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»Und teilen Sie auch Herrn Dolochow zu seiner Beruhigung mit, daß ich ihn nicht vergessen werde. Sagen Sie mir doch, ich wollte Sie schon immer danach fragen, was ist er denn eigentlich für ein Mensch, wie macht er sich, und überhaupt ...«
»Seinen Dienst tut er durchaus ordnungsmäßig, Euer Exzellenz ... Aber sein Charakter ...«, erwiderte Timochin.
»Nun, was denn? Was ist denn mit seinem Charakter?« fragte der Regimentskommandeur.
»Er hat Tage, an denen ein böser Geist über ihn kommt, Euer Exzellenz«, antwortete der Hauptmann. »Mal ist er klug und verständig und gutmütig, und dann mal wieder wie eine wilde Bestie. In Polen hat er einen Juden beinahe totgeschlagen, wie Sie ja wissen ...«
»Nun ja, nun ja«, sagte der Regimentskommandeur, »aber man muß doch mit so einem jungen Menschen in seinem Unglück Mitleid haben. Er hat ja auch gute Konnexionen ... Also da werden Sie ... hm ...«
»Zu Befehl, Euer Exzellenz«, erwiderte Timochin und gab durch sein Lächeln zu verstehen, daß er die Wünsche seines Vorgesetzten verstanden hatte.
»Nun schön, schön.«
Der Regimentskommandeur hatte in den Reihen Dolochow herausgefunden und hielt sein Pferd bei ihm an.
»Verdienen Sie sich im ersten Gefecht die Epauletten wieder!« sagte er zu ihm.
Dolochow wendete sich nach ihm hin; aber er sagte nichts und änderte auch nicht den Ausdruck seines spöttisch lächelnden Mundes.
»Nun, also abgemacht!« fuhr der Regimentskommandeur fort. »Die Leute sollen jeder ein Glas Branntwein auf meine Kosten bekommen«, fügte er laut hinzu, damit die Soldaten es hörten. »Ich danke euch allen! Es ist ja alles, Gott sei Dank, gutgegangen!« Er ritt an der Kompanie vorbei und zu einer andern hin.
»Das muß man sagen, er ist wirklich ein guter Mensch; man kann ganz gern unter ihm dienen«, meinte Timochin zu einem neben ihm gehenden Leutnant.
»Gewiß! Wie sollte denn auch der Herzenkönig« (dies war der Spitzname des Regimentskommandeurs) »kein gutes Herz haben?« erwiderte der Leutnant lachend.
Die heitere Stimmung, in welcher sich die Vorgesetzten nach der Besichtigung befanden, war auch auf die Gemeinen übergegangen. Die Kompanien marschierten fröhlich einher. Überall hörte man die Soldaten munter untereinander reden.
»Wie konntet ihr bloß sagen, daß Kutusow auf einem Auge nicht sehen kann?«
»Na, ist es etwa nicht so? Er ist einäugig.«
»Nein, Bruder, der kann besser sehen als du. Die Stiefel und die Fußlappen, alles hat er sich beguckt ...«
»Wie der mir auf die Füße sah, Bruder ... na, ich dachte ...«
»Aber der andre, der Österreicher, der mit bei ihm war, der sah doch ganz aus wie mit Kreide beschmiert. Wie weißes Mehl. Ich denke bloß, was mag das für eine Arbeit sein, die Uniform zu reinigen!«
»Hör mal, Fjodor! Hat er gesagt, wann der Kampf losgehen wird? Du standst ja dichter dran. Es heißt ja, der Bunaparte steht selbst in Brunow.«
»Der Bunaparte in Brunow! Schwatz nicht solchen Unsinn, du Narr! Was du nicht alles weißt! Jetzt rebelliert der Preuße. Also da wird ihn der Österreicher zur Räson bringen. Wenn der wird Frieden machen, dann fängt der Krieg mit dem Bunaparte an. Und da redest du, Mensch, der Bunaparte steht in Brunow! Da sieht man mal, wie dumm du bist. Hör besser zu, wenn was gesagt wird.«
»Nein, diese verdammten Quartiermacher! Sieh mal bloß, die fünfte Kompanie schwenkt schon in ein Dorf ein; die kochen nun gleich ihre Grütze, und wir sind noch lange nicht in unserm Quartier.«
»Gib mir ein Stück Zwieback, du Kerl, du.«
»Aber hast du mir gestern von deinem Tabak abgegeben? Siehst du wohl, Bruder! Na, da hast du, in Gottes Namen.«
»Hätten sie uns doch wenigstens Rast machen lassen; aber so können wir noch fünf Werst laufen, ehe wir was zu essen kriegen.«
»Das wäre eine schöne Sache, wenn uns die Deutschen Kutschen anspannen ließen. Dann könntest du großpreislich fahren!«
»Aber hier sind wir doch zu einem ganz närrischen Volk gekommen, Bruder. Vorher, das waren lauter Polen, die gehörten wenigstens noch zum russischen Reich; aber hier, Bruder, hier sind überall bloß Deutsche, nichts als Deutsche.«
»Die Sänger nach vorn!« ertönte das Kommando des Hauptmanns.
Aus den einzelnen Gliedern traten im ganzen etwa zwanzig Mann heraus und liefen an die Spitze der Kompanie. Der Vorsänger, ein Trommler, wendete sich mit dem Gesicht zu den Sängern zurück, schwenkte den Arm und stimmte die getragene Melodie des Soldatenliedes an, welches anfängt: »Brüder, wenn die Sonne morgens rot und goldig sich erhebt« und mit den Worten schließt: »Und mit Väterchen Kamenski wird uns hoher Ruhm zuteil.« Dieses Lied war ehemals in der Türkei gedichtet und wurde nun jetzt in Österreich gesungen, nur mit der Änderung, daß statt der Worte »Väterchen Kamenski« eingesetzt wurde: »Väterchen Kutusow«.
Indem der Trommler, ein hagerer, hübscher Mensch von ungefähr vierzig Jahren, bei diesen letzten Worten in soldatischer Manier kurz abbrach, bewegte er die Arme, als ob er etwas auf die Erde schleuderte, warf den andern Sängern einen strengen Blick zu und kniff die Augen zusammen. Dann, nachdem er sich überzeugt hatte, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren, machte er eine Gebärde, als ob er vorsichtig mit beiden Händen einen unsichtbaren, wertvollen Gegenstand über seinen Kopf in die Höhe höbe, ihn einige Sekunden lang so hielte und auf einmal mit Energie auf die Erde würfe:
»Ach, du mein Häuschen klein«, sang er.
»Mein neues Häuschen ...«, fielen zwanzig Stimmen ein, und der Löffelmacher sprang trotz seines schweren Gepäcks ausgelassen nach vorn, ging vor der Kompanie rückwärts, bewegte die Schultern hin und her und drohte dem einen und dem andern mit seinen Löffeln. Die Soldaten schlenkerten nach dem Takt des Liedes mit den Armen und gingen, unwillkürlich Takt haltend, mit weit ausgreifenden Schritten. Da wurde hinter der Kompanie Räderrollen, das Knistern von Wagenfedern und Pferdegetrappel hörbar. Kutusow kehrte mit seiner Suite nach der Stadt zurück. Der Oberkommandierende gab ein Zeichen, daß die Leute ohne Honneur weitermarschieren möchten, und ihm und seiner gesamten Suite war an den Gesichtern deutlich anzusehen, wieviel Vergnügen ihnen die Klänge des Liedes und der Anblick des tanzenden Soldaten und der frisch und fröhlich dahinmarschierenden Kompanie machte. Im zweiten Glied, auf der rechten Flanke, wo die Kutsche die Kompanie überholte, fiel einem jeden unwillkürlich der blauäugige Gemeine Dolochow auf, der besonders flott und munter nach dem Takt des Gesanges marschierte und den Vorbeifahrenden und Vorbeireitenden mit einer solchen Miene ins Gesicht sah, als ob er alle bedauerte, die in diesem Augenblick nicht mit der Kompanie marschierten. Der Husarenkornett in Kutusows Suite, der dem Regimentskommandeur nachgeäfft hatte, blieb hinter der Kutsche zurück und ritt zu Dolochow heran.
Der Husarenkornett Scherkow hatte eine Zeitlang in Petersburg zu der wilden, tollen Gesellschaft gehört, deren Matador Dolochow war. Im Ausland war Scherkow dem zum Gemeinen degradierten Dolochow wiederbegegnet, hatte aber nicht für nötig befunden, ihn zu erkennen. Jetzt nun, nachdem Kutusow mit dem Degradierten gesprochen hatte, wandte er sich mit der erfreuten Miene eines alten Freundes zu ihm:
»Nun, wie geht es dir, liebster Freund?« fragte er in den Gesang hinein und paßte den Gang seines Pferdes dem Schritt der Kompanie an.
»Wie es mir geht?« antwortete Dolochow kühl. »Wie du siehst.«
Der flotte Gesang verstärkte gleichsam noch den Ton scheinbar ungezwungener Fröhlichkeit, in welchem Scherkow gefragt hatte, und ließ den Ton beabsichtigter Kälte, in welchem Dolochow geantwortet hatte, um so stärker abstechen.
»Nun, wie stehst du mit deinen Vorgesetzten?« fragte Scherkow weiter.
»Oh, ganz gut; es sind brave Leute. Wie hast du es denn zuwege gebracht, in den Stab zu kommen?«
»Ich bin dazu abkommandiert. Ich habe Dejourdienst.«
Beide schwiegen ein Weilchen.
»Und aus dem rechten Ärmel ließ
Sie ihren Falken fliegen«,
lautete in diesem Augenblick der Text des gesungenen Liedes, das unwillkürlich bei allen Hörern ein frisches, fröhliches Gefühl erweckte. Das Gespräch der beiden hätte wahrscheinlich einen anderen Charakter getragen, wenn sie nicht bei den Klängen des Liedes miteinander gesprochen hätten.
»Ist es wahr, daß die Österreicher geschlagen sind?« fragte Dolochow.
»Wissen tut es niemand; aber gesagt wird es.«
»Freut mich!« antwortete Dolochow kurz und deutlich, wie es wegen des Gesanges notwendig war.
»Wie ist's? Komm doch mal abends zu uns und spiele mit uns Pharo«, sagte Scherkow.
»Seid ihr denn jetzt so gut bei Gelde?«
»Komm nur hin.«
»Geht nicht. Habe es verschworen. Ich trinke nicht und spiele nicht, ehe ich nicht befördert bin.«
»Nun gut, dann müssen wir also bis zum ersten Gefecht warten.«
»Das wird sich dann zeigen.«
Wieder schwiegen sie beide.
»Wenn du irgendeinen Wunsch hast, dann wende dich nur an uns; wir beim Stab werden dir immer helfen«, sagte Scherkow.
Dolochow lächelte.
»Beunruhige dich darüber nicht. Was ich haben will, darum bitte ich nicht; das nehme ich mir selbst.«
»Gewiß, gewiß; ich meinte ja auch nur ...«
»Jawohl, und ich meinte auch nur.«
»Leb wohl!«
»Adieu.«
»Er aber flog hoch in der Luft
Zur Heimat hin, der fernen ...«
Scherkow gab seinem Pferd die Sporen. Dieses trat zuerst in der Erregung von einem Huf auf den andern, ohne zu wissen, mit welchem es ansetzen sollte; dann fand es sich zurecht und jagte, die Kompanie hinter sich lassend, gleichfalls im Takt des Gesanges der Kalesche nach.
III
Als Kutusow von der Truppenbesichtigung zurückgekehrt war, begab er sich, von dem österreichischen General begleitet, in sein Arbeitszimmer, rief seinen Adjutanten und beauftragte ihn, ihm gewisse Papiere, die sich auf den Zustand der eintreffenden Truppen bezogen, sowie die von dem Erzherzog Ferdinand, dem Befehlshaber der Vorhut, eingegangenen Brief zu bringen. Fürst Andrei Bolkonski trat mit den verlangten Schriftstücken in das Arbeitszimmer des Oberkommandierenden. Vor einer auf dem Tisch ausgebreiteten Landkarte saßen Kutusow und das österreichische Mitglied des Hofkriegsrates.
»Ah ...«, sagte Kutusow, indem er sich nach Bolkonski umwandte, wie wenn er durch diesen Laut den Adjutanten auffordern wollte, noch ein wenig zu warten, und fuhr in dem begonnenen, auf französisch geführten Gespräch fort.
»Ich möchte nur das eine bemerken, General«, sagte Kutusow mit jener vollendeten Eleganz der Ausdrucksweise und Betonung, welche den Hörer zwang, ein jedes der langsam gesprochenen Worte genau zu beachten (es war übrigens nicht zu verkennen, daß auch Kutusow selbst sich mit Vergnügen reden hörte), »ich möchte nur das eine bemerken, General, daß, wenn die Sache von meinem persönlichen Wunsch abhinge, der Wille Seiner Majestät des Kaisers Franz längst ausgeführt wäre. Ich hätte meine Truppen schon längst mit denen des Erzherzogs vereinigt. Und glauben Sie meinem Ehrenwort, daß es mir persönlich eine große Freude gewesen wäre, den Oberbefehl über die Armee einem erfahreneren und geschickteren General, als ich (und an solchen trefflichen Generalen ist Österreich ja so außerordentlich reich), zu übergeben und diese ganze schwere Verantwortung von meinen Schultern abzuwälzen. Aber die Verhältnisse sind leider mitunter stärker als wir, General.«
Kutusow lächelte mit einem Gesichtsausdruck, als ob er sagen wollte: »Sie sind berechtigt, mir nicht zu glauben, und es ist mir sogar ganz gleichgültig, ob Sie mir glauben oder nicht; aber Sie haben keine Möglichkeit, mir das zu sagen. Und gerade darauf kommt es an.«
Der österreichische General machte ein unzufriedenes Gesicht, sah sich aber genötigt, in ähnlich verbindlicher Form zu antworten, wie Kutusow gesprochen hatte.
»O nicht doch«, sagte er in mürrischem, ärgerlichem Ton, der zu dem schmeichelhaften Sinn der von ihm gebrauchten Redewendungen in schroffem Widerspruch stand, »o nicht doch, Seine Majestät legt den allergrößten Wert auf die Mitwirkung Eurer Exzellenz bei der gemeinsamen Sache; aber wir sind der Meinung, daß durch die gegenwärtige Verzögerung den ruhmreichen russischen Truppen und ihrem Oberkommandierenden die Lorbeeren entgehen werden, welche sie in den Schlachten zu ernten gewohnt sind.« So schloß er seine offenbar vorher zurechtgelegte Phrase.
Kutusow verbeugte sich, unverändert weiter lächelnd.
»Ich bin aber überzeugt«, sagte er, »und nehme aufgrund des letzten Briefes, mit dem Seine Kaiserliche Hoheit der Erzherzog Ferdinand mich beehrt hat, als sicher an, daß die österreichische Armee unter dem Kommando eines so geschickten Unterfeldherrn, wie General Mack, jetzt bereits einen entschiedenen Sieg errungen hat und unserer Unterstützung nicht mehr bedarf.«
Der österreichische General runzelte die Stirn. Obgleich positive Nachrichten über eine Niederlage der Österreicher noch nicht vorlagen, so waren doch zu viele Umstände vorhanden, durch welche die allgemein verbreiteten schlimmen Gerüchte bestätigt zu werden schienen; und daher klang Kutusows Annahme von einem Sieg der Österreicher sehr nach Spott. Aber Kutusow lächelte ruhig und freundlich, immer mit derselben Miene, die besagte, daß er zu seiner Annahme berechtigt sei. Und in der Tat meldete der letzte Brief, der ihm von Macks Armee zugegangen war, einen Sieg und berichtete von der strategisch überaus vorteilhaften Stellung der Armee.
»Reich mir doch einmal den Brief her«, sagte Kutusow, zu dem Fürsten Andrei gewendet. »Hier, bitte, sehen Sie selbst.«
Und mit einem spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln las Kutusow auf deutsch dem österreichischen General folgende Stelle aus dem Brief des Erzherzogs Ferdinand vor:
»Unsere Streitkräfte sind vollständig konzentriert, nahe an siebzigtausend Mann, um den Feind, wenn er den Lech passiert, angreifen und schlagen zu können. Wir können, da wir bereits Herren von Ulm sind, den Vorteil, auch Herren beider Donauufer zu sein, behaupten, können mithin auch jeden Augenblick, wenn der Feind den Lech nicht passiert, über die Donau gehen, uns auf seine Kommunikationslinie werfen, die Donau unterhalb nochmals überschreiten und, wenn der Feind vorhaben sollte, sich mit seiner ganzen Macht gegen unsere treuen Verbündeten zu wenden, diese Absicht alsbald vereiteln. Auf diese Weise werden wir mutig den Zeitpunkt abwarten, wo die Kaiserlich Russische Armee vollständig gerüstet sein wird, und dann gemeinschaftlich leicht die Möglichkeit finden, dem Feind das Schicksal zu bereiten, das er verdient.«
Kutusow stieß einen schweren Seufzer aus, als er diesen unbeholfenen Passus verlesen hatte, und blickte dem Mitglied des Hofkriegsrates aufmerksam und freundlich ins Gesicht.
»Aber Euer Exzellenz kennen die weise Regel, daß man gut tut, immer den schlimmeren Fall anzunehmen«, erwiderte der österreichische General, der augenscheinlich diesen Späßen ein Ende zu machen und zur Sache zu kommen wünschte.
Unwillkürlich sah er sich nach dem Adjutanten um.
»Entschuldigen Sie, General«, unterbrach ihn Kutusow und wandte sich ebenfalls zu dem Fürsten Andrei hin. »Hör mal, mein Lieber, laß dir doch von Koslowski alle Berichte unserer Kundschafter geben. Und hier sind zwei Briefe vom Grafen Nostitz, und da der Brief Seiner Kaiserlichen Hoheit des Erzherzogs Ferdinand; und dann noch dieses hier«, sagte er und reichte ihm eine Anzahl von Papieren. »Und aus dem allem stell doch ein recht sauberes französisches Memorandum zusammen, ein Exposé, das übersichtlich alle die Nachrichten enthält, die uns über die Operationen der österreichischen Armee zugegangen sind. Na ja, mach das so, und dann stelle es Seiner Exzellenz zu.«
Fürst Andrei machte eine Verbeugung mit dem Kopf, zum Zeichen, daß er von den ersten Worten an nicht nur das verstanden habe, was gesagt worden war, sondern auch das, was Kutusow ihm wohl gern gesagt hätte. Er nahm die Papiere zusammen, machte eine allgemeine Verbeugung und ging mit leisen Schritten über den Teppich in das Wartezimmer.
Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen war, seit Fürst Andrei Rußland verlassen hatte, war doch schon in seinem Wesen eine große Veränderung vorgegangen. In seinem Gesichtsausdruck, in seinen Bewegungen, in seinem Gang war von der früheren Manieriertheit, Müdigkeit und Schlaffheit so gut wie nichts mehr zu bemerken; er sah aus, als habe er keine Zeit, daran zu denken, was er auf andere für einen Eindruck mache, und sei vollständig mit angenehmen, interessanten Dingen beschäftigt. Man konnte ihm vom Gesicht ablesen, daß er mit sich und seiner Umgebung zufrieden war; sein Lächeln und sein Blick waren heiterer und ansprechender geworden.
Kutusow, den er noch in Polen eingeholt hatte, hatte ihn sehr freundlich aufgenommen, ihm versprochen, daß er ihn nicht vergessen werde, ihn vor den übrigen Adjutanten ausgezeichnet, mit nach Wien genommen und ihm einige Aufträge von ernsterer Bedeutung erteilt. Aus Wien hatte Kutusow an seinen alten Kameraden, den Vater des Fürsten Andrei, geschrieben:
»Ihr Sohn erweckt die begründete Hoffnung, daß er sich zu einem durch Kenntnisse, Energie und Pünktlichkeit ausgezeichneten Offizier entwickeln wird. Ich schätze mich glücklich, einen solchen Untergebenen um mich zu haben.«
Im Stab Kutusows, bei seinen näheren Kameraden und in der Armee überhaupt fand Fürst Andrei, gerade wie in den Petersburger gesellschaftlichen Kreisen, zwei voneinander stark verschiedene Beurteilungen. Die einen, und dies war die Minderzahl, waren der Ansicht, daß Fürst Andrei vor ihnen und vor allen anderen Menschen gewisse besondere Vorzüge besitze, erwarteten von ihm hervorragende Leistungen, hörten achtsam auf seine Äußerungen, waren von ihm entzückt und eiferten ihm nach; im Verkehr mit diesen benahm sich Fürst Andrei ungekünstelt und liebenswürdig. Die anderen, die Mehrzahl, mochten ihn nicht leiden und hielten ihn für einen hochmütigen, kalten, unangenehmen Menschen; aber auch mit diesen wußte Fürst Andrei sich so zu stellen, daß sie ihn respektierten und sogar fürchteten.
Als Fürst Andrei aus Kutusows Arbeitszimmer in das Wartezimmer trat, ging er mit den Papieren zu seinem Kameraden Koslowski, dem dejourierenden Adjutanten, hin, der mit einem Buch am Fenster saß.
»Nun, Fürst, was gibt es?« fragte Koslowski.
»Ich soll ein Exposé machen, warum wir nicht vorrücken.«
»Wozu?«
Fürst Andrei zuckte mit den Achseln.
»Sind keine Nachrichten von Mack da?« fragte Koslowski.
»Nein.«
»Wenn es wahr wäre, daß er geschlagen ist, so würde doch schon Nachricht hier sein.«
»Wahrscheinlich«, antwortete Fürst Andrei und ging auf die Ausgangstür zu.
Aber in diesem Augenblick kam, ihm entgegen, eilig jemand in das Wartezimmer herein und warf die Tür hinter sich geräuschvoll wieder zu; es war ein offenbar eben erst angelangter österreichischer General von hohem Wuchs, im Überrock, ein schwarzes Tuch als Binde um den Kopf, den Maria-Theresia-Orden am Hals. Fürst Andrei blieb stehen.
»Ist der General en chef Kutusow da?« fragte der Ankömmling hastig auf französisch mit scharfer deutscher Aussprache; er sah sich nach rechts und links um und ging, ohne sich weiter aufzuhalten, auf die Tür des Arbeitszimmers zu.
»Der General en chef ist beschäftigt«, sagte Koslowski, indem er rasch zu dem unbekannten General hintrat und ihm den Weg zur Tür versperrte. »Wen darf ich melden?«
Der unbekannte General sah den kleinen Koslowski geringschätzig von oben bis unten an, als ob er sich darüber wunderte, daß ihn jemand nicht kenne.
»Der General en chef ist beschäftigt«, sagte Koslowski noch einmal in ruhigem Ton. Der General runzelte die Stirn, seine Lippen zuckten und zitterten. Er zog ein Notizbuch hervor, schrieb darin rasch etwas mit Bleistift, riß das Blatt heraus, gab es dem Adjutanten hin, ging mit schnellen Schritten zum Fenster, ließ sich dort auf einen Stuhl niederfallen und blickte die im Zimmer Anwesenden an, wie wenn er fragen wollte: warum seht ihr mich so an? Dann hob der General den Kopf in die Höhe und reckte den Hals, als ob er etwas zu sagen beabsichtigte; aber im nächsten Augenblick brachte er, wie wenn er anfinge, gedankenlos vor sich hin zu singen, ein sonderbares Geräusch hervor, welches sofort wieder abbrach. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich, und Kutusow erschien auf der Schwelle. Der General mit dem verbundenen Kopf ging zu Kutusow in gebückter Haltung mit so großen, schnellen Schritten seiner hageren Beine hin, als ob er vor einer Gefahr flüchtete.
»Sie sehen den unglücklichen Mack vor sich«, sagte er auf französisch mit fast versagender Stimme.
Das Gesicht Kutusows, der in der Tür des Arbeitszimmers stand, blieb einige Augenblicke lang völlig starr. Dann lief gleichsam eine Art von Welle über sein Gesicht hin, bei der sich seine Stirn runzelte; aber seine Stirn glättete sich sofort wieder; er neigte respektvoll den Kopf, schloß einen Augenblick lang die Augen, ließ schweigend Mack an sich vorbeigehen und machte selbst hinter ihnen beiden die Tür zu.
Das schon vorher verbreitete Gerücht über eine Niederlage der Österreicher und über die Kapitulation ihrer ganzen Armee bei Ulm erwies sich als richtig. Eine halbe Stunde darauf wurden schon nach verschiedenen Richtungen Adjutanten mit Befehlen abgeschickt, aus denen hervorging, daß nun auch die russischen Truppen, die sich bis dahin untätig verhalten hatten, bald mit dem Feind zusammenstoßen sollten.
Fürst Andrei war einer der wenigen Stabsoffiziere, die ihr Hauptinteresse dem Gesamtgang der kriegerischen Operationen widmeten. Nachdem er Mack gesehen und die Einzelheiten seiner Katastrophe erfahren hatte, begriff er, daß der Feldzug schon zur Hälfte verloren war, erkannte die schwierige Lage der russischen Truppen in ihrem ganzen Umfang und stellte sich lebhaft vor, was dem Heer bevorstand und welche Rolle er selbst beim Heer werde zu spielen haben. Unwillkürlich empfand er ein Gefühl freudiger Aufregung bei dem Gedanken an die Beschämung, die dem allzu selbstbewußten Österreich zuteil geworden war, und bei der Aussicht, daß es ihm vielleicht in einer Woche beschieden sein werde, einen Zusammenstoß zwischen Russen und Franzosen, den ersten seit Suworow, mit anzusehen und selbst daran teilzunehmen. Aber er fürchtete das Genie Bonapartes, das sich vielleicht als stärker erweisen würde als alle Tapferkeit der russischen Truppen, und doch brachte er es auch wieder nicht übers Herz, seinem Helden eine schmähliche Niederlage zu wünschen.
Durch diese Gedanken in aufgeregte und gereizte Stimmung versetzt, wollte Fürst Andrei nach seinem Zimmer gehen, um an seinen Vater zu schreiben, dem er täglich einen Brief sandte. Auf dem Korridor traf er mit seinem Stubenkameraden Neswizki und dem Possenreißer Scherkow zusammen; wie immer, lachten die beiden über irgend etwas.
»Warum bist du denn so verdrießlich?« fragte Neswizki, als er bemerkte, wie blaß das Gesicht des Fürsten Andrei war und wie seine Augen funkelten.
»Zum Vergnügtsein haben wir keinen Anlaß«, erwiderte Bolkonski.
In demselben Augenblick, wo Fürst Andrei mit Neswizki und Scherkow zusammengetroffen war, kamen ihnen vom andern Ende des Korridors her zwei österreichische Generale entgegen: der General Strauch, der in Kutusows Hauptquartier stationiert war, um die Verpflegung der russischen Armee zu überwachen, und das am vorhergehenden Abend angekommene Mitglied des Hofkriegsrates. Auf dem breiten Korridor war Raum genug, daß die Generale bequem an den drei Offizieren vorbeikommen konnten; aber Scherkow stieß mit der Hand Neswizki zurück und rief wie atemlos:
»Sie kommen ...! Sie kommen ...! Treten Sie an die Seite, Platz! Bitte, Platz!«
Es war den Generalen anzusehen, daß sie auf die lästigen Ehrenbezeigungen gern verzichtet hätten; aber der Spaßmacher Scherkow verzog plötzlich sein Gesicht zu einem einfältigen Lächeln, als ob er sich vor Freude gar nicht halten könne.
»Euer Exzellenz«, sagte er auf deutsch, indem er vortrat und sich an denjenigen General wandte, der ihm der nächste war, »ich habe die Ehre zu gratulieren.«