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»Oh, oh, oh, oh ...! Laßt mich liegen, um Christi willen«, schrie dieser; aber sie hoben ihn dennoch auf und legten ihn auf die Bahre.
Nikolai Rostow wandte sich ab und blickte, wie wenn er etwas suchte, in die Ferne, nach dem Wasser der Donau, nach dem Himmel, nach der Sonne. Wie schön sah der Himmel aus, so blau, so ruhig und so tief! Wie hell und majestätisch die sinkende Sonne! Wie freundlich schimmerte und glänzte das Wasser der fernen Donau! Und noch schöner sahen jenseits der Donau die fernen, bläulichen Berge aus und das Kloster und die geheimnisvollen Schluchten und die bis zu den Wipfeln von Nebel umflossenen Fichtenwälder. So still alles, so glücklich ... »Nichts, nichts wollte ich weiter wünschen, wenn ich nur dort wäre«, dachte Rostow. »In meiner Seele und in diesem Sonnenschein wohnt so viel Glück; aber hier ist nichts als Stöhnen, Leiden, Furcht und diese Ungewißheit, dieses Hasten ... Da wird wieder etwas gerufen, und wieder laufen alle irgendwohin zurück, und ich laufe mit ihnen, und da, da ist er, der Tod, er schwebt über mir, um mich ... Ein Augenblick nur, und ich werde nie mehr diese Sonne und dieses Wasser und diese Schluchten sehen ...«
In diesem Augenblick verbarg sich die Sonne hinter dunklen Wolken; Rostow erblickte noch andere Bahren vor sich, die getragen wurden. Und die Furcht vor den Tragbahren und vor dem Tod, und die Liebe zur Sonne und zum Leben, alles floß zu einer einzigen schmerzlichen, beunruhigenden Empfindung zusammen.
»Herr Gott! Du, der du in diesem Himmel wohnst, rette mich und vergib mir und beschütze mich!« flüsterte Rostow vor sich hin.
Die Husaren waren zu ihren Pferden gelangt; die Stimmen wurden wieder lauter und ruhiger; die Tragbahren waren nicht mehr zu sehen.
»Nun, Bruder, hast du Pulver gerochen?« hörte Rostow dicht neben sich Waska Denisow schreien.
»Die Gefahr ist vorbei; aber ich bin ein Feigling, ja, ein Feigling!« dachte Rostow, nahm mit einem schweren Seufzer aus den Händen des Pferdehalters seinen »Raben« in Empfang, der den einen Fuß seitwärts gestellt hatte, und stieg auf.
»Was war denn das? Kartätschen?« fragte er Denisow.
»Und ganz gehörige!« rief Denisow. »Unsere Leute haben ihre Aufgabe wacker erledigt! Aber es war eine widerwärtige Aufgabe! Eine Attacke, das ist eine vergnügliche Sache; da kann man einhauen. Aber dies hier war eine verteufelte Geschichte; sie schossen ja nach uns wie nach der Scheibe.«
Damit trennte sich Denisow von Rostow und ritt auf eine nicht weit entfernt stehende Gruppe zu; es waren der Regimentskommandeur, Neswizki, Scherkow und der Offizier à la suite.
»Es scheint aber, daß es niemand gemerkt hat«, dachte Rostow mit Bezug auf sein Verhalten. Und wirklich war niemandem etwas aufgefallen, weil jedem das Gefühl bekannt war, das ein Junker durchmachen muß, wenn er zum erstenmal ins Feuer kommt.
»Na, nun werden wir aber mal einen Bericht über Sie machen«, sagte Scherkow. »Sie sollen sehen, es wird auch für mich etwas dabei abfallen, die Beförderung zum Sekondeleutnant.«
»Melden Sie dem Fürsten, daß ich die Brücke in Brand gesteckt habe«, sagte der Oberst in heiterem, feierlichem Ton.
»Und wenn nach den Verlusten gefragt wird?«
»Unbedeutend!« antwortete der Oberst mit seiner Baßstimme. »Zwei Husaren verwundet und einer zur Strecke gebracht«, sagte er mit sichtlicher Freude und außerstande, ein glückseliges Lächeln zu unterdrücken, während er die schöne Wendung »zur Strecke gebracht« klangvoll aussprach.
IX
Verfolgt durch eine französische Armee von hunderttausend Mann unter Bonapartes Kommando, mißgünstig aufgenommen von einer feindlich gesinnten Bevölkerung, ihren Verbündeten nicht mehr vertrauend, an Proviant Mangel leidend und genötigt, ohne alle Vorausberechnung, lediglich aufs Geratewohl zu operieren, zog sich die unter Kutusows Befehl stehende russische Armee in einer Stärke von fünfunddreißigtausend Mann eilig donauabwärts zurück; sooft der Feind sie einholte, machte sie halt und schlug ihn durch Nachhutgefechte nur so weit zurück, als notwendig war, um ohne den Verlust der Bagage weiterziehen zu können. Es fanden Gefechte bei Lambach, Amstetten und Melk statt; aber trotz der von dem Feind selbst anerkannten Tapferkeit und Standhaftigkeit, mit der sich die Russen schlugen, war die Folge dieser Kämpfe nur ein noch schnelleres Zurückweichen. Diejenigen österreichischen Heeresteile, die bei Ulm der Gefangennahme entgangen waren und sich bei Braunau mit Kutusow vereinigt hatten, trennten sich jetzt von dem russischen Heer, und Kutusow sah sich lediglich auf seine eigenen schwachen, erschöpften Truppen angewiesen. Wien noch weiter zu schützen, daran war überhaupt nicht mehr zu denken. Statt eines nach den Gesetzen der Strategie, dieser neuerfundenen Wissenschaft, tiefsinnig erdachten Angriffskrieges, zu welchem dem russischen Feldherrn während seines Aufenthaltes in Wien der Plan von dem österreichischen Hofkriegsrat eingehändigt worden war, statt dessen bestand jetzt das einzige, aber fast unerreichbare Ziel, das sich Kutusow setzte, darin, die Armee vor einem Schicksal, wie es die Macksche bei Ulm erlitten hatte, zu bewahren und sich mit den aus Rußland kommenden Truppen zu vereinigen.
Am 28. Oktober ging Kutusow mit dem Heer auf das linke Donauufer hinüber und machte, nachdem er die Donau zwischen sich und die Hauptstreitkräfte der Franzosen gebracht hatte, zum erstenmal Rast. Am 30. Oktober griff er die auf dem linken Donauufer befindliche Division Mortier an und brachte ihr eine völlige Niederlage bei. Bei diesem Kampf wurden zum erstenmal Trophäen erbeutet: eine Fahne, eine Anzahl von Geschützen und zwei feindliche Generale fielen den Russen in die Hände. Zum erstenmal nach einem zwei Wochen dauernden Rückzug waren die russischen Truppen stehengeblieben und hatten nach dem Kampf nicht nur das Schlachtfeld behauptet, sondern auch die Franzosen in die Flucht gejagt. Trotzdem die Truppen abgerissen, entkräftet und durch den Abgang der Nachzügler, Kranken, Verwundeten und Gefallenen auf ein Drittel ihrer ursprünglichen Stärke reduziert waren; trotzdem die Kranken und Verwundeten auf dem andern Donauufer hatten zurückgelassen werden müssen, mit einem Brief Kutusows, in dem sie der Humanität des Feindes empfohlen wurden; trotzdem in Krems die großen Hospitäler und die in Lazarette umgewandelten Privathäuser all die Kranken und Verwundeten nicht mehr fassen konnten: trotz alledem hob der Aufenthalt in Krems und der Sieg über Mortier den Mut der Truppen ganz bedeutend. In der gesamten Armee und im Hauptquartier waren die erfreulichsten, wiewohl unzutreffenden Gerüchte über die vermeintliche Annäherung großer Heeressäulen aus Rußland, über einen von den Österreichern errungenen Sieg und über den Rückzug des bestürzten Bonaparte verbreitet.
Fürst Andrei hatte sich während des Kampfes in der Umgebung des österreichischen Generals Schmidt befunden, der in diesem Treffen fiel. Dem Fürsten wurde das Pferd unter dem Leib verwundet, und er selbst erhielt einen leichten Streifschuß an der Hand. Zum Zeichen besonderer Gunst schickte ihn der Oberkommandierende mit der Nachricht von diesem Sieg an den österreichischen Hof, der sich nicht mehr in dem von den französischen Truppen bedrohten Wien, sondern in Brünn befand. Als Fürst Andrei in der Nacht nach dem Kampf, aufgeregt, aber nicht ermüdet (trotz seiner anscheinend nur schwachen Konstitution konnte er körperliche Anstrengungen weit besser ertragen als die stärksten Leute), mit dem Rapport Dochturows zu Kutusow nach Krems geritten war, wurde er noch in derselben Nacht als Kurier nach Brünn gesandt. Die Entsendung als Kurier gab, auch abgesehen von den augenblicklichen Auszeichnungen, eine gute Anwartschaft auf Beförderung.
Die Nacht war dunkel, obgleich die Sterne sichtbar waren; der Weg hob sich schwarz von dem weißen Schnee ab, der tags zuvor, am Tag des Treffens, gefallen war. Indem er bald die Erlebnisse des hinter ihm liegenden Kampfes noch einmal vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ, bald mit stillem Genuß sich den Eindruck ausmalte, den er durch die Siegesnachricht hervorbringen werde, in Erinnerung daran, mit welcher Freude ihn als den Überbringer dieser Nachricht der Oberkommandierende Kutusow und die Kameraden empfangen und wie herzlich sie von ihm Abschied genommen hatten – so jagte Fürst Andrei in einer leichten Postkutsche dahin. Es war ihm zumute wie jemandem, der auf ein Glück lange und sehnlich gewartet und nun endlich den Anfang desselben erreicht hat. Sobald er die Augen schloß, klangen ihm in den Ohren Gewehrknattern und Kanonendonner und flossen mit dem Rasseln der Räder und dem Gedanken an den Sieg zu einer einzigen Empfindung zusammen. Einigemal entstand in seinem Gehirn die Wahnvorstellung, die Russen seien in die Flucht geschlagen und er selbst getötet; aber dann erwachte er sofort mit einem Gefühl der Glückseligkeit, wie wenn er eben erst erführe, daß nichts davon geschehen sei und vielmehr die Franzosen geflohen seien. Von neuem rief er sich alle Einzelheiten des Sieges ins Gedächtnis zurück, und was für eine Ruhe und Mannhaftigkeit er selbst während des Kampfes bewiesen hatte; und beruhigt schlummerte er dann wieder ein ... Auf die dunkle Nacht mit dem sternbesäten Himmel folgte ein heller, heiterer Morgen. Der Schnee taute in der Sonne; die Pferde trabten schnell dahin, und gleichförmig zogen rechts und links immer neue, mannigfaltige Wälder, Felder und Dörfer vorüber.
Auf einer der Stationen überholte er eine Anzahl von Wagen mit russischen Verwundeten. Der russische Offizier, der den Transport leitete, hatte sich auf dem vordersten Wagen bequem ausgestreckt und schrie einem Soldaten unter groben Schimpfworten etwas zu. Auf langen Leiterwagen, die auf dem steinigen Weg entsetzlich stoßen mochten, lagen je sechs oder auch noch mehr Verwundete, mit blassen Gesichtern, nur notdürftig verbunden und mit Schmutz bedeckt. Einige von ihnen redeten miteinander (er hörte, daß sie russisch sprachen), andere aßen Brot; die Schwerverwundeten blickten mit schmerzlicher, ergebungsvoller Miene und mit einem kindlichen Inte resse zu dem vorbeijagenden Kurier hin.
Fürst Andrei ließ seinen Postillion anhalten und fragte einen der Verwundeten, in welchem Kampf sie verwundet worden seien.
»Vorgestern, an der Donau«, antwortete dieser. Fürst Andrei zog seine Börse heraus und gab ihm drei Goldstücke.
»Für alle«, bemerkte er, zu dem jetzt herantretenden Offizier gewendet. »Macht nur, daß ihr bald wieder gesund werdet, Kinder«, sagte er zu den Verwundeten. »Es gibt noch viel zu tun.«
»Nun, Herr Adjutant, was gibt es Neues?« fragte der Offizier, der augenscheinlich ein Gespräch anknüpfen wollte.
»Gute Nachrichten! Vorwärts!« rief er dem Postillion zu und jagte weiter.
Es war bereits ganz dunkel, als Fürst Andrei in Brünn einfuhr. Er sah sich von hohen Häusern umgeben; von den Laternen, den erleuchteten Kaufläden und den Fenstern der Häuser ging eine schöne Helligkeit aus; über das Pflaster rasselten elegante Equipagen: kurz, er befand sich auf einmal in dem Milieu einer großen, belebten Stadt, das für einen Kriegsmann nach dem Lagerleben immer einen ganz besonderen Reiz hat. Trotz der schnellen Fahrt und der schlaflos verbrachten Nacht fühlte Fürst Andrei, als er zum Schloß fuhr, sich noch frischer und munterer als tags zuvor. Nur seine Augen leuchteten in einem fieberhaften Glanz, und in seinem Kopf lösten die Gedanken, bei außerordentlicher Klarheit, einander mit großer Geschwindigkeit ab. Schnell traten ihm wieder alle Einzelheiten des Gefechts vor die Seele, nicht mehr in undeutlicher, sondern in bestimmter Form, in einer gedrängten Darstellung, die er in Gedanken dem Kaiser Franz vortrug. Schnell vergegenwärtigte er sich die Zwischenfragen, die an ihn gerichtet werden konnten, und die Antworten, die er darauf geben würde. Er nahm an, er werde sofort beim Kaiser vorgelassen werden. Aber an dem großen Portal des Schlosses kam ein Beamter zu ihm herausgelaufen, und als er in ihm einen Kurier erkannte, führte er ihn nach einem anderen Eingang.
»Vom Korridor, bitte, nach rechts; dort finden Euer Hochgeboren den diensttuenden Flügeladjutanten«, sagte der Beamte zu ihm. »Er wird Sie zum Kriegsminister führen.«
Der diensttuende Flügeladjutant, der den Fürsten Andrei empfing, bat ihn, einen Augenblick zu warten, und ging zum Kriegsminister. Nach fünf Minuten kehrte der Flügeladjutant zurück und führte ihn, sich mit besonderer Höflichkeit verbeugend und dem Fürsten Andrei den Vortritt lassend, über den Korridor nach dem Arbeitszimmer des Kriegsministers, wo dieser, wie der Adjutant sagte, anwesend und beschäftigt war. Es machte den Eindruck, als wolle der Flügeladjutant durch seine gesuchte Höflichkeit sich vor einem etwaigen Versuch unerwünschter Familiarität seitens des russischen Adjutanten schützen. Die freudige Stimmung des Fürsten Andrei hatte, als er zur Tür des Arbeitszimmers des Kriegsministers gelangte, eine erhebliche Abschwächung erfahren. Er fühlte sich gekränkt, und dieses Gefühl der Kränkung ging in demselben Augenblick, ohne daß er selbst sich dessen bewußt geworden wäre, in ein Gefühl der Geringschätzung über, das eigentlich keine rechte Begründung hatte. Jedoch zeigte ihm sein findiger Verstand in demselben Augenblick den Standpunkt, von welchem aus er ein Recht hatte, den Adjutanten und den Kriegsminister geringzuschätzen. »Diesen Herren, die kein Pulver zu riechen bekommen, erscheint es wohl als eine sehr leichte Sache, Siege davonzutragen!« dachte er. Er kniff die Augen geringschätzig zusammen und trat mit betonter Langsamkeit in das Zimmer des Kriegsministers hinein. Dieses Gefühl wurde noch stärker, als er den Kriegsminister sah, der an einem großen Tisch saß und während der ersten zwei Minuten den Eingetretenen nicht beachtete. Der Kriegsminister hielt seinen kahlen, an den Schläfen von grauem Haar bedeckten Kopf zwischen zwei Wachskerzen herabgebeugt und las irgendwelche Papiere, auf die er mit einem Bleistift Bemerkungen setzte. Als die Tür aufging und Schritte hörbar wurden, las er, ohne den Kopf in die Höhe zu heben, das betreffende Schriftstück erst zu Ende.
»Nehmen Sie dies, und geben Sie es ab«, sagte der Kriegsminister zu seinem Adjutanten, indem er ihm die Papiere hinreichte; dem Kurier schenkte er immer noch keine Beachtung.
Fürst Andrei sagte sich, entweder habe der Kriegsminister wirklich unter allen Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, gerade für die Operationen der Kutusowschen Armee das allergeringste Interesse, oder er halte für nötig, dies den russischen Kurier glauben zu machen. »Nun, mir kann's völlig einerlei sein«, dachte er. Der Kriegsminister schob die zurückgebliebenen Papiere zusammen, stieß sie mit den Kanten auf den Tisch, damit die Ränder genau übereinander zu liegen kämen, und hob den Kopf in die Höhe. Sein Gesicht ließ auf einen guten Verstand und einen festen Charakter schließen. Aber in demselben Augenblick, wo er sich zum Fürsten Andrei wandte, änderte sich dieser kluge, feste Gesichtsausdruck, und zwar offenbar gewohntermaßen und wissentlich; auf dem Gesicht des Kriegsministers blieb ein dummes, erheucheltes und aus seiner Heuchelei kein Hehl machendes Lächeln zurück, ein Lächeln, wie man es häufig bei Männern findet, welche viele Bittsteller einen nach dem andern zu empfangen haben.
»Von dem Generalfeldmarschall Kutusow?« fragte er. »Hoffentlich gute Nachrichten? Hat ein Zusammenstoß mit Mortier stattgefunden? Ein Sieg? Es war auch Zeit!«
Er nahm die Depesche, die an ihn adressiert war, und begann sie mit trüber Miene zu lesen.
»O mein Gott! Mein Gott! Schmidt!« sagte er auf deutsch. »Welch ein Unglück, welch ein Unglück!«
Nachdem er die Depesche durchflogen hatte, legte er sie auf den Tisch und blickte den Fürsten Andrei an; offenbar überlegte er etwas.
»Ach, welch ein Unglück! Der Sieg, sagen Sie, war ein zweifelloser? Mortier ist aber doch nicht gefangengenommen.« Er dachte nach. »Es freut mich sehr, daß Sie gute Nachrichten gebracht haben, wiewohl Schmidts Tod ein teurer Preis für den Sieg ist. Seine Majestät wird Sie wahrscheinlich zu sehen wünschen, aber nicht mehr heute. Ich danke Ihnen; erholen Sie sich. Finden Sie sich morgen nach der Parade zur Cour ein. Übrigens werde ich Sie noch näher benachrichtigen.«
Das dumme Lächeln, das während des Gesprächs verschwunden gewesen war, erschien wieder auf dem Gesicht des Kriegsministers.
»Auf Wiedersehen; ich bin Ihnen sehr dankbar. Seine Majestät der Kaiser wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Wunsch haben, Sie zu sehen«, sagte er noch einmal und machte mit dem Kopf eine Verbeugung.
Als Fürst Andrei aus dem Schloß heraustrat, fühlte er, daß er das ganze Gefühl freudiger Erregung, das der Sieg in ihm hervorgerufen hatte, gleichsam fortgegeben und in die Hände dieser kühlen, gleichgültigen Leute, des Kriegsministers und des höflichen Adjutanten, gelegt hatte. Seine gesamte Anschauungsweise hatte sich in dieser kurzen Zeit verändert: das Treffen erschien ihm wie ein längst vergangenes, für die Erinnerung weit zurückliegendes Ereignis.
X
Fürst Andrei stieg in Brünn bei dem russischen Diplomaten Bilibin ab, mit dem er bekannt war.
»Ah, lieber Fürst! Ein erwünschterer Gast konnte mir gar nicht kommen«, sagte Bilibin, der auf die Meldung von der Ankunft des Fürsten diesem entgegenkam. »Franz, bring das Gepäck des Fürsten in mein Schlafzimmer!« wandte er sich an den Diener, welcher Bolkonski hereingeführt hatte. »Nun, sind Sie ein Siegesherold? Wunderschön! Und ich sitze hier als Kranker, wie Sie sehen.«
Nachdem sich Fürst Andrei gewaschen und umgekleidet hatte, trat er in das luxuriös ausgestattete Arbeitszimmer des Diplomaten und setzte sich zu dem für ihn zubereiteten Diner nieder. Bilibin nahm gemächlich am Kamin Platz.
Nicht nur im Gegensatz zu seiner Reise, sondern auch im Gegensatz zu dem ganzen Feldzug, währenddessen er alle Bequemlichkeiten hatte entbehren müssen, welche Reinlichkeit und Komfort gewähren, empfand Fürst Andrei ein behagliches Gefühl der Erholung inmitten dieser luxuriösen Lebenseinrichtung, an die er von seiner Kindheit an gewöhnt war. Außerdem war es ihm nach dem Besuch bei den Österreichern angenehm, wenn auch nicht russisch (denn sie sprachen französisch), aber doch wenigstens mit einem Russen reden zu können, der, wie er voraussetzte, die allgemeine Abneigung der Russen gegen die Österreicher teilte, eine Abneigung, die Fürst Andrei gerade jetzt besonders lebhaft empfand.
Bilibin war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unverheiratet und derselben Gesellschaftssphäre angehörig wie Fürst Andrei. Sie waren schon in Petersburg miteinander bekannt gewesen, und diese Bekanntschaft war während des letzten Aufenthaltes des Fürsten Andrei in Wien, wo er mit Kutusow gewesen war, eine noch vertrautere geworden. Wie Fürst Andrei ein junger Mann war, der Aussicht hatte, eine gute militärische Karriere zu machen, so Bilibin im diplomatischen Fach, sogar noch mit größerer Sicherheit. Er war noch ein junger Mann, aber kein junger Diplomat mehr, da er schon im Alter von sechzehn Jahren in den Dienst getreten und bereits in Paris und in Kopenhagen tätig gewesen war. Jetzt nun hatte er in Wien einen recht wichtigen Posten inne. Sowohl der Kanzler als auch unser Gesandter in Wien kannten ihn genau und wußten ihn zu schätzen. Er gehörte nicht zu der großen Zahl derjenigen Diplomaten, die, um als sehr gute Diplomaten zu gelten, nur von gewissen Fehlern frei zu sein, gewisse Dinge zu unterlassen und französisch zu sprechen brauchen; er war einer von den Diplomaten, die zum Arbeiten Lust und Fähigkeit besitzen, und obwohl er eigentlich von Natur träge war, brachte er gar manche Nacht am Schreibtisch zu. Er arbeitete gleichmäßig gut, von welcher Art auch immer die Arbeit war. Ihn interessierte nicht die Frage »wozu?«, sondern die Frage, »wie?«. Um welche diplomatische Angelegenheit es sich handelte, war ihm ganz gleichgültig; aber ein Zirkular, ein Memorandum oder einen Bericht geschmackvoll, akkurat, elegant abzufassen, das machte ihm das größte Vergnügen. Abgesehen von solchen schriftlichen Arbeiten wurden Bilibins dienstliche Leistungen auch wegen seiner Geschicklichkeit, sich in den höchsten Sphären zu bewegen und mit den höchsten Persönlichkeiten zu sprechen, hoch bewertet.
Bilibin fand, wie an einer schriftlichen Arbeit, so auch an einem Gespräch nur dann Vergnügen, wenn das Gespräch elegant und geistreich war. In Gesellschaft wartete er stets eine Gelegenheit ab, wo es ihm möglich war, etwas Bemerkenswertes zu sagen, und beteiligte sich an dem Gespräch überhaupt nur unter solchen Umständen. Dem, was er sagte, pflegte er in Gestalt von eigenartigen, geistreichen, formvollendeten, allgemein interessierenden Aussprüchen beständig gleichsam besondere Lichter aufzusetzen. Diese Aussprüche präparierte Bilibin, wenn er sie in dem Laboratorium seines Geistes herstellte, absichtlich derart, daß sie die Eigenschaft leichter Faßlichkeit besaßen, damit schwach befähigte Mitglieder der vornehmen Gesellschaft sie bequem im Gedächtnis behalten und von einem Salon zum andern weitertragen könnten. Und wirklich wurden »Bilibins Geistesblitze« in den Wiener Salons viel kolportiert und hatten häufig Einfluß auf sogenannte »Angelegenheiten von hoher Wichtigkeit«.
Sein mageres, ausgemergeltes, gelbliches Gesicht war ganz von großen Falten überzogen, die immer so sauber und reingewaschen aussahen wie die Fingerspitzen nach einem Bad. Sein Mienenspiel bestand fast nur in den Bewegungen dieser Falten. Bald bedeckte sich seine Stirn mit breiten Runzeln, und die Augenbrauen zogen sich in die Höhe; bald zogen sich die Augenbrauen nach unten, und es bildeten sich große Falten auf den Backen. Seine kleinen, tiefliegenden Augen blickten immer geradeaus und hatten einen heiteren Ausdruck.
»Na, nun erzählen Sie uns von Ihren Großtaten«, sagte er.
Bolkonski berichtete in der bescheidensten Weise, ohne auch nur ein einziges Mal seine eigene Person zu erwähnen, von dem Gang des Treffens und von seinem Empfang beim Kriegsminister.
»Sie haben mich mit meiner Nachricht aufgenommen wie einen Hund, der auf die Kegelbahn gerät«, schloß er mit einer französischen Redewendung.
Bilibin lächelte, wobei sich seine Hautfalten auseinanderzogen.
»Aber, mein Lieber«, sagte er, indem er von weitem seine Fingernägel betrachtete und die Haut über dem linken Auge zusammenzog, »trotz aller Hochachtung, die ich vor dem rechtgläubigen russischen Kriegsheer habe, muß ich doch gestehen, daß euer Sieg keiner von den glänzendsten ist.«
Wie bisher, so sprach er auch weiter französisch und schob nur dann russische Worte ein, wenn er einem Begriff eine geringschätzige Färbung verleihen wollte.
»Wie? Ihr mit eurer ganzen Truppenmacht seid über den unglücklichen Mortier mit seiner einen Division hergefallen, und dieser Mortier ist euch dann doch aus den Händen entschlüpft? Wie kann man das einen Sieg nennen?«
»Aber, um ernsthaft zu reden«, entgegnete Fürst Andrei, »wir können doch ohne Prahlerei sagen, daß dies etwas besser gewesen ist als Ulm ...«
»Warum habt ihr uns nicht einen, wenigstens einen einzigen Marschall gefangen?«
»Weil sich nicht alles so ausführen läßt, wie man es sich wohl vornimmt, und es im Kampf nicht so regelrecht zugeht wie auf der Parade. Wie ich Ihnen schon sagte, nahmen wir an, wir würden dem Feind um sieben Uhr morgens in den Rücken fallen können, und waren um fünf Uhr nachmittags noch nicht so weit gekommen.«
»Aber warum, warum seid ihr um sieben Uhr morgens nicht so weit gekommen? Ihr mußtet eben um sieben Uhr morgens da sein«, sagte Bilibin lächelnd. »Ihr mußtet um sieben Uhr morgens so weit kommen.«
»Warum habt ihr denn nicht Bonaparte auf diplomatischem Weg zu der Überzeugung gebracht, daß es für ihn das beste sei, Genua aufzugeben?« erwiderte Fürst Andrei in demselben Ton.
»Ich weiß«, unterbrach ihn Bilibin, »Sie meinen, es sei sehr leicht, Marschälle gefangenzunehmen, wenn man auf dem Sofa am Kamin sitzt. Das ist ja richtig; aber dennoch: warum habt ihr ihn nicht gefangengenommen? Da wundert euch nicht, wenn weder der Kriegsminister noch auch der Allerhöchste Kaiser und König Franz über euren Sieg sonderlich glücklich ist; ja auch ich, ein unglücklicher Sekretär der russischen Gesandtschaft, verspüre keinen Drang in mir, meinem Franz als Ausdruck meiner Freude einen Taler zu schenken und ihn mit seinem Liebchen nach dem Prater gehen zu lassen ... Ach so, hier ist ja kein Prater.«