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Die Legende der „falschen” Bewertungen nahm ihren Anfang in einem fundamentalen Missverständnis, dem die Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger bis weit in die Krise hinein aufsaß. Sie interpretierten Griechenlands Schwierigkeiten fälschlicherweise als eine Wiederholung der Liquiditätsengpässe, die zuvor Banken geplagt hatten, und die durch staatliche Garantien mit minimalem Aufwand beseitigt werden konnten. Doch Griechenland ging nicht durch eine Liquiditätskrise, sondern war schlicht und einfach insolvent.
Insolvenz und Liquiditätsengpass können unter dem Sammelbegriff Zahlungsunfähigkeit zusammengefasst werden. In beiden Fällen ist ein Schuldner nicht in der Lage, fällige Zahlungen zu leisten. Der Unterschied liegt in der Ursache für die Zahlungsunfähigkeit: bei einem Liquiditätsengpass hat der Schuldner zwar ein ausreichendes Vermögen, um seine Schulden zu bedienen. Es ist jedoch langfristig angelegt, so dass es nicht ohne weiteres zu liquiden Barreserven auf einem Konto liquidiert werden kann.
Ein Beispiel dafür ist ein Schuldner, der eine Immobilie besitzt, die mehr wert ist als die ausstehende Hypothek. Wenn der Schuldner keine ausreichenden Barreserven hat, kann er fällige Kreditzahlungen nicht leisten. Der Erlös aus dem Verkauf der Immobilie würde ausreichen, den Kredit zurückzuzahlen. Bis zur Fälligkeit der Zahlung lässt sich aber so ein Verkauf nicht arrangieren, und in vielen Fällen wäre der Verkauf auch wirtschaftlich gar nicht sinnvoll. Der Schuldner erleidet einen klassischen Liquiditätsengpass, der durch Garantien oder Überbrückungskredite behoben werden kann. Ein kurzfristiger Kredit oder eine Stundung der Zahlung bis zum Verkauf der Immobilie reicht aus. Die Hypothek würde keinen Verlust verursachen.
Im Gegensatz dazu ist ein Schuldner insolvent, wenn in diesem Beispiel selbst der Verkauf der Immobilie nicht ausreichen würde, um die Schulden zurückzuzahlen. Kein Überbrückungskredit kann die Solvenz des Schuldners wieder herstellen.

Bild 1: Ausgaben, Garantien und tatsächlich Kosten der Rettungsmaßnahmen in Prozent des Bruttosozialprodukts; Quelle: Stéphanie Marie Stolz, Michael Wedow: Extraordinary Measures in Extraordinary Times. Public Measures In Support of the Financial Sector in the EU and the United States. Occasional Paper Series No 117, Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main, Juli 2010
Die Bankenkrise der Jahre 2008 und 2009 war ein typischer Liquiditätsengpass, der durch Garantien behoben werden konnte. Vielen entging damals, dass ein Großteil der gewaltigen Beträge, die zur Bankenrettung bereitgestellt wurden, in Wirklichkeit Garantien waren, die nie abgerufen werden mussten. Es wurde also nicht wirklich Geld ausgegeben, obwohl die Garantien in der staatlichen Buchführung als Ausgaben deklariert werden mussten. Nur bei einem Teil der Beträge handelte es sich um tatsächliche Ausgaben, wie beispielsweise bei der Stützung der Hypo Real Estate. Bild 1 zeigt eine Übersicht über die Kosten der weltweiten Hilfsprogramme. Der weit größte Teil der deutschen Hilfspakete bestand aus Garantien, die nie abgerufen wurden – genau der Effekt, den man bei der erfolgreichen Bekämpfung einer Liquiditätskrise erwarten würde. In der Öffentlichkeit erhält sich trotzdem der Eindruck, die gewaltigen Summen der Garantien wären Steuergelder, die an die Banken ausgezahlt wurden. Leider gibt es mehr als genug Politiker, die diesen falschen Eindruck absichtlich forcieren.
Im Gegensatz zur Bankenkrise der Jahre 2008 bis 2009 erlebte Griechenland zu keiner Zeit einen Liquiditätsengpass, sondern war schlicht und einfach insolvent. Seine Schulden hatten bereits zu Beginn der Krise ein Niveau erreicht, auf dem eine Rückzahlung angesichts der schlechten wirtschaftlichen Aussichten nicht mehr realistisch war. Doch leider verstanden Politik und Presse den wahren Grund der griechischen Probleme nicht. Sie erwarteten, mit einem oder auch ein paar Rettungsschirmen ein einfaches Liquiditätsproblem überbrücken zu können. Gebetsmühlenartig wurden Durchhalteparolen wiederholt: anfangs wurde der Öffentlichkeit erzählt, Griechenland könne sich spätestens 2011 wieder bei Privatanlegern über die Märkte Geld besorgen. Bis dahin sollten die Rettungsschirme Überbrückungsgeld zur Verfügung stellen. Aus 2011 wurde dann 2012, und schließlich – kam der Schuldenschnitt.
Woher diese Fehlinterpretation stammte, ist schwer zu sagen. Vielleicht waren Politiker und Presse zu sehr auf die gerade erst beigelegte Bankenkrise fixiert, in der Liquiditätsspritzen die Gesundung des Systems einleiten konnten. Vielleicht haben sie auch wirklich nicht den fundamentalen Unterschied dieser zwei verschiedenen Arten von Zahlungsunfähigkeit verstanden. Vielleicht beides.
Während die Politik die Ursache der Krise fehlinterpretierte und auf das Prinzip Hoffnung setzte, hatten sich die Kreditgeber Griechenlands mit der Materie intensiver auseinandergesetzt. Kreditgeber können sehr genau zwischen Liquiditätsproblemen und mangelnder Solvenz differenzieren. Einschätzungen dieser Art sind schließlich ihr tägliches Brot.
Als der neu gewählte griechische Finanzminister Giorgos Papakonstantinou im Oktober 2009 einräumte, dass Wahlkampfversprechen über Mehrausgaben gebrochen würden, weil das Haushaltsdefizit bei 12 oder 13 Prozent anstatt der bis dahin behaupteten sechs Prozent lag, verstanden Anleger schnell, dass eine Rückzahlung der Staatsschulden bei einer schwächelnden Wirtschaft schwierig würde.
Folglich investierte kaum noch jemand in neue griechische Anleihen. Die Märkte funktionierten genau so, wie man erwarten würde. Ein mangelndes Angebot an Kapital führt zu steigenden Zinsen für den griechischen Staat. Kapitalismuskritiker hingegen sehen dies als eine Fehlfunktion des Markts. Sie halten die Zurückhaltung der Investoren trotz des vorhersehbaren Zahlungsausfalls für irrational.
Auch in den Rating-Agenturen wurde den Analysten klar, dass eine Rückzahlung von Griechenlands Schuldenberg schwierig werden könnte. Zwei Tage nach dem Offenbarungseid des Finanzministers stufte die Rating-Agentur Fitch Griechenland von A auf ein immer noch gutes A- herab, also das gleiche Niveau, das derzeit Polen hat.22
Als sich Griechenlands Haushaltslage immer weiter verschlechterte und Hilfsmaßnahmen beschlossen wurden, stiegen die Zinsen und parallel dazu passten die Analysten die Bonitätseinstufungen an. Im April 2010 stufte S&P die Bonität Griechenlands zum ersten Mal auf Ramschniveau: BB+, also gerade einmal knapp 30 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Zahlungsausfall kommen könnte. Das ist nicht gerade ein Weltuntergangsszenario.
Trotzdem vernahm man aus Athen das Wort unerklärlich und Ähnliches aus Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten. Die Rating-Agenturen verstünden Europa nicht, manch einer vermutete gar ein angelsächsisches Komplott. Es hieß gar, Finanzmärkte würden die Politik vor sich hertreiben.
Anstatt auf eine geordnete Insolvenz hinzuarbeiten, wurden von der Politik immer neue Rettungsschirme gespannt. Rating-Agenturen prophezeiten durch ihre Abwertungen eine hohe Wahrscheinlichkeit eines Verlusts für Anleger. Investoren verkauften ihre griechischen Staatsanleihen zu Preisen, die auf einen Schuldenschnitt hindeuteten. Lediglich die Politik propagierte noch die Sicherheit der griechischen Schulden, für die man nur kurzfristige Überbrückungskredite brauche.
Ich habe bereits Anfang 2011 Analysen gesehen, in denen Analysten aus der Privatwirtschaft einen Schuldenschnitt von 60 bis 90 Prozent vorhersagten. Doch die Politik sträubte sich noch lange gegen eine realistische Einschätzung der Lage. Es dauerte bis Mitte 2011, bis überhaupt eine Reduzierung der Schulden Griechenlands in der Öffentlichkeit ins Gespräch gebracht wurde, zunächst zaghaft mit einem Schuldenschnitt von mickrigen 20 Prozent. Erst im Oktober 2011 ging es dann um eine Reduzierung des Nominalwertes der Schulden um fünfzig Prozent, was aufgrund der Ausgestaltung jedoch einem Wertverlust von 70 bis 80 Prozent entsprach.
Manche Politiker waren sich über den Unterschied zwischen Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz auch noch nicht im Klaren, als Griechenland schon auf eine Umschuldung hinarbeitete. Noch im Februar 2012 behauptete Peer Steinbrück, der als Finanzexperte gilt und es eigentlich besser wissen müsste, dass eine schnelle Einführung von Eurobonds Zeit schaffen würde, auf eine geordnete Insolvenz Griechenlands hinzuarbeiten. Doch Eurobonds hätten eine Insolvenz eben gerade verhindern sollen.
Wenn die Lage erst einmal stabilisiert ist, besteht kein Grund mehr für eine Insolvenz, denn der wirtschaftliche Druck für einen Schuldenschnitt geht zurück. Steinbrück glaubte, es handle sich um eine Refinanzierungs-Krise einzelner Staaten aus unterschiedlichen Gründen.23 Dies ist ein anderer Ausdruck für eine Kreditklemme oder einen Liquiditätsengpass, der mit Überbrückungskrediten wie Eurobonds gelöst werden kann. Doch genau das war es eben nicht.
Die Rating-Agenturen standen zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr im Mittelpunkt der Kritik, auch nicht, als sie im Oktober 2011 Griechenland auf CCC- herabstuften. Dies ist die niedrigste Stufe vor der Insolvenz. Inzwischen hatte sich auch in der Öffentlichkeit herumgesprochen, dass keine Hoffnung auf Rückzahlung der Schulden Griechenlands besteht, Rating-Agenturen hin oder her.
Während der Finanzkrise mussten sich die Rating-Agenturen vorwerfen lassen, zu langsam mit Herabstufungen von Verbriefungen amerikanischer Hypotheken gewesen zu sein. In der Griechenlandkrise waren sie dann angeblich zu schnell. Doch die Kritiker haben keine vernünftigen Alternativvorschläge zu bieten. Wann genau hätten die Rating-Agenturen denn Griechenland auf Ramschstatus herabstufen sollen? Erst 2011, als endlich auch die Politik einsah, dass es zum Schuldenschnitt kommen sollte? Der Ruf der Rating-Agenturen ist nicht ruiniert, weil sie schlecht gearbeitet haben, sondern weil oft genug wiederholt wurde, sie würden alles falsch machen und seien zu mächtig.
Der Grund für diese scheinbare Macht der Rating-Agenturen liegt teilweise in der Bedeutung, die ihnen von den Aufsichtsbehörden eingeräumt wird. Banken und Versicherungen dürfen nur in Anlagen guter Bonität investieren. Wird die Bonität durch eine Bank oder Versicherung selbst festgelegt, ist dies für Kunden nicht zu durchschauen. Jedes Institut würde andere Maßstäbe anlegen – und im Zweifel auch die schlechtesten Schuldner bestens einstufen.
Niemand würde beispielsweise einer Lebensversicherung seine Ersparnisse anvertrauen, wenn sie die Risiken ihrer Anlagen selbst einschätzt. Dann bestünde die Gefahr, dass die Versicherungen mit Kundeneinlagen riskante Anlagen tätigen, um eine etwas höhere Rendite zu erzielen. Schließlich sind Renditen ein wichtiges Verkaufsargument von Lebensversicherungen, und Verbraucherzeitschriften nutzen Renditen als Grundlage von Empfehlungen. Kunden könnten nicht abschätzen, ob eine höhere Rendite durch bessere Anlagen und geringere Kosten zustande kam, oder ob sie lediglich das Ergebnis laxer Standards bei der Bonitätsprüfung ist, durch die riskantere Anlagen mit hoher Rendite in der Versicherung landeten. Eine Aufweichung der Vorschriften mag vielleicht im Sinne der Politik sein, ist aber sicherlich nicht im Sinne der Verbraucher.
Auch eine gesetzliche Regelung für Banken und Versicherungen zur Reduzierung des Einflusses der Rating-Agenturen dürfte nur wenig an diesem Einfluss ändern. Fonds und Rentenkassen investieren in Anleihen, wobei sie sich an der durch Ratings ausgedrückten Bonität orientieren. Zur Beurteilung ihrer Leistung ziehen sie dann einen Vergleichsindex zu Rate. Zur Berechnung dieser Indizes gibt es eine Reihe von Anbietern. Ein solcher Vergleichsindex gibt an, welche Rendite sich mit Anlagen einer bestimmten Bonität über einen Zeitraum erzielen ließ. Dieser Vergleich ist ein wichtiger Maßstab in der Beurteilung der Verwalter von Anlagen. Häufig haben diese Vermögensverwalter ein ausdrückliches Mandat, die im Index vertretenen Anlagen so gut wie möglich nachzubilden, manchmal haben sie auch mehr Freiraum.
Eine Aufweichung der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen für Versicherungen würde diese Vergleichsindizes nicht betreffen. Sie würden nach wie vor nach Ratings zusammengestellt. Eine allzu harte Gangart gegen die Rating-Agenturen könnte sogar nach hinten losgehen. Ein Verbot von Herabstufungen im Falle staatlicher Finanzprobleme, wie es die Europäische Kommission vorgeschlagen hat, hätte zur Folge, dass potentiell von einem Verbot betroffene Staatsanleihen von den Indices von vorne herein ausgeschlossen würden, da die Ratings im Ernstfall keine Bedeutung mehr haben. Alle Fonds und Investoren, die den Indices folgen, würden dann diese Staatsanleihen abstoßen. Damit wäre genau das erreicht, was die restriktiven Regelungen verhindern sollen.
Die größten Gefahren durch die Debatte über die Rating-Agenturen kommen nicht von den vorgeschlagenen Maßnahmen selbst, sondern vielmehr durch den vermittelten Eindruck, dass die Politik in Europa durch Zwangsmaßnahmen versucht, die wahren Probleme zu verschleiern. Wer heute wirklich noch glaubt, die Rating-Agenturen hätten Griechenland voreilig herabgestuft, hat die Entwicklung nur partiell wahrgenommen.
Kein Wunder, dass alle Versuche scheitern, Investoren aus Nahost und Fernost für den Rettungsschirm zu gewinnen. Die Debatte über Rating-Agenturen hat gezeigt, dass die europäische Politik bereit ist, ähnlich rabiat gegen unabhängige Prognosen vorzugehen, wie die argentinische Regierung gegen jene private Forschungsinstitute, die unabhängig Inflationsraten berechneten.
21 Veit Medick, Roland Nelles: Gabriel nimmt Rating-Riesen in Schutz. SPD-Chef im Interview. Spiegel Online, 17. 1. 2012.
22 Stand: Januar 2014.
23 Nils Rüdel: Macht Platz für Peer. In: Handelsblatt, Düsseldorf, 18. 2. 2012.
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Gaben Banken Griechenland leichtfertig Kredite?
Nicht nur den Rating-Agenturen wird Schuld am Griechenland-Debakel gegeben, sondern auch Banken. Sie hätten Griechenland nach dem Euro-Beitritt des Landes leichtfertig Kredite gewährt, ohne auf die Risiken zu achten.
Dieses Argument gehört zu den marktkritischen Denkmustern, mit denen Kapitalismuskritiker immer wieder die Kompetenz staatlicher Bürokratie höher schätzen als die der staatlichen Untertanen. Heiner Flassbeck, einst Staatssekretär im Finanzministerium unter Oskar Lafontaine und heute bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung in Genf, glaubt, Rating-Agenturen und Märkte könnten die komplexen Zusammenhänge von Märkten, Staaten und Menschen nicht richtig beurteilen.24
Vielleicht haben die Kritiker damit sogar recht. Vielleicht können es die Menschen in Rating-Agenturen und an den Märkten wirklich nicht. Doch wer kann es besser? Sind die Beamten der Ministerien Supermänner? Oder vielleicht sollte man die Kontrolle gar an unfehlbare Besserwisser wie Flassbeck abtreten?
Es hat sich in der Krise immer wieder gezeigt, dass Regierungen und Politiker ihre eigenen Ziele verfolgen und zu einer besseren Einschätzung als Märkte nicht in der Lage sind. Die Kreditvergabe an Griechenland in den Jahren vor der Krise ist dafür ein gutes Beispiel.
Wenn Regierungen wirklich bessere Fähigkeiten besitzen als Menschen, die in Märkten aktiv sind, hätten sie sicherlich nach dem Eintritt Griechenlands in den Euro überlegtere Entscheidungen treffenkönnen. Nicht zuletzt zum Haushaltsdefizit dieses Landes, das jedes Jahr weit über dem Maastricht-Kriterium von drei Prozent lag.
Doch aus der Politik kamen keine Weisheiten. Stattdessen wurde im Mai 2007 das Defizitverfahren gegen Griechenland eingestellt. Es war im Mai 2004 eingeleitet worden, ein Jahr nach dem Beginn des Verfahrens gegen Deutschland. Die optimistischen, ja schönfärberi-schen Prognosen der Kommission gehen aus der Presseerklärung in Exponat 1 hervor. Von der Bundesregierung kamen jedenfalls keine Proteste. Das lag vielleicht auch an der gleichzeitigen Einstellung des Defizitverfahrens gegen Deutschland.
Exponat 1
[…] Zur Situation in Griechenland stellte [Joaquin Almunia, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung] Folgendes fest: „Das griechische Defizit wurde im Jahr 2006 auf ein Niveau unter 3 % gesenkt und wird voraussichtlich auch im nächsten und im übernächsten Jahr unterhalb dieser Marke bleiben.” […]
Griechenland
Die Kommission hat heute die Einstellung des Verfahrens gegen Griechenland durch den ECOFIN-Rat empfohlen, da ihrer Auffassung nach das übermäßige Defizit glaubwürdig und nachhaltig korrigiert wurde.
Das gesamtstaatliche Defizit wurde von 5,5 % des BIP im Jahr 2005 auf 2,6 % des BIP im Jahr 2006 zurückgeführt. Die strukturelle Anpassung, also die Verbesserung des konjunkturbereinigten Saldos ohne Anrechnung einmaliger und sonstiger befristeter Maßnahmen, belief sich zwischen 2004 und 2006 auf 41/2 Prozentpunkte des BIP. Nach der Frühjahrsprognose der Kommission dürfte sich das Gesamtdefizit im Jahr 2007 auf 2,4 % des BIP verringern (wobei einmalige Maßnahmen in der Größenordnung von 0,5 % des BIP noch eingerechnet sind) und bei unveränderter Politik im Jahr 2008 geringfügig auf 2,7% des BIP ansteigen, jedoch ohne weiteren Rückgriff auf einmalige Maßnahmen. Dies lässt darauf schließen, dass das Defizit glaubwürdig und nachhaltig unter den gemäß Vertrag vorgesehenen Referenzwert zurückgeführt wurde.
Griechenlands öffentlicher Bruttoschuldenstand ging von 1081/2 % des BIP im Jahr 2004 auf 1041/2 % im Jahr 2006 zurück. Die Kommission geht in ihrer Prognose von einem weiteren Rückgang bis auf etwa 971/2 % des BIP bis 2008 – bei unveränderter Politik – aus. Die Schuldenquote kann somit als hinreichend rückläufig angesehen werden. Griechenland verzeichnet derzeit nach Italien die zweithöchste Schuldenquote im Eurogebiet.
Nichtsdestoweniger muss Griechenland das starke Wirtschaftswachstum (4,3 % im Jahr 2006 und voraussichtlich 3,7 % im Jahr 2007) nutzen, um sein strukturelles Defizit, das trotz erheblicher Verringerung in den letzten zwei Jahren immer noch über 3 % liegt, abzubauen und der Realisierung seines mittelfristigen Ziels eines ausgeglichenen Haushalts näherzukommen. Die ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine rasche Reduzierung der öffentlichen Schulden und für eine Verbesserung der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, die derzeit angesichts der zu erwartenden Rentenerhöhungen und anderer alterungsbedingter Ausgaben ernsthaft in Frage gestellt ist.
Das Defizitverfahren gegen Griechenland wurde im Mai 2004 eingeleitet, nachdem das Haushaltsdefizit im Jahr 2003 3,2 % des BIP betragen hatte. Im Februar 2005 beschloss der Rat, Griechenland gemäß Artikel 104 Absatz 9 des EGVertrags in Verzug zu setzen mit der Maßgabe, das übermäßige Defizit spätestens bis 2006 abzubauen. Der Rat forderte Griechenland darüber hinaus auf, für Verbesserungen bei der Erhebung und Verarbeitung der den Gesamtstaat betreffenden Daten zu sorgen. Die griechischen Statistikbehörden haben ihre Verfahren optimiert, was insgesamt zu einer höheren Datenqualität geführt hat. Die Kommission (Eurostat) hat daraufhin ihre Vorbehalte bezüglich der Qualität der übermittelten Daten zurückgezogen.
Quelle: Europäische Kommission: Kommission empfiehlt Einstellung des Defizitverfahrens gegen Deutschland, Griechenland und Malta. Presseerklärung, Brüssel, 16. Mai 2007 (Auszug)
Wie hätte also eine Bank reagieren sollen, als die Brüsseler Bürokratie das Defizitverfahren einstellte? Die Kreditvergabe drosseln? Griechenland stand damals auf einer Stufe mit dem ebenfalls rehabilitierten Deutschland. Gegen letzteres hatte das Verfahren immerhin drei Jahre gedauert, gegen Griechenland nur zwei.
Wie wäre wohl die Reaktion der Presse und Öffentlichkeit ausgefallen, von der Politik ganz zu schweigen, wenn Banken trotz dieser guten Nachrichten Kredite an Griechenland gekürzt hätten? Man kann sich die wütenden Tiraden der Gegner freier Märkte gegen angeblich außer Kontrolle geratene Banken und Finanzmärkte gut ausmalen.
Auch die fundamentalen Wirtschaftsdaten Griechenlands waren damals noch nicht so verheerend, wie es heute gerne vorgetäuscht wird. Tabelle 5 zeigt das Haushaltsdefizit und auch die Gesamtverschuldung mehrerer Euroländer. Italiens Staatsschulden sahen bis 2007 weit schlimmer aus als die Griechenlands. Auch beim Haushaltsdefizit war Griechenland nicht immer Schlusslicht – Portugal und Zypern standen ein paar Jahren lang noch schlechter da. Im Jahr 1995 hatte sogar Deutschland ein höheres Defizit als Griechenland. In sieben der dreizehn Jahre vor der Krise von 2008 hatten andere Länder höhere Defizite als Griechenland. Die Statistiken sahen für Griechenland also nicht hoffnungslos aus.

Tabelle 5: Staatsschulden und Haushaltsdefizit. Schattiert sind die Jahre, in denen andere Länder schlechter abschnitten als Griechenland; Quelle: Eurostat, OECD
Problematisch dabei war nur, dass die von der Europäischen Kommission bekanntgegebenen Defizitdaten nicht ganz mit der Wahrheit übereinstimmten. Griechenland hatte, angeblich unbemerkt, falsche Zahlen übermittelt. Doch 2007 wusste das noch niemand. Im Gegenteil. Die Statistikbehörde Eurostat hatte zur Einstellung des Defizitverfahrens entschieden:
Die griechischen Statistikbehörden haben ihre Verfahren optimiert, was insgesamt zu einer höheren Datenqualität geführt hat.
Doch das war gelogen: Eurostat wusste, dass Griechenlands Zahlen im großen Stil manipuliert waren. Die BBC hat eine interne Email von Goldman Sachs veröffentlicht, laut der Eurostat in einer Telefonkonferenz bestätigt hatte, dass Griechenland die offiziellen Defizitstatistiken durch Derivate verbessern kann.25
Inzwischen hat die Nachrichtenagentur Bloomberg News die EZB auf die Herausgabe der entsprechenden Unterlagen verklagt.26 Vielleicht wird man bei einem Erfolg der Klage mehr über den wahren Kenntnisstand der europäischen Behörden erfahren. Die Rolle von Goldman Sachs wird heute gerne überspitzt dargestellt. Es ist ja nicht so, dass eine gierige Bank ein paar überforderte griechische Beamte zu einem Geschäft zwang, durch das die Defizitquote eher zufällig geschönt wurde. Vielmehr war es eine politische Entscheidung Griechenlands, die Statistik zu manipulieren, wozu Goldman Sachs als Ausführungsgehilfe herangezogen wurde.
Kurzum: die Zahlen sahen gut aus und außer der EU-Nomenklatura wusste niemand, dass sie gefälscht waren. Wenn schon die europäischen Behörden trotz ihrer wesentlich besseren Informationen nicht vor potentiellen Finanzproblemen in Griechenland warnten, dann ist es überheblich, wenn man heute den Kreditgebern Griechenlands Leichtfertigkeit vorwirft. Im Nachhinein ist man immer schlauer, wie man in diesem Buch immer wieder sehen kann.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass Kreditgeber und Märkte durch frisierte Zahlen ausgetrickst wurden. Betrug hat im Wirtschaftsleben schon immer existiert und wird sich nie vollständig eliminieren lassen. Auch Betrug durch Staaten kommt immer wieder vor, wenngleich er nur selten wie im Fall Griechenlands publik wird. Normalerweise besitzen Staaten ausreichend Souveränität, um Veröffentlichungen ihrer Fehltritte zu unterdrücken. Es ist wahrscheinlich nur dem Prozess der europäischen Einigung zu verdanken, dass die Tricksereien Griechenlands überhaupt aufgedeckt wurden.
Die Lektion, die man aus dieser Episode lernen sollte, lautet: wenn Staaten mit ihrer geballten Macht als Legislative und Exekutive im Wirtschaftsleben mitmischen, dann stehen die Chancen für ihre privaten Gegenüber meist schlecht, wenn Probleme auftreten.
24 Sonia Boffa, Heiner Flassbeck: The wisdom of the herd – What the financial markets can tell about sovereign risk. Swiss Derivatives Review 42, Chêne-Bourg, Juni 2010.
25 Eurostat reiterated that forward starting swaps are fine, out of the money swaps can be used to lower the deficit forex debt is calculated post-currency swaps. Quelle: Nick Dunbar: How Goldman Sachs Helped Mask Greece’s Debt. BBC News, 12. 2. 2012.