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Es war das einzige Mal, dass wir bei Norbert die Nacht verbrachten. Ab nun trafen wir einander fast täglich bei mir.
Norbert begann mich zu umgeben. Es folgte eine unangenehme Phase unserer Liebe. Ich, nicht gewohnt, Rechenschaft über irgendetwas abzugeben, bäumte mich auf. Ein halbes Jahr lang wehrte ich mich gegen die ‚Vereinnahmung’, die ich da zu spüren vermeinte. Ich reagierte rüpelhaft, wollte weh tun. Wenn Norbert mich verliebt ansah, sagte ich, er sähe jetzt besonders blöd drein. Norbert liebte Rom besonders. Als ich das hörte, fuhr ich fünf Tage in die ewige Stadt - mit einem anderen Freund.
Mein Herz zieht sich zusammen bei diesen Gedanken. Ordnung machen? Ich schäme mich zutiefst. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und spüre die Tränen, die über meinem ganzen Gesicht hängen. Mit Norbert habe ich das alles längst besprochen. Ausgeredet. Norbert wollte nie darüber reden, weil es ihm weh tat, in der Erinnerung und im Gespräch. Und weil es ihm leid tat, wenn ich mich zu Tränen schämte.
Dann aber war der Widerstand irgendwann einmal gebrochen und ich sank hinein in die Wohligkeit der zweisamen Häuslichkeit. Mittlerweile hatte ich eine neue Wohnung gekauft und eingerichtet, in die dann Norbert, kaum war sie fertig, mit mir einzog.
Als wir einander kennenlernten, war ich siebenunddreißig Jahre alt, Norbert einunddreißig. Mag sein, dass Norbert noch jung war, obwohl ich ihn immer als ganzen Mann in Erinnerung habe. Ich jedenfalls war nicht mehr jung. Alt genug, um keine ‚Jugendtorheit’ mehr zu begehen. Was ich da einging, war für immer bestimmt, für die Ewigkeit, wie man sie sich halt vorstellt, wenn man mit ihr nicht in Berührung kommt.
In der neuen Wohnung lebten wir dann miteinander unsere fünfzehn Jahre, die uns gegeben waren. Bis zu dem Abend, als das Telefon in eben dieser Wohnung läutete. Das braune Telefon, dessen Farbe Norbert nicht mochte, und mir das Ende unseres Beisammenseins mitgeteilt wurde.
Kapitel 4
AM DONNERSTAG, DEM 14. MÄRZ 1991
hatte ich sehr viel zu tun. Es war ein Tag außer der Norm. Wie sehr, das sollte ich erst nach Mitternacht erfahren.
An normalen Tagen werkte ich im Büro und telefonierte mit Norbert zumindest einmal um die Mittagszeit herum, oft auch öfter. An diesem, eben unüblichen, telefonierten wir weder am Vormittag noch um die übliche Mittagszeit. Meine Sekretärin hatte sich einen Urlaubstag genommen, da ging es im Büro immer etwas störrisch her.
Was mich gerade beschäftigte, notierte ich am Vormittag in meinem Tagebuch:
„14.3.1991 - Im Büro - Sekretärin auf Urlaub.
Ist ja nicht wahr, sage ich mir, das mit der Sex-Steuerung. Prof. Funo“ - in meinen Privatnotizen kürzte ich meinen Chirurgen Funovic so ab – „hat mir attestiert, dass ich gesundheitlich eine Art Midlife-Stabilität erreicht habe, die unbedingt gehalten werden müsse. Das mache aber auch Kräfte frei, meinte er. Und, ob ich das merke, fragte er.
Aha. Das sind die Kräfte, die aus meiner Stabilität kommen. Und ich habe erhöhtes Sex-Bedürfnis immer eher für ein Zeichen der Instabilität gehalten.
Was Letzteres betrifft, fühle ich mich wirklich nicht stabil. Schwach, zum Umfallen neigend, blödsinnig geil, blödsinnig.
Je nach Gemütslage offensichtlich ein anderes Urteil. Wenn ich ‚drauf’ bin, dann ist alles in Ordnung und muss in Ordnung sein, weil ES sein MUSS.
Stabilität. Stabil ist nur meine Instabilität.
Was der Funo mit der Einführung dieses Begriffes angerichtet hat.
‚In unserem Alter’, sagte er, ‚setzt die Vernunft des Weglassens ein!’
Weglassen, ja. Aber Vernunft? Ich habe mich noch selten so unvernünftig gefühlt.
Ich hab’s dermaßen NICHT in der Hand, dass ich neugierig bin, was jetzt wieder kommt.“
Infantile Sorglosigkeit im Tagebuch, Oberflächlichkeit, Darüber-Hin-Gleiten über alles, - und neugierig auf das, ‚was jetzt wieder kommt...’
Ich hatte Besprechungen in der Stadt und ab Mittag Dreharbeiten mit dem beliebten Sänger Holecek in dessen Garten. Die Aufnahmen waren mühsam, weil Holecek sich dauernd versprach, dafür aber immer allem und jedem die Schuld gab, nur sich selber nicht. Ich fuhr noch vor Beendigung der Arbeiten weg, weil ich zu meinem Verleger musste, der sich eben anschickte, mein Buch über die Geschichte des ‚Theaters an der Wien’ zu veröffentlichen. Die Bilder waren noch auszusuchen. Die Besprechung war kurz nach fünfzehn Uhr zu Ende. Ich bestieg mit seinem Mitautor Josef Sills mein Auto und fand es höchste Zeit, den einzigen täglich feststehenden Anruf bei Norbert zu tätigen. Norbert hatte um halb vier Dienstschluss, knapp vorher telefonierten wir in jedem Fall, um zu besprechen, wie es am Abend würde, wer früher, wer später, wer von uns beiden wann nach Hause käme. Ich rief also, noch geparkt, vom Auto aus an und hatte sofort die Sekretärin von Norbert am Apparat.
Sie war sehr aufgeregt und redete grell, wie froh sie sei, dass ich anriefe, Norbert sei um halb ein Uhr Mittag weggegangen mit der Bemerkung, er müsse für eine Stunde nach Meidling. Er habe noch gefragt, ob er etwas aus der Bäckerei zum Kaffee mitbringen solle, seine Mitarbeiterinnen hätten nein gesagt, es wäre noch was im Kühlschrank. Dann sei er gegangen. Sie hätten ihm noch nachgerufen, dass er seine Zigaretten auf seinem Schreibtisch liegen gelassen habe, aber er habe zurückgerufen, für die eine Stunde brauche er wohl keine Zigaretten. Das war das letzte, was sie von ihm gehört hätten. Jetzt sei es halb vier und er sei noch immer nicht da. Er sei doch der Chef des Büros und müsse als letzter alles absperren.
Aber damit nichts aufkomme, bleibe sie noch bis halb fünf da.
Ich versuchte sie zu beruhigen, Norbert würde schon kommen.
Nein, beharrte sie, wenn er sich nur um fünf Minuten verspäte, rufe er immer an. Sie habe solche Angst. Die Befunde. Er habe nichts gesagt. Sie habe solche Angst, dass etwas in den Befunden stünde.
Ein ferner Krampf, weither klirrendes Entsetzen fühlte ich kurz, ganz kurz, ganz weit weg. Norbert hatte einige Tage zuvor eine medizinische Durchuntersuchung über sich ergehen lassen.
Ich fragte, ob sie wisse, dass er die Befunde schon erhalten hätte. Nein, antwortete sie, ich müsste ihn doch selber kennen, der Herr Norbert rede ja nichts darüber.
Der ‚Herr Norbert’, dieser Respekt, er brachte die ferne Angst wieder ganz kurz in Bewegung.
Ich spürte nun doch Unruhe in mir, aber noch keine Hysterie. Mein Gott, er würde schon auftauchen, wo sollte er denn sein!
Ich bat die Sekretärin, sie möge gleich bei mir zuhause anrufen, sobald Norbert da sei. Notfalls solle sie auf das Tonband sprechen.
Herr Sills fragte vorsichtig, ob da Grund zur Unruhe wäre. Ich war mir nicht sicher. Norbert war immer penibel pünktlich. Nicht immer im Privaten, aber immer im Beruflichen.
Nachdem ich Herrn Sills vor dessen Wohnung abgesetzt hatte, fuhr ich sofort nach Hause. Mein erster Blick galt dem Anrufbeantworter. Er zeigte sieben Anrufe an, sechs waren nicht besprochen, aber der Anrufer hatte längere Zeit gehorcht, das Horchen war aufgezeichnet und zu hören. Der siebente war besprochen, es war die Sekretärin, die genauso grell wie vorhin berichtete, es sei halb fünf, sie gehe jetzt nach Hause, den Aktenkoffer von Norbert und seine Schlüssel sperre sie in den Schrank und er möge sie gleich, wenn er nach Hause käme, anrufen, sie mache sich solche Sorgen um ihn.
Jetzt begannen meine fernen Ängste, das kalte Entsetzen, die mühsam weggedachte Unruhe sich zu nähern und in meinem Körper auszubreiten. Ich zwang mich, dennoch logisch vorzugehen. Fragen waren es, die ich mir stellte: Was hielt Norbert davon ab, im Büro anzurufen, was hielt ihn davon ab, zu Hause anzurufen, was hielt ihn davon ab, ins Büro oder nach Hause zu kommen.
Ich beriet mich telefonisch mit unserem Freund Peter, dem Klavierdisponenten, der sich erbötig machte, Polizei und Rettung anzurufen. Er meinte, wenn ich das täte, mit meinem Namen, dann würde das Aufmerksamkeit erregen.
Peter rief nach einer halben Stunde zurück und meldete, dass kein Fall mit dem Namen von Norbert anhängig war. Ich fragte dann noch im amtlichen Leichenschauhaus nach, ob irgendwo eine unidentifizierte Leiche sei. Auch der Bescheid war negativ. Ich befürchtete einen Verkehrsunfall, was sonst konnte es sein?
Die Befunde! Hatte Norbert die Befunde schon? Stand da etwas drinnen? Er hatte eine panische Angst vor Krebs. Die Befunde! Ich wischte alle diese Gedanken beiseite, wer wollte denn so etwas wahr haben? Ich rief alle Bekannten, die mir einfielen, an und fragte, ob Norbert dort sei. Ich hielt meine Anfrage ganz beiläufig, um nichts aufzurühren. Überall antwortete man mir freundlich, dass man sich freuen würde, wenn Norbert da wäre, aber er sei nicht da und ich möge ihn schön grüßen. Ich aber wusste, dass diese Anruferei vollkommen überflüssig war. Norbert hätte sich in jedem Fall bei mir gemeldet, wenn er...
Nun suchte ich die Telefonnummer der Sekretärin von Norbert, wusste aber nur ihren Vornamen. Auf der Seite des Esstisches, die Norbert gehörte, lag ein Stapel Zeitschriften und obenauf ein schwarzes Kalenderetui. Ich blätterte es auf und fand darin ein neu geschriebenes Adressen- und Telefonverzeichnis. Am nächsten Tag und besonders nach dem Gespräch mit Ringel erkannte ich das als eines der vielen Indizien. Nie hatte Norbert sein Adressenverzeichnis so offen herumliegen lassen. Es war auch neu geschrieben. Adressenverzeichnisse sind zumeist in verschiedenen Schriften und mit verschiedenen Schreibwerkzeugen abgefasst, weil die Eintragungen ja nach und nach erfolgen. Nicht so bei diesem Verzeichnis, das war neu geschrieben, in einem Zug und in einer Schrift.
An diesem Abend aber dachte ich beim Anblick des Verzeichnisses nur daran, die Telefonnummer der Sekretärin zu finden. Anhand des Vornamens fand ich sie auch. Sie berichtete mir noch einmal, was sie mir schon am Nachmittag erzählt hatte und bekräftigte ihre Angst wegen der Befunde. Als sie auch noch zu weinen anfing, war es auch um meine Beherrschung geschehen. Ab jetzt ging ich nur noch auf und ab in meiner Wohnung. Durch den Spion in der Wohnungstüre beobachtete ich das An- und Ausgehen des Ganglichtes. Jedes Angehen war der Beginn einer Hoffnung. Dem Angehen des Lichtes musste aber auch eine Liftfahrt folgen. Immer wenn der Lift sich in Bewegung setzte, zählte ich die Stockwerke, die er passierte. Sieben mussten es sein, um zu mir zu gelangen. Wir wohnten allein im Stockwerk, wenn der Lift also sechs Stockwerke passierte, dann musste er zu mir gelangen. Nur zu mir. Umsonst. Der Lift fuhr nie so weit.
Nie mehr werde ich das Geräusch des Schlüsselansteckens von außen hören, nie mehr das Aufsperren, nie mehr das stoßweise Ausatmen von Norbert, wenn er wieder viel eingekauft und alles heraufgeschleppt hat.
Ich stieß Gebete aus, alle, die mir einfielen. Ich rief Norbert, und Norbert, und Norbert. Ich beschwor ihn, nichts zu tun, bevor er mit mir gesprochen hätte.
Dann keimte eine Hoffnung in mir auf: Norbert hat Geld in seinem Büro veruntreut und ist geflüchtet. Dann würde er ja leben, vielleicht in Südamerika, er würde sich sicher melden und ich käme dann sofort zu ihm.
Um halb zehn läutete das Telefon. Ich stürzte hin, hob ab, meldete mich, aber auf der anderen Seite sprach niemand. Da horchte nur jemand. Ich rief, der andere möge sich doch melden, nichts, er legte wieder auf. Am nächsten Tag und nach dem Gespräch mit Ringel erkannte ich auch das als Indiz. Da wollte Norbert wohl noch einmal meine Stimme hören. Mein Gott, so nahe war ich an ihm dran, so nahe war er bei mir. „Warum habe ich nicht gesagt, Norbert, komm nach Hause, wir können doch alles besprechen!“, klage ich und mein Ordnung Machen wird durch mein schweres Atmen unterbrochen, ich halte mir die Hand über die Augen als gäbe es da etwas, das ich nicht sehen will. Aber was sollen die quälenden Gedanken, an dem Abend dachte ich nicht im geringsten daran, dass Norbert das sein könnte, der da horchte. Zu oft kam es vor, dass jemand anrief und sich nicht meldete.
Um dreiviertel zwölf Uhr beschloss ich, das Auf- und Abgerenne aufzugeben und mich niederzulegen. Es war fast genau die Zeit, als es wirklich sinnlos wurde, auf Norbert zu warten, weil er da eben gestorben war.
Ich muss ein wenig eingeschlafen sein.
Da läutete das Telefon. Ich sprang aus dem Bett, stolperte, fiel fast hin, sah im Vorüberfliegen auf die Uhr, es war dreiviertel eins, ich hob ab, der Bruder, Peter, war dran und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Günterl, du musst jetzt sehr stark sein.“
„Ja, was ist denn?“, fragte ich ungeduldig.
„Norbert ist nicht mehr“, sagte Peter.
Ich schwieg. Ich atmete nicht, ich bewegte mich nicht.
„Du musst jetzt stark sein“, insistierte Peter noch einmal mit immer schwierigerer Stimme.
„Ja!“, bellte ich entsetzt. „Was ist passiert!“
„Selbstmord“, sagte Peter noch, dann versagte ihm die Stimme.
Ich hörte, wie er den Hörer weitergab, dann meldete sich eine andere Stimme, stellte sich als Polizist vor, der die Nachricht zu überbringen hatte: „Sie sind der Lebensgefährte von dem Verblichenen?“
„Ja“, hauchte ich, atemlos, von Norbert als Verblichenem zu hören.
„Er hat Selbstmord begangen. U-Bahn. U4-Station Meidling. Er hat nicht gelitten, er war sofort tot.“
Um halb eins war Norbert weggegangen, jetzt war es zwölf Stunden später, wie lang wussten die das schon?
„Wann hat er es denn getan?“
Der Polizist entschuldigte sich, das wisse er nicht, das Kommissariat Meidling habe im Kommissariat Wolfersberg angerufen und ersucht, die traurige Botschaft den Hinterbliebenen persönlich zu überbringen. Mehr würden wir morgen vom zuständigen Kommissariat, das sei wohl Meidling, erfahren.
Ich legte auf. Ich war leer von Gedanken und leer von Gefühlen. Leer, leer, leer. Es war das Nicht-Verstehen eines Idioten, das chancenlose Nichts, in dem ich gefangen war. Ich ging auf und ab in dem langen Gang meiner Wohnung und schüttelte unablässig den Kopf. Schüttelte ihn manchmal so fest, als wollte ich Gedanken abschütteln, herausschütteln. Ich atmete ganz hoch, hohl und kurz. Es war eine Mischung aus ‚Nein!’ und ‚Um Gottes Willen!’ und ‚Das gibt’s doch nicht’, die ich mit mir herumtrug. Es war für mich einfach nicht vorstellbar, dass Norbert tot sein sollte. Tot. Das Wort allein! Dass er nicht, wenn auch reichlich spät, durch die quietschende Wohnungstüre doch noch in den nächsten Minuten, oder Stunden, heute würde ich ihm sogar das verzeihen, hereinkommen würde, sich entschuldigen, mir um den Hals fallen und sich vielleicht sogar ein wenig freuen würde, dass ich mir solche Sorgen um ihn gemacht hätte. Sorgen macht man sich nur um Menschen, die man liebt. Und Liebe kann gar nicht oft genug bewiesen werden, und sei es durch Sorge und Sorgen. Aber Liebe und Sorgen irrten jetzt planlos, suchend, getreten, verletzt, krank ins Leere, in dem sich Norbert befand. Wo befand sich Norbert? Im Leichen-Kühlhaus. Das alles ergab keinen brauchbaren Sinn, keinen Grund für eine sinnvolle Handlung, die ich jetzt gerne gesetzt hätte. Ich hielt die Hände vor mich, um zuzupacken, aber wo sollte ich denn zugreifen? Kein rettender Gedanke, keine Idee, kein Einfall, was jetzt zu tun wäre, um das Entsetzliche einfach unwahr zu machen, kam da. Auch kein Weinen, es war ja nicht wahr.
Da läutete das Telefon wieder. Sein Bruder Peter wollte wissen, ob irgendwelche Papiere von Norbert da seien. Ich sagte, ich würde nachschauen und ihn gleich anrufen, sowie ich etwas fände.
Norbert hatte seine Dokumentenmappe in dem Fach, in dem auch ich meine Dokumente aufbewahrte, deponiert. Seine Mappe, die sonst immer zuunterst lag, lag obenauf.
Ich nahm sie und blätterte sie durch, fand aber vorerst nichts. Erst ganz hinten, als ich sie schon fast wieder schließen wollte, erschauerte ich, als ich ein mit der Hand beschriebenes Blatt Papier vor mir sah:
‚Testament - 7.3.1991 - Ich, Unterzeichneter Norbert...’ - ich überflog es, ohne viel vom Inhalt mitzubekommen – ‚dieses Testament habe ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte eigenhändig geschrieben, datiert und mit Unterschrift versehen - Unterschrift’.
Ich blätterte weiter. Da war eine ‚Letztwillige Verfügung - 8.3.1991’ von Norbert über seinen Körper. Er wollte ihn der Anatomie zur Verfügung stellen. Es war ein Vordruck, den er nur ausgefüllt hatte. Unten aber stand in seiner geliebten Handschrift: ‚Bitte, bitte, ich will kein Begräbnis.’
Ich konnte nicht mehr schauen. Ich kann auch nicht schauen, wenn ich beim Ordnung Machen an diesen Satz gerate. Die Abrechnung beginnt zu greifen. „Mögen sich diejenigen, die mich dazu überredet haben, die Folgen selber zuschreiben - ich habe es schon einmal gesagt“, murre ich selbstzufrieden ob der abermaligen Bestätigung meiner Prophezeiung.
Ich blätterte weiter. Jetzt kam eine Liste, wer im Falle seines Ablebens zu verständigen sei. Ich war nicht erwähnt. Ich war ja auch schon verständigt. Auf derselben Seite stand auch noch, wo, ‚wenn nötig – hoffentlich’ eventuelle Begräbniskosten refundiert würden. Norbert rechnete also nicht hundertprozentig damit, dass es ganz ohne Begräbnis abgehen würde.
Ich suchte nach einem persönlichen Papier, bis jetzt hatte ich nur Amtliches gefunden. Aber da war nichts mehr.
Aus den Daten auf den Papieren ging klar hervor, dass Norbert seinen Selbstmord mindestens eine Woche lang geplant hat.
Ich rief Peter an und erzählte ihm das alles, las ihm auch, wieder ohne viel vom Inhalt zu begreifen, wesenlos und sinnleer die Papiere vor und erklärte ihm genau, wo er morgen die Mappe finden würde.
Ich bat Peter, anzurufen, bevor er käme, da ich um sieben Uhr zwanzig einen polnischen Freund vom Ostbahnhof abholen müsse, dann aber wieder zuhause wäre. Ich wüsste nur nicht, ob und wie viel der Chopin-Express Verspätung haben würde, er habe bis jetzt immer Verspätung gehabt.
Noch einmal, mit einschärfender Betonung, erklärte ich, wo die Mappe liege. Denn mir war völlig klar, was ich jetzt zu tun hatte.
Kapitel 5
IN DER FOLGENDEN NACHT...
sollte mein Leben ein Ende finden. Ich hatte das Telefon noch weiter benützt, um aus der brutalen Klammer, in der ich mich fühlte, wenigstens für kurze Zeit hinauszukommen. Er hatte Ernst, meinen Finanzmanager, der besonders gut mit Norbert befreundet war, in Mitterbach angerufen und ihm in Kürze die Tragödie erzählt. Auch Alex weckte ich auf und schockte ihn. Hans-Peter und Toni mussten ebenfalls eine schlaflose Nacht verbringen. Mit Hans-Peter hatte ich schon während der fürchterlichen Wartezeit einige Male telefoniert und alle Eventualitäten, auch die des Selbstmordes, durchbesprochen.
Meinen Bruder in Linz anzurufen schien mir zu grausam, er würde es seiner ganzen Familie sagen müssen. Ihn behielt ich mir für den nächsten Morgen auf.
Dann aber, als mir niemand mehr einfiel, den ich anrufen konnte und sich auch hier Leere und Ende abzeichnete, begann ich plötzlich, aktiv zu werden. Es wurde mir ganz klar im Kopf, dass es nur einen Weg für mich gab: Ich musste Norbert so schnell wie möglich folgen. Jetzt war er noch nicht weit weg, ich spürte noch die Hand, die ich, die Norbert noch nicht losgelassen hat. Ich wusste ja noch nicht, warum Norbert das getan hat. Ich wusste nur, DASS er es getan hat. Das Warum war mir aber völlig gleichgültig, nur das DASS zählte, die Tatsache. Es war mir nicht vorstellbar, dass Norbert etwas getan hat, von dem er nicht ganz selbstverständlich annahm, dass ich es auch tun könnte und ganz selbstverständlich auch tun würde. ‚Selbstverständlich’ war das Wort, das unser ganzes Zusammenleben geprägt hat. Es kam mir daher gar nicht in den Sinn, an der Richtigkeit dessen, was ich vorhatte, nur im geringsten zu zweifeln. Selbstverständlich war es meine Pflicht, nachdem ich alles für den Bruder Peter bereitgelegt hatte, Norbert zu folgen. Auch das Wie war kein Problem. Ich ging, wie ich war, hinaus auf meine Nordterrasse, von der es direkt senkrecht sieben Stockwerke hinuntergeht in den Hof. Ganz ruhig kletterte ich über das Geländer. Unten im Hof brannte kein Licht, ich sah also den Platz, auf dem ich in den nächsten Sekunden zerschmettert liegen würde, nur schemenhaft. Dennoch, ich wollte nicht sehen, wie ich darauf zuflog und kletterte daher so hinaus, dass ich mit dem Rücken voran fallen würde. So hing ich, mit den Händen am Geländer festgeklammert, mit den Füßen in der unter der Terrasse laufenden schmalen Dachrinne, die sich schon leicht nach unten bog unter meinem Gewicht. ‚Norbert’, rief ich in Gedanken, um nur ja niemand aufzuwecken. Noch einmal ‚Norbert!’ und jetzt loslassen - - da meldete er sich.
Es war Norbert, der ganz trocken und mit der ihm eigenen, leicht hochnäsigen Überlegenheit, sagte: „Aha, ich mache eine Woche lang Ordnung, und du hinterlässt das Chaos.“
Schnell schoss mir die Unordnung meiner finanziellen Verhältnisse durch den Kopf. Kein Mensch würde sich auskennen.
„Richtig, Norbert. Warum sagst du das erst jetzt, wo ich wahrscheinlich kaum mehr zurückkann?“
Es wollte mir nicht gelingen, wieder auf die Terrasse zu gelangen. Die jetzt schon stark nach unten gebogene Dachrinne, gab immer mehr nach. Wenn sie nicht hielt, dann würden meine Füße bald keinen Halt mehr haben und ich plötzlich durchsacken, was meine Hände wiederum nicht aushalten würden. Ich würde senkrecht, Füße voraus, nach unten fallen. Ich war darüber keineswegs in Panik. Wenn ich fallen würde, hätten meine Erben halt Pech gehabt und müssten sich durch die Hinterlassenschaft durchbeissen. Finanzmanager Ernst hätte da sicher mitgeholfen.
Einige Wochen später war ich zu einem Abendessen bei Ernst eingeladen. Es gab die ersten, von ihm und seiner Freundin selbst gebrockten, Eierschwammerl in einer hinreißenden Sauce. Da eröffnete mir Ernst, dass er sich in meinen Finanzen gar nicht mehr ausgekannt hätte. Ich beruhigte ihn, so kompliziert wäre es nicht gewesen, er hätte sich da schnell hineingefunden. Aber das sei ja nun kein Thema mehr, sagte Ernst. Eigentlich fragte er versteckt. Ich winkte ab, kein Thema. Derzeit.
Da aber gelang es mir doch, mich an den Armen hochzuziehen und einen Fuß in einer für mein Alter akrobatisch anmutenden Aktion über das Geländer zu bringen. Ich zog mich hoch und fiel dann endlich nach innen. Dort blieb ich auf dem Steinboden inmitten des vergammelten Unkrauts, das zwischen den Terrassensteinen stellenweise schon bis zu zwanzig Zentimeter hoch wuchs, liegen, bis mir kalt wurde. Ich kroch, schleppte mich irgendwie ins Schlafzimmer und kletterte auf das Bett. Ich kam auf meiner Seite zu liegen und atmete stoßweise. Als ich mich etwas beruhigte, streckte ich meinen rechten Arm aus und legte die Hand auf den Polster rechts von mir, auf dem gestern noch der Kopf von Norbert schlafend gelegen war, und eigentlich schon längst liegen sollte, wie es seit fünfzehn Jahren so war. Da lag aber nichts. Langsam breitete sich um mein Herz ein Schmerz aus, wie ich ihn vorher noch nie gefühlt hatte. Das Brennen und Ziehen wurde immer stärker, steigerte sich an den Rand des Erträglichen, das Herz begann unbändig zu klopfen, ich wurde im Rhythmus des Klopfens am ganzen Körper geschüttelt. Mir war der Schmerz höchst willkommen, unermessliche Freude stieg in mir auf, gleich würde mein Herz zerspringen. Ich versuchte, fest mitzuhelfen. Mit dem Rest der Kraft, die ich noch hatte, bat ich, flehte ich mit tödlicher Intensität: „Ja, ja, zerspring! Zerspring!“ In dankbarer Erwartung des unfassbaren Glücks, dass mein Körper selber mich in den Tod und damit zu Norbert zu bringen bereit war, lag ich da und war glücklich. „Zerspring! Zerspring!“, befahl ich mit meiner, wie ich hoffte, letzten Kraft.
„Das war das einzig richtige, was du tun konntest“, sagte mir einige Tage später Dr. Huber, mein Hausarzt seit dreißig Jahren. „Dadurch hast du eine Gegenreaktion eingeleitet, die das um dein Herz gestaute Blut abgeleitet hat. Hättest du das nicht getan, wäre alles Blut beim Herz geblieben und der Druck hätte möglicherweise etwas zerrissen. Da siehst du wieder, wie der Mensch doch instinktiv das richtige macht, wenn es um sein Leben geht.“
Scheiße. Genau und wortwörtlich das dachte ich.
Das Herzklopfen ließ langsam nach, es wurde sehr still in mir. Wieder legte ich meine Hand auf das Polster von Norbert. Ruhe breitete sich in mir aus, ein Glücksgefühl kam wieder auf, ein müdes, schläfriges, eines, in dem ich mir vorstellen konnte, ewig zu verharren. So musste es einem zumute sein, der langsam im Glück starb. Ins Glück starb. Isoldes Liebestod. Schlaftabletten. Ich hatte vor fünf Jahren eine schwere Zwölffingerdarmoperation. Damals bekam ich, um in der ersten Zeit der Rekonvaleszenz besser schlafen zu können, schwere Schlaftabletten verordnet. Ich nahm damals keine einzige, weil ich mir vorgenommen hatte, es auch so zu schaffen. Ich schaffte es auch. Die Tabletten mussten noch da sein. Ich wusste sogar genau, wo die Phiole stand. Behände sprang ich aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Da, genau am selben Platz seit fünf Jahren, stand das weiß-gelbe Plastikröhrchen. Ich nahm es in die Hand und wusste im selben Augenblick, was geschehen war: Das Röhrchen war leer, Norbert hatte es ausgeleert. Er wusste ganz genau, was ich vorhaben würde und verhinderte es. Ein Gefühl von fernem Zorn stieg in mir auf. Ein Anflug der Bockigkeit, die mich immer überfällt, wenn ich mich bevormundet fühle. Im gleichen Augenblick aber fiel mir ein, dass Norbert mir ja nur befohlen hatte, Ordnung zu machen. Er hatte mir also nur den schnellen, unüberlegten, überhasteten, unordentlichen Weg versperrt. Da erblickte ich die Rasierapparate. Norbert war Nassrasierer und verwendete diese in feste Plastik-Scher-Apparaturen eingeschweißten Klingen, die man nach Verwendung wegwarf. Ich musste an die Klingen herankommen. Die Apparate aber hielten fest, ich fummelte mit zittrigen Händen daran herum, zerschnitt mir zwei Finger, schlug die Apparate gegen den Rand des Waschbeckens, drückte sie gegen die verflieste Wand, umsonst, ich bekam die Dinger nicht auseinander. Einen Hammer wollte ich holen. Da aber schmiss ich alles in eine Ecke. Ich musste ja sowieso erst einmal Ordnung machen. Ich beschloss, mich einfach hinzulegen, ging aber doch noch einmal ins Badezimmer zurück, räumte die Rasierer-Scherben auf und versenkte sie in den Abfallkübel. Alle Spuren verwischen. In Ruhe alles fertig machen und dann verschwinden. Das musste mein Geheimnis bleiben, da durfte mir niemand draufkommen und womöglich dreinreden. Norbert hieß das Vorbild. Er hatte es genau richtig gemacht. Nicht einfach umbringen, ordentlich umbringen, das war die vorläufig letzte Botschaft, die ich von ihm entgegennahm.