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1.3.3 Taxonomie für Handlungskompetenzen
Bloom und seine Coautoren (1972) entwickelten eine Taxonomie für die Einschätzung von kognitiven Fähigkeiten und Zielen. Dementsprechend ist sie für die Beurteilung von Handlungskompetenzen nur bedingt geeignet. Trotzdem ist sie weit verbreitet. Besser geeignet wäre das Modell für die NQR-Einstufung. Aber wie im letzten Unterkapitel beschrieben, ist der hohe Detaillierungsgrad für die Ausbildungs- und Beurteilungspraxis unpraktisch. Tabelle 5 beschreibt ein sechsstufiges Modell von Handlungskompetenzen. Es ist durch eine Klassifizierung in Form von Leistungsarten, wie sie Geiß (2016) beschreibt, ergänzt. Dabei handelt es sich um Reproduktion und Verständnis (Leistungsniveau 1), Transfer und Analyse (Leistungsniveau 2) sowie Urteilen und Problemlösen (Leistungsniveau 3). Tabelle 6 präzisiert die in der Taxonomie für Handlungskompetenzen verwendeten Begriffe.
Stufe Grad der Erfüllung Handlungskompetenzen Leistungsart 1 Angeleitet Grundlegende Aufgabenstellungen in einem überschaubaren und klar abgegrenzten Bereich unter Anleitung fachgerecht erfüllen Reproduktion und Verständnis (Leistungsniveau 1) 2 Selbstständig Grundlegende Aufgabenstellungen in einem überschaubaren und zum Teil erweiterten Bereich selbstständig und fachgerecht erfüllen 3 Flexibel Erweiterte Aufgabenstellungen in einem umfassenden, sich verändernden Bereich erkennen, geplant und angepasst erfüllen Transfer und Analyse (Leistungsniveau 2) 4 Analysierend Umfassende Aufgabenstellungen in einem erweiterten und sich häufig verändernden Bereich erkennen, analysieren und strukturiert erfüllen 5 Bewertend Umfassende Aufgaben- und Problemstellungen sowie Prozesse in einem komplexen, spezialisierten und sich verändernden Bereich analysieren, bewerten und effizient erfüllen Urteilen und Problemlösen (Leistungsniveau 3) 6 Strategieorientiert Neue, vielschichtige Aufgaben-, Problemstellungen sowie Prozesse in einem komplexen, spezialisierten sowie sich häufig verändernden Bereich strategieorientiert erfüllenTabelle 5:
Taxonomie für Handlungskompetenzen
Schwierigkeitsgrad Grundlegende Aufgabenstellungen Vorwiegend einfache und häufig vorkommende Aufgaben, die mit Grundfertigkeiten und wenig Erfahrung erfüllt werden können (Standardaufgaben) Erweiterte Aufgabenstellungen Schwierigere Aufgaben in einem (Arbeits-)Bereich, für deren Erfüllung bereits vielfältige Fertigkeiten und Erfahrung in der Bewältigung von grundlegenden Aufgaben vorhanden sein müssen Umfassende Aufgabenstellungen Vielgestaltige und themenübergreifende Aufgaben, für deren Erfüllung vielfältige Fertigkeiten und Erfahrungen mit grundlegenden und erweiterten Aufgaben vorhanden sein müssen Neue, vielschichtige Aufgaben Neuartige und komplexe Aufgaben, für die neue Lösungen gefunden werden müssen und für deren Erfüllung es vielfältiger Fertigkeiten und Erfahrungen in der Bewältigung von umfassenden Aufgabenstellungen bedarf Arbeitsbereich Überschaubar und klar abgegrenzt Der (Arbeits-)Bereich bzw. das Tätigkeitsgebiet ist auf eine oder wenige konkrete Handlungen beschränkt. Überschaubar und zum Teil erweitert Der (Arbeits-)Bereich bzw. das Tätigkeitsgebiet ist auf einige konkrete Handlungen beschränkt, die eingeübte Fertigkeiten und bereits Erfahrungen für die Erfüllung verlangen. Umfassend, sich verändernd Der (Arbeits-)Bereich umfasst unterschiedliche, grundlegende und teilweise erweiterte Aufgabenstellungen, die sich situativ verändern und deshalb vielfältige Fertigkeiten und vielfältige Erfahrungen für ihre Erfüllung verlangen. Erweitert und sich häufig verändernd Der (Arbeits-)Bereich umfasst unterschiedliche, vorwiegend erweiterte Aufgabenstellungen, die sich häufig verändern und deshalb vielfältige, gefestigte Fertigkeiten und umfassende Erfahrung für deren Erfüllung verlangen. Komplex, spezialisiert Der (Arbeits-)Bereich umfasst Aufgaben, die ein vertieftes Wissen über Voraussetzungen, Möglichkeiten, Folgen von Handlungen sowie vertiefte Fertigkeiten und fach- und themenübergreifende Erfahrungen verlangen. Es braucht Spezialwissen und ausgeprägte Fertigkeiten. Anforderung Unter Anleitung erfüllen Schritte in der Auftragserfüllung werden konkret und fortlaufend z.B. von Ausbildenden angeleitet. Selbstständig erfüllen Schritte in der Auftragserfüllung werden weitgehend ohne Unterstützung von Dritten gelöst. Anleitungen umfassen mehrere abgeschlossene Handlungen, die nacheinander ausgeführt werden können. Geplant und angepasst erfüllen Mehrere Schritte in der Auftragserfüllung werden in eine Planung einbezogen, die umgesetzt und an Veränderungen angepasst wird. Fachgerecht erfüllen Den Anforderungen und Regeln seitens gesetzlicher Vorgaben, der Branche oder des Berufstands genügend Effizient erfüllen Handlungen mit einer hohen Wirkung im Verhältnis zum eingesetzten Aufwand ausführen. Aspekte umfassen: Zeit- und Kostenaufwand, Personal-, Material-, Technologiebedarf, Kommunikation etc. Aktion Erfüllen Mehrstufige Handlungen, Arbeitsschritte, Aufträge etc. werden vollständig und bis zum Genügen der Anforderungen vollendet. Erkennen Spezialitäten, Herausforderungen, Besonderheiten von Aufgabenstellungen als solche erfassen und bestimmen Analysieren Den Grad und Umfang von Spezialitäten, Herausforderungen und Besonderheiten erkennen und ihre Bedeutung für Entscheide zur Ausführung abschätzen Bewerten Spezialitäten, Herausforderungen und Besonderheiten mit Beurteilungskriterien sowie von theoretischen Grundlagen abgleichen und im Hinblick auf mögliche Folgen und Auswirkungen beurteilen und Lösungsvarianten begründen Strategieorientiert handeln Die Erfüllung der Aufgabe orientiert sich an übergeordneten Aspekten wie z.B. Theorien, Modellen, Leitbild der Organisation, Unternehmensphilosophie, Finanzen, Kundenbedürfnissen, Ansprüchen von Mitarbeitenden, nachhaltigen Prozessen, Entwicklungen im Hinblick auf die Zukunft, Marktanforderungen.Tabelle 6:
Präzisierung von Begriffen in der Taxonomie für Handlungskompetenzen
1.3.4 Leistungsniveaus von Handlungskompetenzen
Im Zusammenhang mit der Beurteilung vom Grad der Handlungskompetenzerreichung stellt sich immer wieder die Frage nach der Komplexität von Handlungskompetenzen. Es macht einen Unterschied, ob eine einfache oder eine schwierige, komplexe Aufgabe zu erfüllen und zu bewerten ist.
In der Praxis für das Erstellen und Bewerten von Prüfungen bewährt es sich daher, die soeben vorgestellte Sechsstufigkeit der Taxonomie für Handlungskompetenzen auf drei vereinfachende Leistungsniveaus zu reduzieren. Diese sind geeignet, um die Komplexität von Handlungskompetenzen abzubilden. Sie eignen sich zudem, um Leistungsziele beziehungsweise Leistungskriterien, Aufgabenstellungen etc. im Hinblick auf ihren Erfüllungs- und Schwierigkeitsgrad einzustufen. So kann den Prüfenden in Prüfungen vorgegeben werden, wie umfassend sie die entsprechende Handlungskompetenz zu prüfen haben: zum Beispiel auf Leistungsniveau 2, «Transfer und Analyse».
In Tabelle 7 sind die drei Leistungsniveaus aufgeführt und ihnen typische Verben zugeordnet. Diese Zuordnung ist exemplarisch zu verstehen. Sie muss nicht zwingend stimmen und in allen möglichen Fällen zutreffen. So kann zum Beispiel das Verb «reinigen» eine einfache Tätigkeit beschreiben: mit einem Besen Schmutz zusammenkehren [Leistungsniveau 1]. Reinigen kann aber auch eine komplexe Tätigkeit umschreiben. Beispielsweise verlangt das Reinigen von heiklen oder hochglänzenden Oberflächen ein bestimmtes und fachmännisches Vorgehen [Leistungsniveau 2]. Gilt es eine komplexe Apparatur mit verschiedenen sensiblen Teilen und mehreren fachmännisch auszuführenden Vorgehensschritten und Handgriffen zu reinigen, kann das auf Leistungsniveau 3 eingestuft werden. Zudem sind Verben häufig mehrdeutig und werden branchenspezifisch unterschiedlich verwendet.
Leistungsniveau 1: einfache Leistungen (Reproduktion und Verstehen) Grundlegende Aufgabenstellungen in einem überschaubaren und klar abgegrenzten (Arbeits-)Bereich fachgerecht erfüllen. Typische Verben: zustellen, sortieren, hinweisen, austeilen, abmessen, auswechseln, abschreiben, aufhängen, aufzählen, abkratzen, schneiden, mähen, nennen, beschreiben, aufzeigen, unterscheiden, differenzieren, definieren, darstellen, wiedergeben, bestimmen, löten, streichen, fahren, polstern, montieren, mischen, entsorgen, berechnen, anwenden, installieren Leistungsniveau 2: erweiterte Leistungen (Transfer und Analyse) Erweiterte Aufgabenstellungen in einem sich verändernden (Arbeits-)Bereich erkennen sowie fachgerecht, geplant und strukturiert bewältigen. Typische Verben: analysieren, grafisch darstellen, einsetzen, einordnen, verändern, optimieren, anpassen, strukturieren, ordnen, verbinden, erheben, kontrollieren, beschaffen, verfolgen, zusammenfassen, überwachen, vergleichen, testen, prüfen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten sowie Anwendungen erkennen Leistungsniveau 3: komplexe Leistungen (Urteilen und Problemlösen) Umfassende Aufgaben und Problemstellungen in einem komplexen und spezialisierten (Arbeits-)Bereich analysieren, bewerten, bewältigen sowie das Vorgehen, die Wahl der Lösung und der Lösungsstrategie fachspezifisch begründen. Typische Verben: bewerten, beurteilen, beschließen, begründen, in Zusammenhang mit Theorien bringen, an übergeordneten Strategien orientieren, entwickeln, planen, gestalten, sicherstellen, kreieren, empfehlen, beweisen, auswählen, koordinieren, leiten, konstruieren, dimensionieren, moderieren, dosieren, konzipierenTabelle 7:
Leistungsniveaus von Handlungskompetenzen
1.4 Anforderungsniveau (Leistungskriterien, Leistungsziele)
Für formale Abschlüsse (z.B. eidg. Fähigkeitszeugnis, eidg. Fachausweis, eidg. Diplom) legen entsprechende Grundlagendokumente (Bildungspläne, Wegleitungen, [Rahmen-]Lehrpläne etc.) fest, was Lernende beziehungsweise Berufsleute können müssen, um als handlungskompetent zu gelten. In der Regel definieren und formulieren diese Grundlagendokumente die verlangten Handlungskompetenzen. Ein Beispiel einer Handlungskompetenz aus der Elektrobranche: «Stromlaufschemas aus Lichtinstallationen nach einschlägigen Normen zeichnen». Die Formulierungen und Definitionen von Handlungskompetenzen geben häufig keinen Hinweis darauf, in welcher Qualität beziehungsweise auf welchem Niveau die Handlungskompetenz erfüllt werden soll. Für die Gestaltung der entsprechenden Ausbildung und die Beurteilung der Kompetenzerreichung ist eine verbindliche Grundlage beziehungsweise Vorgabe wichtig.
Grundlagendokumente in der Berufsbildung beschreiben deshalb sogenannte Leistungsziele (berufliche Grundbildung: Bildungsplan) oder Leistungskriterien (höhere Berufsbildung: Wegleitung) (vgl. SBFI 2018a, 2018b). Sie orientieren sich an der beruflichen Praxis (Ausrichtung an Arbeitsprozessen, Arbeitssituationen, Tätigkeiten, Resultaten, erstellten Produkten o.Ä.) und konkretisieren die Anforderungen an die Handlungskompetenzen. Die Leistungsziele beziehungsweise -kriterien ermöglichen eine Überprüfung beziehungsweise Messung der Kompetenzerreichung. Um bewertbar zu sein, müssen Handlungskompetenzen beobachtet und überprüft werden können. Demnach geben Leistungsziele beziehungsweise -kriterien vor, was Kandidatinnen und Kandidaten in Prüfungen oder in Qualifikationsverfahren erfüllen und leisten müssen. In Grundlagendokumenten zur beruflichen Grundbildung sind diese Leistungsziele den drei Lernorten (Ausbildungsbetrieb, Berufsfachschule, überbetriebliche Kurse) zugeschrieben. Sie dienen dort unter anderem als Vorgabe, auf welchem Niveau die Handlungskompetenzen bei den Lernenden ausgebildet werden sollen.
Leistungskriterien beziehungsweise Leistungsziele bilden die Grundlage für die Ausgestaltung der Ausbildung sowie der formalen Prüfungs- beziehungsweise Qualifikationsverfahren. Die Ausbildenden sowie die Prüfenden erhalten dadurch eine Orientierung, auf welchem Anspruchsniveau sie ausbilden beziehungsweise auf welchem Niveau sie prüfen sollen.
1.5 Kompetenzerreichung, Performanz und Grenzen der Prüfbarkeit
Kompetenzen sind Potenziale oder Dispositionen einer Person, Aufgabenstellungen und Situationen zu bewältigen (siehe Abschnitt 1.1). Sie sind nicht direkt beobachtbar. Diese Voraussetzung stellt eine Grundproblematik beim Prüfen und Beurteilen dar. Da Kompetenzen unmittelbar mit Handlungen verbunden sind, können sie über das Handeln (Handlungskompetenz) sichtbar gemacht werden (vgl. Kaufhold 2006). Allerdings muss das in Prüfungen gezeigte Verhalten nicht unbedingt den Verhaltensmöglichkeiten entsprechen. Salopp gesagt: «Die geprüfte Person könnte mehr!» Oder andersherum: «Das in der Prüfung Gezeigte liegt zufälligerweise über den eigentlichen Verhältnissen.» Auch hier salopp: «Die geprüfte Person kann ihr Können nicht unter Beweis stellen oder stellt mehr unter Beweis, als sie eigentlich beherrscht.» Dies kann mit der Prüfungsanlage, mit der aktuellen Leistungsfähigkeit der Kandidatin oder des Kandidaten (Tagesform) oder mit zufälligen Einflussfaktoren zusammenhängen.
Performanz bezeichnet das Verhalten in einer Situation und ist direkt beobachtbar. Kompetenz hingegen lässt sich nicht einfach beobachten; sie liegt jedoch der Performanz zugrunde (vgl. Walzik 2012). Das lässt sich mit dem Bild eines Eisbergs vergleichen (siehe Abbildung 4). Die Spitze des Eisbergs über der Wasseroberfläche ist beobachtbar (Performanz). Der Teil des Eisbergs im Wasser bleibt dem Auge verborgen (Kompetenz).

Eisbergmodell (vgl. Walzik 2012, S. 23, angepasste Darstellung)
Deshalb ist es problematisch, von der Performanz auf die Kompetenz zu schließen. Walzik (2012) gibt dazu ein anschauliches Beispiel. Wenn jemand auf die Frage «Was gibt 2 x 3 + 1?» mit «7» antwortet, wissen wir nicht, ob die Person auch tatsächlich die Regel Punktrechnung vor Strichrechnung angewendet hat oder einfach von links nach rechts gerechnet hat. Fragen wir aber «Was gibt 1 + 2 x 3?» und erhalten die Antwort «7», so bekommen wir einen Hinweis darauf, dass die Regel Punktrechnung vor Strichrechnung eingehalten wurde.
Euler (2011) formuliert die These, dass kompetenzorientierte Prüfungen ein Ideal darstellen, dem man sich annähern, aber welches man nicht vollständig erreichen kann. Dies hängt einerseits mit der Komplexität von Kompetenzen und andererseits mit prüfungsökonomischen Gründen zusammen. Die begrenzte Zeit für Prüfungen und deren Beurteilung sowie die eingeschränkte Kapazität von Prüfungspersonal setzen Grenzen. So ist die «perfekte» handlungskompetenzorientierte Prüfung eine hilfreiche Vision für die Weiterentwicklung von Prüfungstheorie und -praxis. Dieser können wir uns annähern, sie aber nur in wenigen Fällen vollständig erreichen.
Eine weitere Einschränkung in der Beurteilung von Kompetenzen ist die Möglichkeit, praxisnahe Situationen zu schaffen. Dies stellt in vielen Bereichen keine große Schwierigkeit dar oder lässt sich häufig gut simulieren. Es gibt aber Kompetenzen und insbesondere die Kompetenzdimension «Wollen», die schwierig zu simulieren und zu überprüfen sind. So macht es beispielsweise einen Unterschied, ob ein Fachangestellter Gesundheit mit einer dementen Patientin allein in einer realen Pflegesituation konfrontiert ist und seine Kompetenz beweisen muss oder ob er die Pflegehandlung an einer Kollegin oder Schauspielerin vor Prüfungsexperten vollziehen soll.
1.6 Arbeitssituationen
Berufliches Handeln findet in Arbeitssituationen beziehungsweise Handlungssituationen statt. Sie stellen Herausforderungen, Problemstellungen oder Aufgaben dar, die von der handelnden Person bewältigt werden sollen. Sie sind an Rahmenbedingungen (Kontext) wie Zeit, Raum und sozialen Austausch gebunden. Damit Berufspersonen Arbeits- oder Handlungssituationen bewältigen können, sind von ihnen Handlungskompetenzen gefordert. Im Prozess zur Definition von bildungs- und prüfungsrelevanten Handlungskompetenzen und damit Lerninhalten werden häufig typische Arbeitssituationen bestimmt und beschrieben. Von diesen werden dann die Handlungskompetenzen abgeleitet, die in der Ausbildung zu erarbeiten sind.
Die Beschreibung von Arbeitssituationen umfasst die bestehenden Rahmenbedingungen (Kontext), die auszuführenden Tätigkeiten sowie Normen und Vorgaben, die bei der Bewältigung beachtet werden müssen. Sie beinhaltet folgende Elemente:
Person (wer?)
konkrete Tätigkeiten (macht was?)
Umfeld und Raum (wo?)
zeitlicher Rahmen (wann? wie lange?)
Umgang mit Ressourcen (womit?)
Interaktion (mit wem?)
Verantwortungsbereich (wofür?)
Der Verein berufliche Grundbildung (VBAO 2020) liefert ein Beispiel einer Handlungssituation aus dem Bildungsplan für den Beruf Augenoptikerin/Augenoptiker mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis, das alle Anforderungen erfüllt:
«Handlungskompetenz: Kundinnen und Kunden im Augenoptikbetrieb empfangen und betreuen
Ein Kunde betritt das Augenoptikgeschäft [Raum, Umfeld]. Die Augenoptikerin EFZ [Person] begrüßt ihn freundlich und erkundigt sich nach seinem Wunsch [Tätigkeit]. Der Kunde möchte eine Sonnenbrille mit korrigierten Gläsern kaufen. Die Augenoptikerin EFZ führt ihn an einen Beratungstisch [Interaktion mit Kunde]. Sie sorgt dafür, dass sich der Kunde willkommen fühlt [Verantwortungsbereich; Umgang mit Ressourcen]. Nach der Beratung und dem Verkauf einer Sonnenbrille verabschiedet sie ihn angemessen [zeitlicher Rahmen; Abschluss Tätigkeit].»
(VBAO 2020, Seite 10)
2 Prüfungskonzeption
Prüfungen planen, erstellen, durchführen und auswerten verlangt eine sorgfältige Konzeption. Es muss klar sein, welche Handlungskompetenzen in welchem Umfang von wem zu welcher Zeit an welchem Ort und in welcher Form zu prüfen sind. Dieses Kapitel beschreibt das Vorgehen bei der Konzeption von Prüfungen und Themen, die dabei zu berücksichtigen sind. In diesem Kapitel werden nach einführenden Gedanken zum Sinn von Prüfungen und der Kompetenzorientierung Grundlagen zur Prüfungserstellung und Formen von Prüfungen vorgestellt. Weitere Schwerpunkte bilden die Bewertung sowie der Einsatz von Hilfsmitteln.
2.1 Warum prüfen?
Am Schluss einer Ausbildung oder einer Ausbildungssequenz gibt es eine Prüfung. Dabei zeigen die Kandidatinnen und Kandidaten, dass sie die verlangten Handlungskompetenzen in genügendem Maße erfüllen.
Dieses Verständnis von beruflicher Qualifikation und Lernstandbeurteilung ist weit verbreitet und in diesem Sinne im schweizerischen Berufsbildungsgesetz (BBG) verankert. So dürfen zum Beispiel nur Inhaberinnen und Inhaber eines Abschlusses festgelegte Titel tragen (Art. 36 BBG2). Und um titelrelevante Abschlüsse zu erhalten, sind entsprechende Fachprüfungen oder Qualifikationsverfahren zu bestehen (z.B. Art. 433 und 444 BBG). Diese bilden in der Regel den formalen Abschluss einer Ausbildung, die häufig schwerpunktmäßig in Schulen stattfindet. In der höheren Berufsbildung können eidgenössische Prüfungen ohne Besuch von entsprechenden Vorbereitungskursen an Schulen abgelegt werden. Wer die Zulassungsbedingungen erfüllt, kann die Prüfung absolvieren. In der Praxis besuchen allerdings die meisten Kandidatinnen und Kandidaten Vorbereitungskurse für eidgenössische Prüfungen in der höheren Berufsbildung an spezialisierten Ausbildungsinstitutionen.
In der beruflichen Grundbildung und in den Lernorten Berufsfachschule und überbetriebliche Kurse führen die Verantwortlichen je nach Ausrichtung und Aufgabe regelmäßig Prüfungen durch. Diese bilden in der Regel den Abschluss eines Themas, eines Ausbildungsschwerpunktes oder eines Fachkurses.
Es ist somit grundlegendes Element der Berufsbildung, den Lernstand zu definierten Prüfungszeitpunkten auf seinen Erfüllungsgrad hin zu überprüfen und zu beurteilen. Diese Zeitpunkte sind häufig in relativ starren Bildungs- und Lehrplänen definiert, die wenig Spielraum für die Ausbildenden offenlassen. Nicht berücksichtigt sind bei solchen schulisch orientierten Lehrgängen, die häufig an festgelegten Präsenztagen stattfinden, individuelle Wege der Handlungskompetenzentwicklung sowie die personenspezifische Geschwindigkeit des Lernens. So werden leistungsstarke Kandidatinnen und Kandidaten oder solche mit viel Erfahrung und Vorwissen gleichzeitig mit solchen geprüft, für die der angeleitete Lernprozess länger als formal definiert dauern sollte.
Eine Prüfung kann im besten Fall eine Messung des aktuellen Handlungskompetenzstands sein. Sie misst die Performanz zu einem bestimmten und für alle Kandidatinnen und Kandidaten eines Ausbildungsgangs zum gleichen, oftmals lange im Voraus definierten Zeitpunkt. Dies steht im Widerspruch zum Verständnis und der Berücksichtigung von individuellen Lernprozessen, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf unterschiedliche Art ablaufen. Passender wären Handlungskompetenzmessungen, die sich am individuellen Lernprozess orientieren und zu flexiblen Zeitpunkten erfolgen. Auf dieses Lern- und Prüfungsverständnis ist die aktuelle formale Ausbildungslandschaft nicht ausgerichtet. Häufig stehen rechtliche, organisatorische und ökonomische Argumente dieser vorwiegend pädagogischen Betrachtung entgegen. Was spricht denn für Prüfungen? Walzik (2012) führt folgende Gründe auf: