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Rezeption des
„Für-Spiels“
Dieses „Für-Spiel“ umfasst nicht nur die Arbeit mit monotonalen Klängen, sondern darüber hinaus auch ein improvisiertes Musizieren und Singen der Therapeutin für den Patienten, bei dem sowohl das Instrument als auch die Art und Weise des Spiels von der Therapeutin durch Einfühlung in die Situation gewählt und entwickelt werden. Dies ist immer auch ein sehr persönlicher Vorgang, bei dem die Therapeutin sich auf eine momentane, subjektive Gestaltung einlässt. Der wesentliche Unterschied zum Interpretieren eines komponierten Stückes oder zum Spielen eines Musikstückes durch einen technischen Tonträger liegt auf der Hand. Es bietet der Therapeutin weniger Schutz und mutet mehr unmittelbare Offenbarung zu. Die therapeutische Abstinenz ergibt sich insbesondere daraus, dass die Therapeutin nicht um ihrer selbst willen spielt, sondern im Dienste des Patienten.
Singen
In den integrierten Ausbildungskonzepten, die sich keiner Schule oder speziellen Methode allein verpflichtet fühlen, werden rezeptive und aktive Vorgehensweisen im Allgemeinen als sich methodisch ergänzende Elemente der musiktherapeutischen Arbeit betrachtet (s. Timmermann 1998). Die Situation des jeweiligen Patienten entscheidet in der Einzeltherapie, ob Musikhören oder Musikmachen angeboten wird. Ändert sich seine Situation, können sich auch Vorgehensweisen ändern. Bei Patienten mit einer tendenziell schwachen Ich-Struktur kann man mehr methodische Stringenz vereinbaren. Ansonsten ermöglicht die moderne tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie methodische Flexibilität, was der Musiktherapie mit ihrem großen Repertoire an möglichen Angeboten entgegenkommt. Im offenen Raum als Spiel-Raum inszeniert sich im Laufe der Zeit, was aus dem Patienten in der Begegnung mit dem therapeutischen Du entsteht. Der konkrete Prozessmoment bestimmt die Entscheidung, mit dem Patienten zu spielen oder für ihn. Gezielte Angebote aus dem musiktherapeutischen Repertoire aktiver und rezeptiver Musiktherapie helfen ihm, neue Erfahrungs- und Verhaltensmöglichkeiten durch experimentelles Erleben und Handeln zu vertiefen. Was für die Einzelmusiktherapie gilt, lässt sich in der Gruppensituation auf den Gruppenprozess anwenden bzw. auf die Einzelarbeit in und mit der Gruppe.
Musikhören und
Musikmachen
Daneben gibt es spezifische Methoden rezeptiver Musiktherapie, die bei Frohne-Hagemann (2004) ausführlich dargestellt sind und im Folgenden nur im Überblick genannt seien:
Methoden
rezeptiver
Musiktherapie
●GIM (Guided Imagery and Music) nach Helen Bonny,
●RMT (Regulative Musiktherapie) nach Christoph Schwabe,
●MTE (Musiktherapeutische Tiefenentspannung) nach Hans-Helmut Decker-Voigt,
●ETmnG (Entspannungstraining nach musiktherapeutischen Gesichtspunkten) nach Volker Bolay,
●Anthroposophische Hörtherapie nach Anny von Lange,
●RAM (Rezeptive Altorientalische Musiktherapie) nach Gerhard Tucek.
Zum Schluss noch einige allgemeine Gedanken zu der Frage, in welchen Bereichen speziell rezeptive Musiktherapie zur Anwendung kommt oder kommen könnte bzw. sollte. Zum Teil ergibt sich dies inhaltlich bereits aus Kapitel 6 „Praxeologie“. Frank-Bleckwedel (1996) hat einiges dazu zusammengestellt, das im Folgenden überblickshaft dargestellt sein soll:
Indikation
rezeptiver
Musiktherapie
●Innere Medizin (s. Decker-Voigt/Escher 1994)
●Sterbebegleitung (Munro 1986)
●Neonatologie (Nöcker-Ribaupierre 2003a)
●Geriatrie (Muthesius 1997)
●Suchterkrankungen (Kapteina 2004)
●Frühstörungen/Persönlichkeitsstörungen
Für eine zukünftige Entwicklung wäre es wünschenswert, dass rezeptive Elemente in die musiktherapeutischen Ausbildungen integriert wären. Dadurch können ihre diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten eingeschätzt und situationsadäquat angewendet werden. Das Erlernen spezieller Methoden sollte dem Fort- und Weiterbildungsbereich überlassen sein.

Frohne-Hagemann, I. (2004): Rezeptive Musiktherapie. Theorie und Praxis. Reichert, Wiesbaden
9Das Wort in der Musiktherapie
von Tonius Timmermann
„Sie konnte so zuhören, dass ratlose und unentschlossene Leute auf
einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne
sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und
Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur
irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte das alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genau so wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab, und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“
(aus „Momo“ von Michael Ende)
Seinserfahrung ist zunächst einmal nicht an Sprache gebunden. Sprache drückt das aus, was auch jenseits von ihr existiert. Das Wort als Zeichen weist auf etwas hin, was über das Zeichen hinausgeht. Das Bezeichnen, Benennen eines Phänomens bewirkt, dass es weniger mächtig und unheimlich wird. Das ist Sprach-Magie: Sie bannt Gefahr.
Wissenschaftlich ist Sprache ein semiotisches System (Semiotik ist die Lehre von den Zeichen), für den Menschen und seine Entwicklung sicher das Wichtigste. Der Mensch verfügt über die Möglichkeit, Seinserfahrung mit Hilfe von Worten zu bezeichnen (Zeichen), zu beschreiben und zu kommunizieren. Akustische Semiotik umfasst neben der Musik die gesprochene Sprache incl. der paralinguistischen (nicht semantischen) Faktoren. Dies sind:
Sprache als
semiotisches
System
●Stimmklang
●Tonhöhe
●Lautstärke
●Sprachrhythmen
●Gestik
●Mimik
●Körperhaltungen, -bewegungen, -äußerungen
paralinguistische
Faktoren
In Form bestimmter paralinguistischer Faktoren hat Sprache also auch musikalische Anteile, hat Rhythmen, Melodien, Pausen – und Wirkkraft allein aufgrund dieses nicht kognitiven Wahrnehmens, den prä- und transverbalen Ebenen von Sprache als Ganzes. Diese Aspekte sind von großer Bedeutung für die Therapie und sollten während einer Therapeutenausbildung bewusst gemacht und geübt werden. Hier eröffnet sich ein interessantes Forschungsgebiet für die Musiktherapie.
musikalische
Anteile von
Sprache
Das Repräsentationssystem der Sprache entspricht anderen wie Denken, Sehen, Bewegung, Musik usw., da es dem gleichen Nervensystem entstammt und die gleichen Strukturprinzipien wirken. Die von den Linguisten identifizierten formalen Prinzipien der Sprache bieten einen expliziten Ansatz zum Verständnis jedes Systems menschlicher Gestaltung. Hier geht es um Sprache.
Der amerikanische Linguist Whorf (1964) bezeichnet Musik als eine spezielle Form der Sprache, da sie gleicher Abstammung wie die Wortsprache sei und den gleichen, im universellen Sinne grundlegenden Strukturschemata entspringe. Man könnte auch sagen: Musik und andere Formen der Künste sind Ausdruck einer universellen oder archetypischen Struktur von Systemen, die in symbolisierter Form Mitteilung und Austausch ermöglichen. Dann kann man die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen als „nichtlinguistisches Sprechen“ auffassen. Sie können sich auf seelische Schichten beziehen, die jenseits des semantischen Gehaltes von Sprache liegen. Die sprachlichen oder verbalen Anteile in der Musiktherapie sind von mehr oder weniger Bedeutung für den einzelnen Patienten, je nachdem
Musiksprache
●wie sprachfähig er ist (allgemein intellektuell, krankheits-/behinderungsbedingt),
●wie bedeutsam Sprache für die Behandlung ist (z. B. frühe Störung).
Es ist auch bedeutsam, auf welcher Ebene der Patient symbolisiert, ob sich sein Unbewusstes über gestalterische Prozesse ausdrückt oder ob er diese Impulse bewusst in Sprache formulieren kann. Dabei ist übrigens umstritten, dass Symbolisierungsfähigkeit von der Sprachfähigkeit abhängt. Die Fähigkeit, Wesentliches akustisch, visuell oder haptisch-gestisch-mimisch zu symbolisieren, sollte man nicht geringer achten.
Fähigkeit zu
Symbolisierung
Für die Musiktherapeutin ist wichtig, dass Musik eine Sprache ist, in der Ausdruck und Kommunikation auf bestimmten Ebenen sehr gut möglich ist. So erreicht sie auch Menschen, die noch nicht oder überhaupt nicht Sprache erworben haben oder die Sprachverlust erlitten durch Krankheit oder Alter. Zum Handwerk des Musiktherapeuten gehört, dass er mit Sprache im therapeutischen Kontext umgehen kann. Dazu muss er grundsätzlich zwei Formen des Umgangs mit Sprache üben:
Aufgaben der
Sprache
1.Die Anleitung zu aktiven und rezeptiven Angeboten.
2.Das therapeutische Gespräch.
In der rezeptiven Musiktherapie geht es darum, Angebote zu Körperposition, zu Körper- und Atemwahrnehmung, zum Hören zu machen. In der aktiven Musiktherapie wird zum Improvisieren eingeladen, werden Spielregeln angeboten usw. Diese Angebote auf eine Art und Weise zu formulieren und vom Stimmklang her zu gestalten, dass der Patient sich eingeladen fühlt, dass er Vertrauen entwickelt und sich einlässt auf das Geschehen und Erleben, ist die Kunst der sprachlichen Vorbereitung in der Musiktherapie.
Anleitung, Einführung
Das andere ist die Gesprächführung nach den Angeboten, bei Erstbegegnung, Abschied usw. Hier kann die Musiktherapie aus einem Fundus schöpfen, den PsychotherapeutInnen, die vorwiegend mit Sprache arbeiten, im Laufe vieler Jahrzehnte gesammelt haben. Das therapeutische Gespräch erfüllt zunächst drei Funktionen:
therapeutisches
Gespräch
●Informationssammlung, spez. Anamnese,
●Exploration der Persönlichkeit des Klienten,
●Mittel zur Persönlichkeitsänderung.
In der Gesprächstherapie nach Rogers (s. Weber 2006) werden indirekte Fragen bevorzugt wie: „Ich frage mich, wie Sie das gefühlsmäßig erleben?“ „Ich halte es für wichtig herauszufinden, was Ihr Herz (Körper) dazu sagt?“ „Ich nehme an, dass hinter oder unter Ihrer Aussage ein bestimmtes Gefühl steht?“ Andererseits definiert diese Richtung einen Katalog von sog. Lastern in der Gesprächsführung wie Dirigieren, Debattieren, Dogmatisieren, Diagnostizieren usw.
Man spricht aber auch vom „Hören mit dem dritten Ohr“, wenn der Therapeut über die verbale Mitteilung hinaus auf das hört, was der Klient noch von sich mitteilt, also wenn er in seine Wahrnehmung die paralinguistischen Faktoren einbezieht. Momos „Zuhören“, eingangs zitiert, bedeutet in der Therapeutenrolle: „ganz Ohr sein“. Dies geschieht nicht nur mit den Ohren, sondern auch durch Sehen und Fühlen. Ich möchte möglichst viel wahrnehmen, z. B. auch die Angst, die während einer Pause entsteht, oder die Hemmung, etwas Peinliches auszusprechen. Diese besondere Zuwendung erleben viele Patienten als heilsam. Es wird ein Raum geschaffen, in dem der Patient sich erleben, ausdrücken und austauschen kann.
Sprache in den
Musiktherapien
Wie wird Sprache in der Musiktherapie nun von den verschiedenen Richtungen und Schulen gesehen. Ulrike Mönter (2002) befasste sich mit dieser Frage und kam zu folgenden Ergebnis-sen:
●Anthroposophische Musiktherapie: Hier gilt die Musik selbst als das Heilmittel. Daher wird das Gespräch kaum erwähnt. Es werden erklärende, strukturierende und konkret beratende musikalische Handlungsanweisungen gegeben. Deren spezifische Wirkungen werden anschließend besprochen. Mit anderen Worten: Es geht im Gespräch weniger um den Beziehungsaspekt als vielmehr um Informationsaustausch, Mitteilung, Aufforderung und Handlungsanweisung.
Übermittlung
von Information
●Nordoff/Robbins: Diese Therapieform geht davon aus, dass Musik keiner Übersetzung bedarf, da sie ihren Sinn unmittelbar offenbart und als Phänomen zu ihrer eigenen Erklärung wird. Daher wird rein musikalisch, ohne verbale Aufarbeitung des musikalischen Prozesses gearbeitet. Wenn gesprochen wird, dann in Form einer sachlichen Auseinandersetzung über die Musik bzw. als Handlungsanweisungen, Bestätigungen und Beschreibungen der Musik.
sachliche Musikbeschreibung
●Regulative Musiktherapie (Schwabe): Das Gespräch hat hier die Funktion der immer gezielter werdenden Anregung zur Wahrnehmung und Wahrnehmungsdifferenzierung, ohne dass diese interpretiert oder in Richtung Ursachenzusammenhang hinterfragt werden. Das Gespräch beinhaltet: konkrete Handlungsanweisung, deren anschließende Beschreibung, Fokussierung auf die Wahrnehmung im Hier und Jetzt.
Differenzierung
von Wahrnehmung
●Integrative Musiktherapie: Das Gespräch ist geprägt von der Gestalttherapie. Es hat vor allem die Funktion, das Erlebte zu benennen, u. a. um nicht von Gefühlen überflutet zu werden und um die Fähigkeit zu erwerben, sich auch außerhalb der Therapie verbal angemessen verständigen zu können. Die Gesprächsinhalte beziehen sich besonders auf das Erleben im Hier und Jetzt. Erst soll das Gefühl und dann Erkenntnis oder Einsicht zum Thema gemacht werden. Beziehung und Kontakt sind wesentlicher Aspekt der verbalen Kommunikation, Übertragung und Deutung finden sich vereinzelt. Viele Gestaltübungen setzen längere Handlungsanweisungen voraus.
Benennen von
Erleben und
Beziehung
●Tiefenpsychologisch orientierte Musiktherapie: Diese musiktherapeutische Schule, zu der auch die psychoanalytisch orientierten Formen gehören, ist am weitesten verbreitetet (ca. 80%). Der Beziehungsaspekt steht klar im Vordergrund. Die Beziehung wird aus gegebenen Gründen über das Medium Musik gestaltet. Dieses Medium soll einen erlebnisorientierten Zugang zum Unbewussten ermöglichen. Sprache soll nicht nur die musikalischen Phänomene beschreiben, sondern vor allem das dabei Erlebte in Worte fassen. Dann kann es in Beziehung gesetzt werden zur Lebensgeschichte und aktuellen Lebenssituation. Daraus ergeben sich nunmehr naheliegende musiktherapeutische Angebote, die den Prozess weiterführen können. In der tiefenpsychologisch orientierten Musiktherapie spielen zwei Faktoren eine wichtige Rolle:
Benennung von
hier und jetzt, dort und damals
–phänomenologisches Beschreiben von Wahrnehmung und
–Deutung der sich inszenierenden Phänomene.
Beschreibung
von inszenierten
Phänomenen
Die phänomenologische Haltung bedeutet, dass man geschehen lässt, was sich inszenieren möchte, und das Geschehene an sich wirken lässt. Die verbale Beschreibung bedeutet: Man lässt den Patienten beschreiben, was er wahrnimmt, und beschreibt als Therapeutin, was man wahrnimmt. Dieser Vorgang hebt das Geschehnis ins Bewusstsein des Patienten und auch die Unterschiede in der Wahrnehmung.
Deutung von
inszenierten
Phänomenen
Noch einmal ein anderer Schritt, der wohlüberlegt sein will, ist die Deutung des Geschehens, der Inszenierung – vor dem Hintergrund dessen, was man bereits über den Patienten weiß. Der Therapeut als von außen auf die Person des Patienten schauender und abstinenter Partner im Prozess kann leichter als der Patient selbst die leidstiftenden repetitiven Muster im Erleben und Verhalten erkennen. Als professioneller teilnehmender Beobachter im Prozess versteht er die oft komplexen und komplizierten unbewussten Symbolisierungen des Patienten leichter als dieser selbst. Natürlich ist es besser, wenn der Patient seinen Ausdruck und seine Gestaltungen selbst erkennt und versteht, aber vorsichtige Deutungen als Hinweise und Wegweiser sind auch wiederum besser als ein verhüllendes Schweigen.
Ein positives Schweigen dagegen ist von großem therapeutischen Wert. Es kann im Gespräch der Zeitraum sein für das innerliche Sicheinstimmen auf das Reden oder für das Nachwirkenlassen des Gesagten. Es kann aber auch problematisch sein (Angst, Ärger, Abwehr). Schweigen gehört zum Reden. Es begrenzt das Reden. Auch im Gespräch entstehende Pausen gehören dazu, sind Bestandteile des Gesprächs, die es formen und strukturieren. Stille ist die „große Grenze“ am Anfang und Schluss.
positives
Schweigen

Mönter, U. (2002): Das Gespräch in der Musiktherapie. Musiktherapeutische Umschau 23 (1), 5–21
Smetana, M. (2005): Stille in der Musiktherapie. In: Smetana, M., Heinze, S., Mössler, K. (Hrsg.): Stille, Sterben, Erwachen. Musiktherapie im Grenzbereich menschlicher Existenz. Wiener Beiträge zur Musiktherapie, Bd. 7 Edition Praesens, Wien, 9–111
Weber, W. (2019): Wege zum helfenden Gespräch. 15. Aufl. Ernst Reinhardt, München
10Anthropologische und ethnologische Aspekte
von Tonius Timmermann
„[…] daß Musik als Bestandteil menschlicher Selbstverwirklichung zu funktionieren vermag, daß sie nicht als luxuriöses Ornament der
Gesellschaft entbehrlich sei, sondern im Gegenteil als Katalysator
sozialer Vorgänge, als Medium der Sensibilisierung und Sozialisierung
in einer gesellschaftspolitischen Aufgabe zu wirken vermag […]
daß Musik primär Gebrauchsgegenstand des Menschen ist.“
(Suppan 1984, 7)
Der Mensch macht Musik, so weit wir seine Geschichte zurückverfolgen können. Alle Völker auf der Erde haben Musikkulturen entwickelt, so verschiedenartig sie auch sein mögen. Miteinander Singen und Musizieren ist die wichtigste gemeinschaftsbildende Kraft einer Kultur. Lieder und Tänze tradieren Geschichte, Geschichten und den gesamten Wissensstand in spielerischer und einprägsamer Weise. Musikanthropologen kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Musik für die menschliche Gesellschaft nicht schmückendes Beiwerk oder luxuriöser Zeitvertreib ist (Blacking 1973, 54), sondern unentbehrlicher Bestandteil.
Ursprung:
Ausdruck und
Kontakt
Die verschiedenen Theorien, wie Musik entstanden sein soll (Revesz 1941; s. a. Rösing 1998, 75 f.), stellen z. T. Nebenaspekte wie das Nachahmen von Tierlauten, die Lallmelodien der Kinder oder rhythmische Bewegungen ins Zentrum eines Anfangs. Aus musiktherapeutischer Sicht scheint dagegen die Ausdrucks- und Kontakttheorie von Bedeutung. Die Ausdruckstheorie betont das Bedürfnis, emotionale und affektive Spannungen in Lautäußerungen zu entladen. Dies lässt sich gut ergänzen durch die Kontakttheorie, die sich auf das Kommunikations- und Verständigungsbedürfnis des Menschen beruft. Wenn man davon ausgeht, dass ein Gefühlsausdruck auch kommuniziert werden soll, ist es wahrscheinlich, dass ein Spielen mit Tönen als angenommener Ursprung allen musikalischen Tuns wesentlich deshalb betrieben wurde, weil es eben beides ermöglicht: Ausdruck und Kommunikation.
Dies führt uns zu einem wesentlichen Grundgedanken: Musik dient traditionell der Seelsorge bzw. psychosozialen Hygiene (Prävention) und findet von daher auch Eingang in die Heilungsrituale der traditionellen Kulturen. Indem der Mensch erschütternde Lebensereignisse wie den Tod eines nahestehenden Mitmenschen oder das Abgewiesenwerden in der Liebe in den klassischen Formen der Toten- und Liebesklage ausdrücken kann, gestaltet er sein Leid und verarbeitet es dadurch. Indem er aber auch Freude und Lebenslust in der Musik lebendig und kraft-voll zum Ausdruck bringt und dies in und mit seiner sozialen Gruppe kommuniziert, erlebt er seine individuelle Existenz in der Zugehörigkeit zu einer ihn tragenden und schützenden Gemeinschaft.
Heilungs- und
Übergangsrituale
Solche Erfahrungen sind heute noch von Bedeutung und wo sie fehlen, droht eine Gesellschaft zu zerfallen. Wenn heute immer weniger Eltern und Lehrer mit den Kindern singen, ist dies eine bedenkliche Entwicklung, der unbedingt etwas entgegengesetzt werden muss. Die moderne Musiktherapie knüpft bewusst an diese Erfahrungsebene an und setzt sie gezielt ein, um emotionales und soziales Gleichgewicht wiederherzustellen. Ausgehend von Suppan (1984) soll der folgende Überblick (nach Timmermann 2004, 19) verdeutlichen, in welchen Lebensbereichen des Menschen Musik früher und heute konkret eine Rolle spielt:
Zusammenhalt
der Gesellschaft
1.Mythologie und Religion: in Liedern und Tänzen tradierte Mythen, Rituale, Zeremonien, Kult, Gottesdienst, Ekstase, Trance, Meditation.
Gestaltung
menschlicher
Lebensbereiche
2.Krankenheilung: Rituale, Bewusstseinsveränderung, therapeutische Trance, Musiktherapie.
3.Arbeit und Versorgung: Arbeitslieder, Energetisierung durch Rhythmus und Gesang, Singen für die Pflanzen, Steigerung von Arbeitsleistung und Konsum.
4.Pädagogik und Politik: Lieder zur Enkulturation und Sozialisation (vor allem bei schriftlosen Völkern), politische Lieder und Musikwerke, Nationalhymnen, politische Zeremonien, Militärmusik.
5.Alltägliches Leben: Wiegenlied, Erotik, Kampf, Jagd, Spiel, soziales Leben und Gruppenidentität.
Wir sehen hier, dass Musik allen Menschen in verschiedenen Funktionen zur Verfügung steht, bevor sie eine Kunstgattung wird, zu der nur noch ein entsprechend gebildeter bzw. ausgebildeter Mensch Zugang findet. In der Religion ist dies bis heute noch der Fall, da die Kirche für die meisten Menschen wohl noch der letzte Ort ist, wo sie mit anderen zusammen singen. Bei der Arbeit wird Musik noch häufig rezipiert (meist über das Radio), aber, wie gesagt, das aktive Miteinandersingen wird selten. Damit droht ein wesentliches Element unserer Kultur zu sterben – Musiktherapie wird schon fast zu einer Art Kulturtherapie, in der diese existenziellen Ausdrucks- und Kommunikationsformen als psychosoziale Hygiene und in der Heilbehandlung am Leben erhalten werden. Wir werden gleich sehen, dass dies möglicherweise auch für andere Aspekte von Kunst und Kultur gilt.
Gehen wir noch einmal zurück in die traditionelle Gesellschaft und machen wir uns klar, dass der Mensch während etwa 99% seiner bisherigen Geschichte als nomadisierender Jäger und Sammler in kleinen Gruppen durch eine oftmals bedrohliche Welt zog, in der Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl überlebensnotwendig waren. Die wohl erste aus der Gruppe herausragende männliche oder weibliche Figur in dieser Phase ist die des Schamanen. Dieser ist Priester, Künstler und Heiler in Personalunion, vereinigt also die Bereiche Religion, Kunst und Heilung in sich und inszeniert sie im Ritual. Elemente, die dort zur Wirkung kommen, sind: Tanz, Schauspiel, Kultobjekte wie Fetische, Masken, Gewänder, spezielle kultische Musikinstrumente, die Musik, die damit gemacht wird, und die Gesänge, die dazugehörigen Mythen, Gedichte und Geschichten (Näheres in Timmermann 1994, 48 ff.). Durch Steigerung aller Sinne wird die Aufmerksamkeit fokussiert, ein Leerwerden vom Alltagsbewusstsein ermöglicht und damit ein Offenwerden für ein anderes Bewusstsein, eine „religio“, ein Sich-wieder-Verbinden mit dem innersten Wesen. In dieser Schicht sind die Wurzeln sowohl von Kunst als auch von Heil-Kunst, von Psychotherapie als Kunst bzw. künstlerischer Psychotherapie zu finden.
Religion, Kunst, Heilung
Dabei lassen sich vier Ebenen unterscheiden, die in Schamanismus bzw. Kunst auftreten und deren Elemente heute psychotherapeutische Verwendung finden (Timmermann 2004, 21):
Ebenen des
Schamanismus
1.Aktion: Dramaturgie und Gestaltung von Ritualen, Berührung, Tanz, Schauspiel, Pantomime, Aktionskunst, Happenings, Film … – körper- und bewegungsorientierte Verfahren, Tanztherapie, Psychodrama, Ritual Movement, Spieltherapie …
2.Objekt: Kultobjekte wie Fetische, Masken, Gewänder, Schmuck, Totempfähle, kultische Musikinstrumente wie Schwirrholz, Rassel, Trommel …, Kunsthandwerk, Malerei, Plastik … – Kunst-, Gestaltungs-, Maltherapie …






