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Dennoch aber ließen sie unbeugsame Gastfreundschaft walten. Joseph Moritz jedenfalls berichtet von keinerlei schlechter Behandlung. Im Gegenteil, er scheint recht begeistert zu sein. Und vor allem hoch interessiert.
Wir sind hier im Rektorenpalast untergebracht. Solange Ragusa eine Republik war, so hat man mir erzählt, hatten sie als Oberhaupt einen sogenannten Rektor; der war allerdings immer nur für einen Monat im Amt. Dann kam ein neuer. So konnte sich keiner etablieren. Manche Ragusaner haben mir das als ‚weise’ geschildert, manche als ‚mißtrauisch’. Prokesch beurteilt es einfach als kleinlich. Spießig, sagte er. Mißtrauisch ja, aber wahrscheinlich zurecht; die Ragusaner kannten einander wohl sehr gut und eben darum wußten sie auch, warum sie so mißtrauisch sein mußten.
Aber wir dürfen nicht klagen. Man spricht mit uns, man bewirtet uns; schließlich müssen wir uns auf ganze vier Wochen hier einrichten.
Von uns Österreichern erhoffen sie hier Hilfe aus ihrer nahezu hoffnungslosen wirtschaftlichen Situation. Alles Böse kam für sie von Frankreich. Von Napoleon. Schließlich hat sein General Marmont vor zwölf Jahren (1806) Ragusa besetzt. Und die Geschehnisse rund herum zeigten auch, wie sehr die Ragusaner mit ihrem Mißtrauen untereinander recht hatten. Ragusa wurde nämlich in seiner ganzen Geschichte nie eingenommen. Die Besetzung durch Marmont und die Franzosen geschah ebenfalls nicht durch Belagerung oder Sturm, sondern durch einen Wortbruch.
Am 31. Jänner 1806 - jeder hier weiß dieses Datum - löste Marmont einfach die Republik auf. Vor vier Jahren haben dann wir Österreicher dieses wertlose Stück Land bekommen und beim Wiener Kongress (1815) hat man sogar beschlossen, den Ragusanern zu helfen. Das ist der Urgrund, warum wir hier sind. Und wie es scheint. sind wir vergeblich hier. Vergeblich schon von Wien abgesandt worden.
„Ragusa und Venedig“, pflegte Prokesch zu sagen, „das haben wir beides auf dem Gewissen. Wir - Österreich!“
Nichts davon hier. Keine Klagen. Nur Hoffnung.
Nachdem man uns die Geschichte erzählt hatte, dankte man uns Österreichern, daß wir die „Brut des Napoleon“, Napoleon II. in Wien sicher in Verwahrung hatten, sodaß er sicher nichts mehr anrichten könne. „Der I. sitzt in St. Helena, Marie Louise in Parma und gebiert Bastarde des Neipperg, und II. ist in Metternichs Klauen.“
Das war ein Trinkspruch, der Begeisterung fand.
Ich muß jetzt an den Buben denken, vor dem sie sich da so fürchten. Der Bub, der derzeit von meinem Herrn Vater vermutlich zu einem guten österreichischen Staatsbürger erzogen wird. Wenngleich auch mein Vater einigemale seinen Erziehungszweck ganz anders beschrieben hat: „Der junge Adler muß auf den Thron Napoleons. Und ich bereite ihn mit allen meinen Kräften darauf vor!“
Es ist eine Tatsache, dass Graf Dietrichstein keinen - nach eigener Aussage - glühenderen Wunsch hatte, als seinen Zögling einmal auf dem Thron Frankreichs zu sehen. Wie weit er da mit Metternichs Interessen konform ging, wie weit er ihnen da zuwider handelte, das bleibe dahingestellt. Metternich warf man jedenfalls später vor, er habe doch einen österreichischen Staatsbürger aus dem Aiglon (Adler) gemacht. Oder machen lassen.
Aber noch genießt Joseph Moritz Ragusa. Und er zeigt sich bildungswillig, wie es einem jungen Grafen Österreichs eben ansteht.
Herr Pospis - hier sagt man Gospodin statt Herr - Gospodin Pospis hat mir heute gesagt, ob ich nicht vielleicht mehr über die Republik wissen möchte. So hat er mir viel erzählt von alten Familien, großer Tradition und unbeugsamer Ordnung.
Drei der von ihm als ehern bezeichneten Gesetze, zwar ungeschrieben, dennoch gleich Gesetzen, sind mir in Erinnerung geblieben.
‚Obliti privatorum, publico curate’ - das heißt ‚Vergesset das Private und sorgt euch um öffentliche Angelegenheiten’.
Das wär’ sowas für uns, wo jeder nur auf sich selber schaut.
‚Salus republicae suprema lex asto’ – ‚Das Wohlergehen der Republik sei das oberste Gebot vor allen anderen’.
Bei uns sagt man ‚Das Hemd ist mir näher als der Rock’.
‚Non bene pro toto libertas venditur auro’ – ‚Die Freiheit verkauft man nicht für alles Gold der Welt’.
Bei uns tät' einer die eigene Großmutter verkaufen für den eigenen Vorteil.
Beim vierten Spruch ist mir der lateinische Text entfallen, er heißt ‚Erwerben ist besser als erobern.’
Das wär’ bei uns Wurscht, Hauptsach’ man kriegt es.
Diese bissigen, aber auch bitteren Kommentare werfen ein deutliches Licht, wie ein Jugendlicher der damaligen Tage sein eigenes Land gesehen hat. Unbedingt positiv ist diese Sicht nicht, mag aber auch dem Wienerischen Hang zur Nestbeschmutzung entsprungen sein. Teilweise zumindest.
In der Erinnerung geblieben ist mir auch jene seltsame Geschichte, daß man hier in Ragusa jeden Abend alle Stadttore abschloß, sämtliche Schlüssel in den Rektorenpalast brachte und hier einsperrte - mitsamt dem Rektor. Ich konnte allerdings von niemand erfahren, wer nun den Schlüssel zum Rektorenpalast die Nacht über gehabt hat. Denn der war ja nun der Mächtigste in Ragusa, zumindest in der Nacht.
Genau eine Woche sind wir nun hier und ich muß sagen, ich weiß schon recht viel über Ragusa, bald mehr als über daheim.
Da die Reise ziemlich genau mit dem Juni-Anfang begonnen hatte, halten wir also derzeit etwa beim 8. oder 9. Juni.
Die folgenden Tage werden nur mit kurzen Notizen vermerkt.
Heute Gespräche. Ohne rechte Zielrichtung.
Oder
Nun aber doch Klagen seitens der Ragusaner. Sie lassen ihre Dynastien aussterben, sagen sie. Welch seltsame Drohung. Wie macht man das? Wo doch alle verheiratet sind.
Im Joseph Moritz keimt hier derselbe Verdacht, der auch uns schon geplagt hat. Alles in Allem aber, die ‚Wirtschaftsgespräche’ wollten nicht vorankommen. Sollten wohl auch gar nicht.
Dann aber wird er doch wieder etwas ausführlicher.
Gestern hat man uns und den hiesigen Patrizierfamilien eine Oper vorgespielt. Man hat, so sagte man uns, eigens einen Komponisten gewählt, der viel für die Wiener Oper geschrieben hat. Er heißt Baldassare Galuppi und soll vor sechzig oder siebzig Jahren wirklich viel für Wien komponiert haben.
Das ist richtig.
Die Oper hieß irgend was ‚...dei cuore’, so was wie Verwirrung der Herzen. Sie handelt von einem Vater mit drei Töchtern und drei Freiern, die alle nur eine haben wollen, dann aber bekommt die eine doch nur einer, die beiden anderen Männer nehmen die beiden anderen Frauen. Die eine Frau, die umschwärmte, wurde von einer Altistin gegeben, die außer vorstehenden Augen, einem riesengroßen Mund, einem flachen Dekollete eine recht raue, tiefe Stimme hatte. "A Stimm wie a Hur"', sagte Hauptmann Obenaus, der unsere Unterhaltungen gerne mit Kräftigem zu würzen pflegte. Alle lachten und gingen neu gestärkt nach der Pause wieder in den Hof des Rektorenpalastes, wo das Spektakel stattfand.
Es war im Ganzen eher langweilig. Die Sänger waren recht gut. Eine der Sopranistinnen hatte viele hohe Töne zu singen, bei denen sie immer so schrie, daß es einem in den Ohren gellte.
Unsere Delegation klatschte am Schluß Beifall, während sich die Einheimischen jeder Beifallsäußerung enthielten. Keiner weiß, warum. So hörten auch wir schnell wieder auf und bekamen ein Nachtmahl vorgesetzt, das mir rundweg zu scharf war.
Eine langweilige Oper also, ein scharfes Essen, darauf eine schlechte Nacht. Ich mußte zweimal groß gehen und stieß mir jedesmal im Finstern den Kopf fast wund. Es geht ein Wind hier, der Zug hat fast alle Lichter ausgelöscht.
In der zweiten Hälfte der zweiten Woche und in der ersten Hälfte der dritten Woche fallen Berichte über die Gespräche ganz aus. Dafür schildert Joseph Moritz mehr aus seinem Privatissimum, das an Einprägsamkeit die vielleicht doch stattgehabten Gespräche bei weitem übertroffen hat.
Wir haben die ganze Geschichte aus den verschiedenen Tagen herausgenommen, immer nur die Sätze, die sich mit dem Thema beschäftigen.
Gestern, Donnerstag, Diner bei Pospis.
Die Pospis, das hat Joseph Moritz anderswo kurz erzählt, sind eine der angesehensten Patrizierfamilien in Ragusa.
Beim Kaffee, den wir im Stehen einnahmen, hat mich der junge Pospis angesprochen und sehr höflich gefragt, ob ich ihm vielleicht etwas über Wien erzählen könne. Er träume immer von Wien. Und nun sehe er jemanden, bei dem er glaube, es wagen zu dürfen...
Wir haben uns für morgen verabredet. Vormittags. Ein Rundgang über die Stadtmauer. Da würde ich ihm dann gerne erzählen.
Am Freitagvormittag also.
Es war ein wunderschöner Spaziergang. Wollte man sehr genau sein, dann waren es ja eigentlich zwei Spaziergänge.
Beim ersten Rundgang über die Mauer erzählte mir Pospis alles Mögliche aus der Geschichte von Ragusa. Das meiste wußte ich schon, aber es war eine Freude, ihm zuzuhören. Er erzählte sehr charmant, begleitet von schönen, sehr sprechenden Handbewegungen.
Als wir wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, schlug er sich plötzlich mit der flachen Hand an die Stirn, daß ihm sein Käppchen hinten hinunterflog; dabei rief er: „Herr Graf, nein, bin ich nicht dumm? Ich habe doch gebeten, daß er mir über Wien erzählt. Und jetzt habe ich die ganze Zeit Sachen erzählt, die ich schon weiß und die der Herr Graf wahrscheinlich auch schon gewußt haben! Bin ich nicht dumm?“
„Er ist nicht dumm, Gospodin“, antwortete ich, entzückt über seinen drolligen Ausbruch, „er ist höchst charmant und ich bin ihm sehr dankbar für alles, was er mir berichtet hat.“
„Der Herr Graf sind voller Höflichkeit“, rief er abwehrend. „Das ist halt die Großstadt. Das ist halt Wien!“
„Na“, meinte ich, „da könnt' ich ihm schon ein paar Sachen erzählen!“
An dieser Stelle erlaubte ich ihm, mich Joseph Moritz zu nennen. Er bat mich daraufhin, ihn Ivo zu nennen.
Dann erzählte ich dem Ivo über Wien, genau so lange wie der zweite Rundgang über die Stadtmauern von Ragusa dauerte.
Dann begleitete er mich wieder zum Rektorenpalast. Ehe wir auf den Platz hinaustraten, hielt er mich plötzlich am Arm fest und wir blieben stehen.
„Hat er heute nachmittag zu tun?“, fragte er mich.
„Ja“, seufzte ich, „Gespräche über mögliche und unmögliche Handelsspannen.“
„Und da muß er unbedingt dabei sein?“
Ich wurde jetzt vorsichtig, schließlich stand ein Ragusaner aus einer der angesehensten Familien vor mir.
„Ja“, sagte ich also, „wegen dieser Gespräche bin ich ja hier. Sie gehen in jedem Fall vor.“
Es mag die leichte Schärfe in meiner Stimme gewesen sein, die ihn nur ein begüterndes „Ja, ja“, sagen ließ.
Er nickte stumm vor sich hin, daß er mir leid tat.
Also hob ich wieder an: „Aber morgen, morgen habe ich den ganzen Tag frei.“
Er war gleich wieder begeistert: „Dann machen wir einen kleinen Ausflug, ja? Wir zwei. Ja?“
„Gut“, antwortete ich. „Ich melde der Wache, daß ich einen Tag privat bei Pospis’ verbringe. Ist das recht so?“
„Muß er denn das?“, fragte er verwundert.
„Ja“, sagte ich, „schließlich ist die Wache für mein Wohlergehen verantwortlich.“
„Auch auf der Liebesinsel?“, fragte er.
Ich meinte, nicht richtig verstanden zu haben: „Liebesinsel?“
„Er wird schon sehen, Joseph Moritz“, sagte er schalkhaft und wir traten auf den sonnenheißen Platz hinaus, wo er sich von mir verabschiedete.
Ich bin verwirrt. Liebesinsel?
Hier hat Joseph Moritz seinen Bericht unterbrochen. Die Handelsgespräche lagen dazwischen. Dann aber schrieb er gleich weiter mit dem Gedanken, der ihn zu entzünden scheint.
Die Gespräche wie immer. Kein Ziel.
Ich rufe mir immer wieder den Ivo ins Gedächtnis. Ich hätt’ mir nicht gedacht, daß hier bei diesem einfachen Volk ein junger Mann von solcher Kultur zu finden wäre. Er hat mir gesagt, daß er siebzehn Jahre alt sei. Um drei Monate älter als ich.
„Drei Monate habe ich erlebt, von denen er nichts weiß“, hat er kokett gesagt.
Kokett, ja, das ist es. Er ist kokett, der Ivo. Das türkisch anmutende Käppchen passt ihm gut, das er leicht schief, leicht verwegen auf seinen ganz dunkelbraunen Haaren über den ebenfalls ganz dunkelbraunen, tiefen Augen trägt. Diese Augen. Immer wenn ich hineinblicke, habe ich das Gefühl, dahinter glimmt ein Licht, in jedem Auge, weit hinten. Er kann so leuchten mit den Augen, der Ivo. Ein schneller Blick in den Spiegel zeigt mir, daß man mit blauen Augen nicht leuchten kann. Blaue Augen leuchten offen, gerade, hilflos, weil sie nichts verbergen können. Braune Augen, je dunkler sie sind, sind so tief, leuchten so von weit innen. Und er weiß dieses Leuchten einzusetzen, der Ivo.
Kokett, ich sagte es schon.
Ansonsten meine Größe, schlank, wie ich; wir haben einander im Äußerlichen nichts nachstehendes.
Ein koketter Mann ist mir etwas Neues.
Ab nun folgt keine Zeile mehr über Geschäfte oder Gespräche. Stattdessen ein beinahe Kapitel, das Joseph Moritz - vielleicht absichtlich - sogar als solches geformt hat.
Hier finde wieder eine Anmerkung Platz. Wir geben das Kapitel bis auf wenige Streichungen so wieder, wie es geschrieben ist. Die Streichungen, daran sei hier erinnert, entsprechen wohl dem, das man als Wunsch des Joseph Moritz interpretieren kann. Wir wollen ihn nicht bloßstellen. Zudem sind manche intime Details so drastisch geschrieben, dass sie wirklich nur ins Privatissimum gehören.
Die Liebesinsel.
Ich bin noch immer von viel Unruhe bewegt.
Wir trafen uns heute vormittag vor dem Rektorenpalast. Ivo holte mich ab und bat mich, den Weg zum Hafen doch zu Fuß nehmen zu wollen. Ich wunderte mich, dass er das fragte, der Weg zum Hafen ist nämlich keine fünf Minuten lang.
Dort führte er mich zu einem Schiff, das von zwei Männern gerudert wird. Das Schiff hat ein kleines Verdeck, oder wie das heißt, aus kostbarem, teppichartig gewebtem Tuch, sodaß man wie in einer Kutsche sitzen konnte, von niemandem eingesehen, auch nicht von den beiden Ruderknechten. Der wichtigste Zweck schien mir hier aber der Schutz vor der sehr heißen Sonne.
Ruderknechte - das war übrigens ganz falsch. Ivo stellte mir die beiden mit Namen vor, sie reichten mir die Hand - nicht ich ihnen, aber ich mußte wohl zugreifen -, wobei sie eine galante, mäßig tiefe Verbeugung machten. Dann sind wir losgefahren. Hinaus aus dem Hafen und vorerst gerade auf die Insel zu, die Ragusa geradewegs vorgelagert ist. Schon recht nahe an der Insel machten wir einen rechten Winkel nach links und fuhren jetzt die Insel entlang.
Ivo erzählte mir von einem Kloster, das sich auf der Insel befindet. Auf der Seite, von der wir uns soeben wegbewegten. Er erzählte mir von einigen sehr stillen, sehr abgelegenen Häusern, die auf der Insel sein sollen.
„Diskret?“, fragte ich vorsichtig.
„Diskret, ja“, stimmte er begeistert zu, „das ist das Wort, das mir entfallen ist.“
„Das ist aber wichtig“, gab ich mich weltmännisch. Währenddessen - ich gebe es ja zu - beschlich mich ein Gefühl gewaltiger Unsicherheit. Ich hatte nämlich nicht vor, mein erstes Erlebnis hier bei den einfachen Menschen auf einer Liebesinsel zu haben.
Unser Boot umrundete jetzt die Insel an ihrer Südseite gerade so, daß Ragusa nicht mehr zu sehen war.
Gleich darauf bogen wir in eine Bucht ein, legten dort auf einem recht guten Holzsteg an und stiegen aus. Ich sah mich kurz um und stellte Gespenstisches fest: nichts war auf der Insel zu sehen, kein Mensch. Sehr weit allerdings reichte mein Blick auch nicht, da die Insel dicht mit Pinien bewaldet ist und die Küste steil und felsig recht hoch anstieg, bis sofort der dichte Wald beginnt.
Ivo sagte den beiden Ruderern etwas in seiner Sprache, sie nickten, machten das Boot fest, nickten auch mir aufmunternd zu und verließen uns. Während sie jedoch sich nach rechts wandten, führte Ivo mich nach links in den Wald.
Der Weg führte uns immer im Wald, aber doch so nahe beim Ufer, daß wir immer das Meer sehen konnten. Wir wanderten stumm. Ich hatte zum Glück meine derberen Schuhe an, sodaß ich auf dem Wege gut vorangekommen bin. Was das Wams betrifft allerdings muß ich mit dem Schneider Hans reden, denn ich konnte mich auf dem manchmal recht holprigen Wege nur sehr schwer bewegen, zudem begann ich bald fürchterlich zu schwitzen. Wir gingen aber auch sehr schnell.
Als ich mir mit dem Taschentuch eben den Schweiß von der Stirne wischte, blieb der Ivo plötzlich stehen und fragte: „Warum gehen wir nicht baden?“
Ich glaubte zuerst nicht richtig zu verstehen.
„Ja“, sagte er, „baden, ins Meer!“
Jetzt war ich aber schon erschrocken.
„Aber“, stammelte ich wohl, „wie soll ich denn...“, und habe an mir hinuntergeblickt, die Kleider meinend.
Ivo aber lachte: „Natürlich ohne Kleider. Komm. Hier sieht dich keiner.“
Er hatte nicht eben gesagt, hier sieht UNS keiner, nein, hier sieht DICH keiner. Ich empfand das als einen Angriff. Wogegen, weiß ich nicht. Aber gegen irgendwas an mir war er wohl gerichtet.
„Ach“, rief er, „und wenn du nicht schwimmen kannst, dann halt’ dich am Ufer fest, dort sind nur Muscheln, die beißen nicht.“
Jetzt wurde es mir der Keckheit doch zu viel. Daß man in unseren Kreisen schwimmen kann, ist sicher nicht üblich. Ich aber kann schwimmen; mein Vater hat mir in unserem Landgut am Erlaufsee beigebracht, wie herrlich ein kühles Bad sein kann, wenn man sich im Wasser auch zu bewegen weiß, ohne daß man untergeht. Aber selbstverständlich in der hiefür geeigneten Kleidung.
Bei dieser Gelegenheit fällt es mir ein, daß mein Vater ohne Kleidung auch nur wie ich aussehen würde, älter halt, aber sonst. Jetzt bin ich rot im Gesichte und schäme mich meines nackten Vaters.
Ich wollte dem lvo eben erklären, daß... nun gut, ich hatte eben in die wunderbaren blauen Fluten geblickt und drehte mich entschlossen zu Ivo um.
Da packte mich ein neuer Schreck.
Ivo stand völlig nackt vor mir. Und es war nicht nur die Nacktheit, die mich so erschrecken ließ, daß es mir den Atem genommen hat, sondern die ganze Schönheit, die da vor mir stand. Mein Blick mochte wohl etwas lang auf seinem edel gebogenen Glied gehangen sein, sodaß er schnell beide Hände darüber legte und rief: „Wie wär's, wenn du auch den Rest betrachtetest?“
Jetzt drehte er sich kokett einmal um sich selber, ließ seine wunderhübsche Hinterfront mit einigen schnellen Wackelbewegungen aufregend tänzeln und stand dann wieder vor mir. Der dunkle, edle Kopf, wie der eines großen Kindes, halblanges, glattes, sehr dunkelbraunes Haar, den vollen Mund lächelnd leicht geöffnet, rundliche Zähne schimmerten dahinter hervor. Viele Haare auf der Brust, schön nach der Anatomie verteilt, am Bauch, um den Nabel herum, ein Haarwirbel, dann Haar in einer dünneren Linie bis zu den üppigen Schamhaaren, aus denen ein kräftiges Glied weit hervorstand, vermutlich, weil sich seine Hoden an der Luft zusammengezogen hatten. Der Hintern ebenfalls behaart, wobei sich die Behaarung an der Fuge verdichtete, sodaß sie eine dunkle, geheimnisvolle Linie nach unten hinein bildeten. Die Beine ebenfalls bis zu den Knöcheln behaart, aber nicht zu dicht, sodaß die braune Haut appetitlich durchschimmern konnte. Wie denn überhaupt der Haarwuchs den Körper in keiner Weise zu deformieren im Stande war, sondern immer die schöne, edle Form die Oberhand hatte. So habe ich ihn jetzt vor mir, fast leibhaftig, fast.
Joseph Moritz hat hier wieder eine Pause beim Schreiben gemacht. Hat ihn die eigene Schilderung in ihrer Intensität ‚übermannt’? Ja, er hat „es sich wild selbst gemacht“, schreibt er.
Beim Durcharbeiten des Tagebuches und beim Auswählen der Textstellen sind wir gerade hier in einem Dilemma: Hätten wir das alles überhaupt weglassen sollen? Sind wir schon zu weit gegangen in der Auslegung der Weite unseres Versprechens an den Joseph Moritz? Wir wissen es nicht. Wir lassen eben nur weg, wenn Joseph Moritz vulgär wird, wenn er, wie an dieser Stelle zum Beispiel Details beschreibt, wie er onaniert hat.
Ich möchte mich zwingen, wahrhaftig zu bleiben.
„Hast du Probleme?“, fragte der lvo mich jetzt, wobei er mit den Augen dorthin wies, wo sich mein Beinkleid bald wölben mußte.
Ich antwortete nicht. Stattdessen machte er sich langsam daran, sein ‚Problem’ dem meinen anzugleichen. Als es dann dem glich, was er von mir zu erwarten meinte, sagte er, sich nach hinten reckend: „Na?“
Und das wollte wohl heißen: mehr an schamloser Selbstverleugnung kann ich wohl nicht mehr für dich tun. Da stehe ich und sollte mich eigentlich schämen. Also?
Ich begann mich wortlos auch zu entkleiden. Die komplizierte Tätigkeit bewirkte allerdings, daß ich bald kein Problem mehr hatte. Ivo nahm mir jedes Kleidungsstück ab und hängte es säuberlich und ordentlich auf einen queren Ast, alle meinen über seine Kleider.
„Die finden wir schon wieder auseinander!“ Dann lachte er: „Wäre doch zu komisch, wenn du mit meinen und ich mit deinen Kleidern zurückkäme!“
Jetzt war auch ich nackt und Ivo hatte keine Zeit mehr, seinen letzten Gedanken komisch zu finden. Er starrte mich nämlich von oben bis unten und von hinten bis vorne erstaunt an und sagte dann sehr leise und sehr bewundernd: „Oh, bist du schön!“
Dieser Ausspruch fuhr mir wie ein Blitz durch den ganzen nackten Körper und direkt ins Herz. Ich bekam Herzklopfen, wollte mich schämen, schüttelte verzweifelt den Kopf, machte einen Griff zu meinen Kleidern, da ergriff er eben diese Hand und sagte leise: „Es ist gut, wenn wir uns jetzt abkühlen.“
Ich wollte aber gar keine Vernunft. Noch nie hatte jemand so was zu mir gesagt, warum mußte jetzt die Vernunft dazwischen kommen?
Er aber führte mich an der Hand durch die Felsen: „Steig’ immer genau dort drauf, wo ich draufsteige.“
Ich tat es, und wir kamen recht flott zum Wasser.
Im Wasser drinnen war ich dann sehr schnell, weil ich auf einer mit Muscheln überzogenen, glitschigen, runden Klippe ausglitt und in das Wasser plumpste. Erst schwammen wir ein Weilchen jeder für sich in der herrlich kühlen Flut. Ich hatte nicht bedacht, daß das Meer ja salzig sei und spuckte ein paar mal recht kräftig.
Ivo schwamm zu mir her und wir sprachen, uns treiben lassend, über die Dummheit der heutigen Moden, die alles das ja eigentlich untersagten, was uns da eben so viel Vergnügen bereitete.
Plötzlich tauchte er mich an den Schultern unter Wasser. Ich hielt mich an ihm fest, umklammerte seine Lenden, er zog mich an sich entlang wieder hoch und jetzt trieben wir eng umklammert auf dem Wasser.
Ich ließ es mit mir geschehen, ich fühlte nichts als ausgelassene Geborgenheit.
Da flüsterte Ivo mir ins Ohr: „Liebe darf es nicht sein; also ist es Freundschaft. Ja? Mein Freund?“
„Ja, mein Freund“, antwortete ich in dem Ton, in dem man dem Pfarrer als Ministrant antwortet.
Da hielt ich ihn mit dem Oberkörper von mir weg; ich mußte da etwas fragen: „Wie viele Freunde hast du hier schon gekürt? Du hast Erfahrung in diesen Dingen!“
Da begannen seine Augen ganz tief zu leuchten und er sagte: „Ich habe keinen Freund als dich. Das mußt du mir einfach glauben, weil ich es dir nicht beweisen kann.“
Dann gab er mir einen Kuß auf die Lippen, der wohl kurz sein sollte; ich aber sog ihn fest, sodaß er sich schmatzend von mir lösen mußte. Wieder leuchtete er mich tief an: „Erfahrung, ich? Und du?“
Er spürt, daß ich schon wieder ein Problem zwischen meinen Beinen hatte: „Und das? Erfahrung ich? Ferkel!“
Da faßte ich mit einer Hand hinunter zu ihm und fand ihn genauso: „Selber Ferkel!“, rief ich, und schämte mich nun für gar nichts mehr.
Da unser Problem nicht abkühlen wollte, gingen wir halt so aus dem Wasser und machten, die Kleider einfach liegen lassend, einen Spaziergang. Nachdem wir einige Zeit auf wunderschönen Wegen durch den Wald wie auf Teppichen, die aus langen Piniennadeln bestanden, dahingewandert waren, kamen wir in die Felsen, was bedeutete, daß wir dem Ufer immer näher kamen. Wir umrundeten eine tiefe Schlucht, eine Bucht, die mit tiefblauem Wasser eine tiefe Zunge ins Land hereinstreckte.
Er rief „Joseph Moritz“ in die Bucht hinunter und bekam sofort ein leises „oritz“ als Widerhall. Darauf rief ich rasch „Ivo“ und bekam zweimal „Ivo“ zurück. Ich erklärte ihm stolz, daß wir in den Alpen im Umgang mit dem Echo wohl mehr Übung hätten.