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präverbaler
Zugang
Musiktherapie kann einzeln, in Gruppe sowie unter Einbeziehung von Angehörigen stattfinden. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen der Musik erlebende und sich durch Musik ausdrückende Mensch sowie die Resonanz, die er im Therapeuten und bei den anderen Beteiligten auslöst, mithin das Beziehungsgeschehen in all seinen Aspekten (Timmermann 2004a, 4).
Ausdruck und
Resonanz
Die Resonanz umfasst die äußere und innere Wirklichkeit der Beziehung, also die Realbeziehung und auch die begleitend auftretenden Phantasien dazu. In der musiktherapeutischen Situation wird der behandelte Patient/Klient in seinem Umgang mit Musik und seinen Reaktionen auf das musikalische Geschehen wahrgenommen. Besondere Berücksichtigung finden dabei die sich herausbildenden Erlebens-, Einstellungs- und Verhaltensmuster, unbewusste (Re-)Inszenierungen, aber auch psychovegetative und physiologische Reaktionen. Der Therapeut gestaltet die musikalischen Handlungen oft aktiv mit, beachtet dabei die Indikation und den Zeitpunkt im therapeutischen Prozess. Spielen, Reden und Zuhören wechseln einander ab.
Beziehungs-gestaltung durch Musik
Die Angebote der Musiktherapie, aktiv – auf leicht spielbaren Instrumenten und mit der Stimme – oder rezeptiv – im vorbereiteten Hören gezielt angebotener Musik –, dienen folgenden Zielen:
Ziele der
Musiktherapie
●Anbahnung von Kommunikation und Beziehung;
●Öffnung von psychovegetativen Kommunikationskanälen;
●Offenlegung und Veränderung sozialer Interaktionsmuster;
●Nachreifung krankheitswertiger früher Defizite;
●Probehandeln im Dienste von Problemlösung (Oberegelsbacher 2004, 1555).
Weitere Ziele sind:
●klinische Diagnostik;
●kathartisches Freilegen verschütteter Emotionen und Traumata;
●Darstellung intrapsychischer Zustände und Konflikte;
●nonverbale Konfliktbearbeitung;
●Transformieren und Strukturieren von Desintegrationszuständen bei Zerfall der Persönlichkeit;
●Herstellung von Realitätsbezug über Symbolisierung;
●Anregung freier Assoziation; Bewusstmachung von krank machenden Einstellungen;
●Förderung der Erlebnis- und Genussfähigkeit.
Die Definition der Musiktherapie im Rahmen von Psychotherapie bedarf einer Abgrenzung zu entwicklungs- und persönlichkeitsfördernden Methoden (Fitzthum et al. 2000, 445); zu Psychotherapien oder Kunsttherapien, die fallweise Musik verwenden, sowie zur Musikmedizin (Oberegelsbacher/Rezzadore 2003, 98).
Als Pioniere einer psychotherapeutischen Musiktherapie in Europa können Edith Lecourt, Gertrud Loos, Mary Priestley, Alfred Schmölz, Christoph Schwabe und Harm Willms genannt werden. Viele ihrer Gedanken bereiteten eine Kultur, die dem heutigen „Mainstream“ der Musiktherapie zugrunde liegt.
Pioniere
Die Kasseler Konferenz Musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland hat zehn Kasseler Thesen zur Musiktherapie vorgestellt (1998, 232 f.): Musiktherapie gilt dort als Sammelbegriff für eine praxisorientierte Wissenschaft, die interdisziplinär und – in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie – psychotherapeutisch ist.
Kasseler Thesen
Es wird von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ausgegangen und von einem Methodensystem, das sich auf therapeutische, rehabilitative und präventive Aufgaben einstellen kann. Die Methoden sind abhängig von Theorie und Kontext, vor allem bei Indikation, Zielen, Praxeologie, Umgang mit Dynamik der Gruppe und Dyade. Es bedarf eines Settings und einer therapeutischen Beziehung, damit sich die Wirksamkeit der Therapie im Wahrnehmen, Erkennen und Handeln des Patienten entfalten kann. Niemals wirkt dabei nur ein Faktor.
Die gestaltete Musik mit ihren Tönen, Klängen und Geräuschen, mit Rhythmus, Melodie und Harmonie ist zeitstrukturierend. Sie artikuliert menschliches Erleben, hat die Funktion von Ausdruck, von Kommunikation und ist ein subjektiver Bedeutungsträger für verinnerlichte Erfahrungen. Musik wird als präsentatives Symbolsystem verstanden, aber auch unter semiotischen und ästhetischen Aspekten betrachtet.
Die musiktherapeutischen Methoden folgen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Theoriebildungen und Handlungskonzepten. Gefordert wird auch eine eigene musiktherapeutische Diagnostik, welche Krankheitsbild, Therapieprozess und musikalische Phänomene mit den körperlichen, seelischen und sozialen Vorgängen in Verbindung bringt.
Ein Versuch, die Definitionen verschiedenster Musiktherapien zu kommentieren, wurde im angloamerikanischen Raum von Kenneth Bruscia (1989) unternommen.

Bunt, L. (1998): Musiktherapie. Eine Einführung für psychosoziale und medizinische Berufe. Beltz, Weinheim/Basel
Decker-Voigt, H.-H. (1993): Aus der Seele gespielt. Eine Einführung in die Musiktherapie. Goldmann, München
Timmermann, T. (2004): Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie. Bausteine für eine Lehre. Reichert, Wiesbaden
2Praxisfelder und Indikation
von Tonius Timmermann und Dorothea Oberegelsbacher
„Die Zukunft der Medizin als Heilkunst
liegt in der Reaktivierung der Künste.“
(James Hillman)
Musiktherapie hat sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zunehmend in einer breiten Skala von Tätigkeitsbereichen etabliert, und zwar dort, wo Klienten oder Patienten zu finden sind, bei denen eine musiktherapeutische Behandlung indiziert ist. Dies ist der Fall, wo psychotherapeutische Behandlung bzw. psychohygienische Begleitung krankheits-, behinderungs-, störungs- oder krisenbedingter körperlich-seelisch-geistiger Zustände und Prozesse am wirkungsvollsten unter Einbezug des Mediums Musik geschehen kann. Hier ein erster Überblick, der Altersstufen und klinische Bereiche unterscheidet:
Überblick Praxisfelder
Babys, Kinder, Jugendliche: Neonatologie, „Schrei-Babys“, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Psychotherapie und Psychosomatik: die klassischen Indikationen für psychotherapeutische Maßnahmen: neurotische und Essstörungen, Belastungs-, Persönlichkeits- und somatoforme Störungen.
Psychiatrie: große Bandbreite von Erkrankungen und Störungen: verschiedene psychotische Krankheitsbilder wie Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, affektive Störungen; Suchterkrankungen; zunehmend gerontopsychiatrische Patienten; zunehmend psychotherapeutische Stationen mit Borderline-Störungen.
Menschen mit Behinderung: geistige, körperliche und mehrfache Behinderung.
Neurologische Rehabilitation: z. B. Schädel-Hirn-Traumen, Komata, Aphasien.
Innere Medizin: emotionale Verarbeitung körperlicher Erkrankungen.
Onkologie: Coping, Akuthilfe bei der Krankheitsbewältigung, insbesondere bei schweren, lebensverändernden Krankheiten.
Geriatrie: Betreuung und Behandlung alter Menschen.
Palliativmedizin: moribunde Patienten.
Hospiz: Begleitung beim Sterbeprozess.
Im Bereich Kinder und Jugendliche finden wir zunächst den Einsatz von Musiktherapie bei neugeborenen und frühgeborenen Kindern in der Neonatalogie (Nöcker-Ribaupierre 2003a). In der Altersentwicklung danach anzusetzen ist die musiktherapeutische Arbeit mit sog. „Schrei-Babys“ (Lenz 2001). In der Folge sind alle Formen von Entwicklungs-, Verhaltens- und emotionalen Störungen, alle Krankheitsbilder der Kinder- und Jugendpsychiatrie relevant. Musiktherapie kann ambulant oder in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen durchgeführt werden. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spielt die Arbeit mit Medien, wie z. B. Musik oder Malstiften, eine besondere Rolle, da spontanes unbewusstes Ausdrucksverhalten, die Gestaltung von Konflikten und die Suche nach Lösungen hier im Allgemeinen sinnvoller ist als das Reden über Konflikte (s. Füg 1991; Mahns 1997; Haffa-Schmidt et al. 1999; Büchele 2000; Aurora/Seidel 2002). Ein Schwerpunkt liegt auf Nachreifung, beispielsweise bei autistischen Kindern (Schumacher 1994; 2004).
Im Bereich Psychotherapie und Psychosomatik werden im Allgemeinen sprachfähige erwachsene Menschen behandelt, bei denen jedoch die Ursache ihrer Konflikte sehr häufig in frühen, vorsprachlichen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung liegt – man spricht daher von frühen Störungen oder Grundstörungen. Die präverbalen Schichten der Persönlichkeit haben also wesentlichen Anteil an der psychischen Erkrankung oder Störung. Deswegen wird Musiktherapie angeboten, um Zugang zu diesen Schichten zu ermöglichen. Nonverbaler musikalischer Ausdruck und Kommunikation ist hierbei Mittel der Wahl, da sie eine erlebnishafte Analogie zu frühen lautmalerischen Dialogen mit der Mutter und das schwingungsmäßige Sicheinstellen i. S. von Sterns (1992) „tuning in“ auf Kommunikationspartner darstellen (s. z. B. Schmölz 1985; Loos 1986; 1996; Gathmann et al. 1990; Schmidt 1999; Kächele et al. 2003). Musiktherapeuten arbeiten in den entsprechenden Kliniken in einem Team aus Ärzten, Psychologen, verschiedensten Therapeuten, Schwestern und Pflegern.
Psychotherapie, Psychosomatik
Aufgrund der großen Bandbreite von Erkrankungen und Störungen werden in der Psychiatrie Patienten auf den verschiedenen Stationen mit unterschiedlichen therapeutischen Konzepten behandelt, auf die der Musiktherapeut sich jeweils einstellen muss. Außer auf den explizit psychotherapeutischen Stationen ist Musiktherapie oft die einzige Form von Psychotherapie (also nicht medikamentöser Therapie), die diese Patienten erhalten. Insofern ist dieser Bereich für die Musiktherapie wichtig und zukunftsträchtig (Willms 1977; Strobel 1985; Baumgartner/Mahns 1986; Strobel/Huppmann 1991; Burghardt 1996; De Backer 1996; Metzner 1997; Storz 2003).
Psychiatrie
Die Arbeit mit geistig, körperlich und mehrfach behinderten Menschen ist eines der ältesten musiktherapeutischen Betätigungsfelder, da diese im Allgemeinen sehr stark auf Musik ansprechen (Koffer-Ullrich 1971; Rett/Wesecky 1975). Gerade im Hinblick darauf, dass Musiktherapie an frühe Interaktion anknüpft, ist sie für die Arbeit in diesem Bereich besonders gut geeignet (Alvin 1988; Becker 2002; Oberegelsbacher 2001, Halmer-Stein 2001; Orff 1985; 1990; Schumacher 1994; Niedecken 2003).
Behinderung
Seit etwa 20 Jahren wird Musiktherapie, und zwar in zunehmendem Maße, in der Neurologischen Rehabilitation eingesetzt. Die speziellen nonverbalen Qualitäten kommen gerade den Patienten zugute, bei denen aufgrund ihrer Hirnverletzung das Sprachzentrum gestört ist (Gadomski/Jochims 1986; Jochims 1990; 2005; Gustorff/Hannich 2000).
Neurorehabilitation
Für die Bereiche Onkologie, Palliation und Hospiz wurde in den letzten Jahren zunehmend das sog. Coping in seiner Bedeutung für ein humanes Gesundheitssystem erkannt. Dabei handelt es sich um ein Angebot seelischer Begleitung bei schweren, lebensverändernden Krankheiten, wie z. B. Krebs (Steidel-Röder 1993; Bossinger/Griessmeier 1994; Verres 1999), und beim Sterbeprozess. Es geht um das Recht auf einen würdigen Tod daheim bei den Angehörigen oder in speziell dafür eingerichteten Häusern, sog. Hospizen. In diesen arbeiten seit einigen Jahren zunehmend MusiktherapeutInnen, da sich künstlerische Medien hier oft besser eignen als klassische verbale Psychotherapie (Munro 1986; Dehm 1997; von Hodenberg 1999; Heinze 2003).
Onkologie, Palliation, Hospiz
Ebenfalls ein eher neuerer Arbeitsbereich für die Musiktherapie ist die Innere Medizin. Auch hier geht es um die emotionale Verarbeitung körperlicher Erkrankungen. Dies soll den Heilungsprozess unterstützen, indem der Patient Kontakt zu seinen gesunden Anteilen (Ressourcen) findet und Blockaden gelöst werden, die dem im Wege stehen (Röhrborn 1992; Decker-Voigt/Escher 1994; Aldridge 1999).
Innere Medizin
Moderne technologische Gesellschaften mit hoher medizinischer Kompetenz bei gleichzeitig geringer Zahl von Neugeburten sind überalternde Gesellschaften. Daher ist die Versorgung, Betreuung und Behandlung alter Menschen in Einrichtungen der Geriatrie eine zentrale Zukunftsaufgabe. Unser Gesundheitssystem hat die ethische Aufgabe, für das Senium einen würdigen Rahmen anzubieten. Musiktherapie kann helfen, Momente von Lebendigkeit und Heiterkeit zu spenden, wo Ermüdung und Depressionen leicht das Leben quälend werden lassen (Bright 1984; Aldridge 2000; Themenheft der Musiktherapeutischen Umschau 1997/2, Nr. 18). Musiktherapie kann darauf eingehen, dass die Erinnerung bei alten Menschen eine zentrale Rolle spielt. Musik und Lieder aus wichtigen Lebensphasen (Muthesius 2003), aber auch eine adäquate Aktivierung durch eigenes Musizieren und achtsame Bewegung wird angeboten. Neben der psychiatrischen Geriatrie geschieht dies in speziellen Institutionen wie Altenheimen oder geriatrischen Rehabilitationskliniken.
Geriatrie
Das Grundrepertoire an musiktherapeutischen Vorgehensweisen (s. Kap. 6 Praxeologie) wird in den verschiedenen Bereichen in jeweils der Situation adäquater modifizierter Form angeboten. Auf bestimmte Angebote muss dabei dann auch verzichtet werden, ohne dass dabei auf die Musiktherapie überhaupt – i. S. einer Kontraindikation – verzichtet werden muss. Bei genauerer, differentialdiagnostischer, Betrachtung werden auch die Möglichkeiten und Grenzen der Musiktherapie im Vergleich zu anderen nicht sprachlichen, zu leiborientierten und zu anderen künstlerischen Therapien deutlich, z. B., wann es für den Patienten in seiner momentanen Verfassung sinnvoller sein kann, in Stille für sich ein Bild zu malen und dabei ein konstantes Objekt zu schaffen (s. Timmermann 2004a, 166 ff.)
Indikation
Die Indikation zu Musiktherapie kann neben den dargestellten Praxisfeldern auch aus einer phänomenologischen Beschreibung von typischen Patienten der Musiktherapie sichtbar werden. Es sind dies:
●Menschen, mit denen sprachliche Kommunikation erschwert oder unmöglich ist, wie etwa Mutisten und Autisten, deren Verbalisierungsfähigkeit reduziert ist oder deren Störungen und Defizite aus der präverbalen Zeit stammen. Personen, die auch Bedarf an Nachreifung und Weckung von Ressourcen haben (Strobel 1990, 334 f.);
●Menschen, die einen erhöhten Bedarf an Ausdruck und Gehörtwerden haben; bei geringer Fähigkeit zu Triebaufschub und erhöhtem Bedarf an Katharsis und Regression; bei fehlender Symbolisierungsfähigkeit, Alexithymie; bei schwerster Ich-Desintegration; in existenziellen Extremsituationen (Oberegelsbacher 1998, 64);
●Menschen, die zu den benachteiligten psychosozialen Randgruppen unseres Gesundheitswesens zählen, weil sie wegen der oben beschriebenen Defizite von der Gesundheitspolitik als nicht therapiefähig eingestuft und damit von Therapie ausgeschlossen werden (Jochims 2001).
Auch die Frage der Kontraindikation von Musiktherapie stellt sich mit zunehmender Spezifität des Verfahrens. Allgemeine Kontraindikationen können sein: fehlende Motivation des Patienten; sehr hoher sekundärer Krankheitsgewinn oder Rentenwunsch; wenn Musiktherapie institutionell dauerhaft als Ersatz für mögliche reale Beziehungen dient oder aus Prestigegründen angeboten wird. Musiktherapie ist beispielsweise nicht indiziert als Kompensationsangebot für strukturelle Mängel in der Gesellschaft oder in ihren Institutionen, wie z. B. Behindertenwerkstätten (Oberegelsbacher 1990, 176). Oft werden auch bestimmte Personengruppen genannt, etwa akute Psychotiker, Berufsmusiker, suizidale Patienten, Suchtpatienten, die Musik wie eine Droge verwenden (Schroeder 2000, 289 f.). Bei vielen dieser Beispiele gilt, dass mit zunehmender Berufserfahrung die nötige Feinabstimmung und Dosierung des musiktherapeutischen Angebotes ein solches durchaus sinnvoll erscheinen lässt.
Kontraindikation
allgemein
Damit kommt die differentielle Kontraindikation in den Blick. Diese gilt viel häufiger als eine umfassende und wird als ein selektiver, maßgeschneiderter Verzicht auf gewisse Angebote unter bestimmten Umständen verstanden.
Kontraindikation
differentiell

In der Neurorehabilitation ist z. B. für einen Komapatienten im künstlichen Tiefschlaf Musiktherapie für jenen Zeitraum tabu, in dem er noch Sedativa erhält. Diese halten ihn in Ruhe, während Musik ihn gleichzeitig aktivieren würde. Das wäre eine gegensätzliche Botschaft (Gustorff/Hannich 2000). In der stationären Psychotherapie ist für eine angespannte Borderline-Patientin eine abendliche letzte Therapiestunde, in der sie kathartisch frei trommelt, zu spät. Sie kann anschließend die Kontrolle über ihren Triebdurchbruch vielleicht nicht mehr wiedergewinnen und riskiert einen Zusammenbruch, selbstdestruktive Handlungen bis hin zum Suizidversuch (Oberegelsbacher 2003, 100). Die vorübergehende emotionale Destabilisierung durch Musiktherapie und Ergotherapie – beide sind nicht so reflexiv wie eine analytische Gesprächstherapie – wurde bei dieser Störung in der Psychotherapieforschung von Löffler-Stastka und Kollegen festgestellt (2003; 2006).
Im interkulturellen Vergleich kann es ebenfalls Kontraindikationen geben. Der Ausdruck von Emotionen, der in einer extravertierten Kultur problemlos zugelassen wird, kann in einer introvertierten mehr Vorbereitung benötigen. Denken wir an die verbale Aufarbeitung nach einer Musikrezeption durch sofortiges Reden über intime eigene Empfindungen. Eine europäische aufdeckende Fragetechnik ist für den asiatischen Kulturkreis ungeeignet, wenn sie nicht abgewandelt wird. Stattdessen kann das Beschreiben von Gemütsbewegungen oder deren instrumentaler Ausdruck über Metaphern, Farben und Naturbilder angebahnt werden, wofür die japanische Kultur eine große Neigung hat (Shiobara 2006).
kulturelle
Kontraindikation

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3Forschungsstand Musiktherapie
von Dorothea Oberegelsbacher und Tonius Timmermann
„Die Brille des Forschers steuert seinen Gegenstand,
weswegen der Forscher erforscht werden muss.“
(Wissenschaftstheorie nach Maturana)
Wenn man an eine musiktherapeutische Wirkung denkt, scheint es zunächst immer um eine musikalische Wirkung zu gehen. Ist das wirklich so? Ist die Musik das Medikament in der Musiktherapie? Sind die Worte das Medikament in einer Gesprächstherapie? Oder was alles wirkt da in hoher Komplexität zusammen?
Unbestritten ist zunächst einmal die Musik als Medium in der Musiktherapie – wie auch immer mit diesem Medium konkret gearbeitet wird (s. Kap. 6 Praxeologie). Auch gibt es in zeitgenössischen Richtungen der Musiktherapie Ansätze, die sich auf spezifische Wirkfaktoren musischer Elemente (z. B. bestimmter Intervalle, Skalen bei bestimmten Beschwerden) bzw. daraus resultierende methodische Systeme begründen, z. B. die Anthroposophische (s. Ruland 1981) und Altorientalische (Tucek 1997) Musiktherapie. Allerdings stehen noch immer kontrollierte Studien aus, die sich der psychischen Wirkung der verwendeten musikalischen Elemente systematisch annehmen. Somit bleiben die postulierten Wirkqualitäten bislang Arbeitshypothesen, die allerdings im jeweiligen Setting auch ohne Objektivierbarkeit durchaus wirksam sind.
Es mag an der Sehnsucht des Menschen nach schmerzfreien Heilungsprozessen liegen, jedenfalls nimmt die Suche nach universellen Wirkfaktoren in der langen Geschichte der musiktherapeutischen Literatur einen relativ breiten Raum ein (s. a. Kap. 16 und Timmermann 1983b). Immer wieder geht es dabei um Grundfragen an das Medium, mit dem therapeutisch umgegangen werden soll: Wie wirkt Musik bzw. ihre Elemente? Gibt es verlässliche Standards oder ist alles beliebig oder nur situationsabhängig?
Spezifischer
Wirkfaktor
Musik?
Die Mehrzahl der heutigen MusiktherapeutInnen stimmt darin überein, dass Verallgemeinerungen bezüglich der Musikwirkung in der alltäglichen Erfahrung nicht bzw. nur sehr begrenzt feststellbar sind. Gleichzeitig will auch moderne Musiktherapie nicht ohne funktionelles Wissen über Musikwirkung im Bereich der Stimulation oder Relaxation auskommen, also beispiels-weise
keine
generalisierte
Wirkung
„ohne den beruhigenden Sechsachteltakt eines Wiegenliedes, ohne ein Metrum in der Frequenz des Ruhepulses, ohne tranceinduzierendes Klanggeschehen, ohne sinnstiftende Melodieverläufe oder auch Textpassagen“ (Oberegelsbacher/Timmermann 1999).
Hegi entwickelt in seinen Büchern (1986; 1998) fünf Wirkungskomponenten der Musiktherapie: Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form (1998, 51 f.). Diese können in musiktherapeutischen Interventionen gezielt eingesetzt werden. Allerdings gilt auch hier, dass die Intention des Therapeuten bezüglich des musikspezifischen Effektes und die tatsächliche Wirkung beim Klienten von vielen weiteren Faktoren abhängen.
Der Beweis einer Objektivierbarkeit von Musikwirkung ist der Musikpsychologie und ihren wissenschaftlichen Metho-den der empirischen Wirkungsforschung bisher nicht gelungen (Gembris 1996). Zu groß ist die Zahl von Variablen, so dass man die Wirkung einer Musik kaum trennen kann von der Wirkung der Umstände, unter denen sie gehört wird (persönliche Erlebnisse mit dieser Musik, Geschmacksfragen, momentane Stimmung, die Beziehung zum Versuchsleiter und den anderen Versuchspersonen, die Atmosphäre der Testsituation usw.). Gleichzeitig erhebt sich aber auch die Frage, inwieweit ein moderner Musiktherapeut überhaupt an einer messbaren Objektivierung von Musikwirkung interessiert ist, wenn es ihm eigentlich um die individuellen Erfahrungen des Klienten geht?






