war überhaupt sehr aktiv in Verbriefungen, und zwar schon lange, bevor sie in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf bekamen. In den Jahren 2000 bis 2006 verbriefte sie Kredite an mittelständische Unternehmen unter dem Namen Promise15 in 17 Transaktionen. Dabei benutzte sie eine eigens in Irland gegründete Zweckgesellschaft, wohlgemerkt mit Wissen und Billigung der Politiker, die in ihrem Aufsichtsrat sitzen. KfW erwarb die Kredite nicht einmal, sondern schloss mit den Banken, die diese Kredite vergeben hatten, einen Vertrag über ein Kreditderivat (CDS) ab. Wohlgemerkt: die KfW ist eine staatliche Bank mit einem Aufsichtsrat, der aus Politikern aller Parteien und Vertretern allerlei anderer gesellschaftlicher Gruppen besteht.
Verbriefungen reihen sich in ein langes Hin und Her zwischen Banken und Märkten ein. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Anleihen von Schwellenländern, die mehr oder weniger regelmäßig ihre Schulden nicht begleichen konnten. Das Ergebnis waren häufig Verluste bei den Sparern, meist in Europa, die ihr investiertes Geld nie wiedersahen.
Während der Zeit von Bretton Woods gewann der Keynesianismus die Oberhand und mit ihm der Glaube an die Weisheit der Technokraten. Zu dieser Zeit wurden nur noch wenige Anleihen emittiert. Stattdessen war man davon überzeugt, dass einige wenige Technokraten in Großbanken die Ausfallrisiken von Krediten besser abschätzen können als eine große Zahl von Anlegern, die in Anleihemärkte investieren. Diese Denkweise hat derzeit in Folge Finanzkrise leider wieder Konjunktur.
Die Ernüchterung kommt jedoch, wenn man die Folgen betrachtet. Denn es hat sich immer wieder gezeigt, dass eine kleine Zahl von Spezialisten keineswegs besser in der Risikoabwägung ist als eine große Zahl von Investoren in Anleihemärkten. In den 70er Jahren nahmen die Staaten Lateinamerikas Kredite bei Banken auf, hauptsächlich bei nordamerikanischen. Dies war eine Neuerung, denn traditionell liehen sich lateinamerikanische Länder Geld durch Anleihen, die von Sparern in Europa erworben wurden. Zahlreiche Zahlungsausfälle dieser Staaten sind aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert dokumentiert. Die Kredite der 70er Jahre notierten in der Leitwährung Dollar. Da amerikanische Banken viele Petrodollar, also Guthaben der erdölfördernden OPEC-Staaten, besaßen, war die Wahl dieser Institute als Kreditgeber naheliegend.
Lateinamerika hatte hohe Wachstumsraten und die Technokraten der Banken sowie andere Wirtschaftsexperten sahen deshalb keinen Grund, an der Zahlungsfähigkeit der lateinamerikanischen Staaten als Kreditnehmer zu zweifeln. Doch wie so oft kam es anders, als die Experten prognostizierten. Ein Land nach dem anderen musste die Zahlungen einstellen. Die Banken saßen trotz der detaillierten Analysen hochqualifizierter Experten auf gewaltigen faulen Krediten. Manche Großbank musste gerettet werden.
Um die Kredite aus den Bilanzen der Banken zu bekommen, wurden sogenannte Brady-Bonds emittiert, benannt nach dem damaligen amerikanischen Finanzminister James Brady, ihrem Erfinder. Es waren Anleihen, in denen die Kredite der lateinamerikanischen Staaten mit US-Anleihen kombiniert wurden. Diese Anleihen waren nichts anderes als Verbriefungen und erfüllten ihren Zweck. Die Kredite belasteten nicht mehr die Banken.
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ereignete sich eine weitere Kreditkrise, diesmal durch Hypotheken auf Immobilien hauptsächlich in den Südstaaten der USA. Dort war es nach rund einem Jahrhundert der regionalen Stagnation in den 80er Jahren plötzlich zu einem wahren Bauboom gekommen. Die Südstaaten schienen sich von der wirtschaftlichen Misere, die seit dem Ende des Bürgerkriegs (1861–1865) andauerte, endlich befreit zu haben und firmierten jetzt als Sonnengürtel.16
Doch Ende der 80er Jahre erklärte der neue Chef der Zentralbank, Paul Volcker, der Inflation den Kampf und erhöhte die Zinsen drastisch. Dazu kam 1986 eine Verschlechterung der steuerlichen Behandlung kommerziell genutzter Immobilien, wodurch ein Crash bei den Preisen solcher Objekte ausgelöst wurde. Die ersten Opfer waren Immobilienbesitzer und Bauherren, die ihre Zinsen nicht mehr zahlen konnten. Bauruinen schmückten das Stadtbild vieler Orte.
Bald kamen auch die ersten Sparkassen in Schwierigkeiten, die Hypotheken auf diese Immobilien vergeben hatten. Der staatliche Einlagensicherungsfonds fand sich als Eigner vieler solcher Hypotheken wieder, als er insgesamt 747 Pleitebanken und Sparkassen abwickelte. Zur Verwaltung dieser Altlasten wurde 1989 eine eigene Behörde gegründet, die Resolution Trust Company (RTC).
Doch was soll eine Behörde mit Hypotheken im Wert von fast vierhundert Milliarden Dollar? Verbriefungen boten eine elegante Lösung, die für die Rettung investierten Steuermilliarden schnell wieder hereinzuholen. Schon 1991 konnte die RTC ein Programm zur regelmäßigen monatlichen Verbriefung von Hypothekenforderungen auflegen. Bis Ende 1994 verkaufte die RTC ihre verbrieften Forderungen für im Schnitt rund 90 Prozent des Nominalwerts.17 Wenn man bedenkt, dass viele dieser Hypotheken ohne genaue Dokumentation verbrieft wurden – die Käufer also nicht wussten, was genau es mit den Immobilien auf sich hatte – dann ist ein gerade mal zehnprozentiger Preisabschlag ein Erfolg.