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Infolge dieses furchtbaren Lärmes und Getöses und der Notwendigkeit, aufzupassen und tätig zu sein, verspürte Tuschin nicht das geringste unangenehme Gefühl von Furcht, und der Gedanke, daß er getötet oder schwer verwundet werden könne, kam ihm gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil, es wurde ihm immer fröhlicher zumute. Der Augenblick, wo er den Feind zuerst gesehen und den ersten Schuß abgefeuert hatte, schien ihm schon weit zurückzuliegen, beinah als ob es gestern gewesen wäre, und das Stückchen Feld, auf dem er hier postiert war, kam ihm wie ein längst bekannter, vertrauter Platz vor. Obgleich er an alles Nötige dachte, alles richtig erwog und alles tat, was nur der beste Offizier in seiner Lage tun konnte, befand er sich doch in einem Zustand, der mit dem eines Fieberkranken oder Berauschten Ähnlichkeit hatte.
Aus dem betäubenden Donner seiner Geschütze, der bald rechts, bald links von ihm erscholl, aus dem Pfeifen und Einschlagen der feindlichen Geschosse, aus dem Anblick seiner Mannschaft, die mit geröteten, schweißbedeckten Gesichtern hastig an den Geschützen hantierte, aus dem Anblick des Blutes der Menschen und der Pferde, aus dem Anblick der Rauchwölkchen bei der Batterie des drüben stehenden Feindes (nach deren Erscheinen jedesmal eine Kugel herübergeflogen kam und entweder sich in den Erdboden einbohrte oder einen Menschen, ein Geschütz oder ein Pferd traf), aus alledem hatte er sich in seinem Kopf eine Art von Phantasiewelt zurechtgemacht, an der er in dieser Zeit seine Freude hatte. Die feindlichen Kanonen waren in seiner Phantasie nicht Kanonen, sondern Tabakspfeifen, aus denen ein unsichtbarer Raucher in einzelnen Wölkchen den Rauch in die Luft gehen ließ.
»Sieh mal, da hat er wieder einen Zug getan«, flüsterte Tuschin vor sich hin, als von dem gegenüberliegenden Berg ein Rauchwölkchen aufstieg und durch den Wind in Form eines Streifens nach links getrieben wurde. »Jetzt haben wir so einen kleinen Ball zu erwarten und müssen auch einen zurückwerfen.«
»Was befehlen Euer Wohlgeboren?« fragte der Feuerwerker, der neben ihm stand und hörte, daß er etwas murmelte.
»Ach, nichts Besonderes; nimm eine Granate ...«, antwortete er.
»Na, nun kommt unsere Matwjewna heran«, sagte er vor sich hin. Matwjewna hatte er in seiner Phantasie eine große Kanone von altmodischem Guß getauft, die an dem einen Ende der Batterie stand. Die Franzosen bei ihren Geschützen erschienen ihm als Ameisen. Der Kanonier Nummer Eins beim zweiten Geschütz, ein hübscher Bursche und arger Trunkenbold, hieß in Tuschins Welt »der Onkel«; Tuschin blickte nach ihm häufiger hin als nach den andern Leuten und freute sich über jede seiner Bewegungen. Der Klang des bald ersterbenden, bald wieder stärker werdenden Gewehrfeuers am Fuß des Berges erschien ihm wie das Atmen eines Menschen, und er horchte darauf, wie diese Töne leiser wurden und wieder anschwollen.
»Sieh mal an, jetzt atmet er wieder kräftig, recht kräftig!« sagte er vor sich hin.
Er selbst kam sich wie ein starker Riese vor, der den Franzosen mit beiden Händen Kanonenkugeln zuschleuderte.
»Nun, Matwjewna, Mütterchen, laß es nicht an dir fehlen!« sagte er, von dem Geschütz zurücktretend, als dicht über ihm eine fremde, ihm unbekannte Stimme erscholl:
»Hauptmann Tuschin! Hauptmann!«
Erschrocken sah Tuschin sich um. Es war derselbe Stabsoffizier, der ihn in Grund aus dem Marketenderzelt herausgejagt hatte. Dieser schrie ihm atemlos zu:
»Was machen Sie denn? Haben Sie den Verstand verloren? Zweimal ist Ihnen befohlen worden, sich zurückzuziehen, aber Sie ...«
»Na, warum schilt der mich denn?« dachte Tuschin und sah den Vorgesetzten ängstlich an.
»Ich ... ich habe nichts ...«, stotterte er, indem er zwei Finger an den Mützenschirm hielt. »Ich ...«
Der Oberst wollte noch etwas sagen, kam aber nicht dazu, es auszusprechen. Eine in nächster Nähe vorbeifliegende Kanonenkugel veranlaßte ihn, sich zu ducken und auf das Pferd hinabzubiegen. Er schwieg und wollte gerade von neuem ansetzen, als noch eine Kugel ihn einhalten ließ. Er wandte sein Pferd um und jagte davon.
»Zurückgehen! Alle zurückgehen!« rief er von weitem.
Die Soldaten lachten laut auf. Eine Minute darauf kam ein Adjutant mit demselben Befehl angesprengt.
Dies war Fürst Andrei. Das erste, was er erblickte, als er auf das Plateau geritten kam, auf welchem Tuschins Kanonen standen, war ein ausgespanntes Pferd mit durchschossenem Bein, das neben den angespannten Pferden wieherte. Aus seinem Bein floß das Blut wie aus einer Quelle. Zwischen den Protzwagen lagen mehrere Tote. Während er heranritt, flog eine Kanonenkugel nach der andern über ihm vorbei, und er fühlte, wie ihm ein nervöses Zittern den Rücken entlanglief. Aber der bloße Gedanke, daß er ja Furcht habe, genügte, um seinen Mut wiederzubeleben. »Ich, ein Mann wie ich, darf keine Furcht haben«, sagte er sich und stieg zwischen den Geschützen langsam vom Pferd. Er überbrachte den Befehl, ritt aber dann nicht von der Batterie weg. Er hatte den Entschluß gefaßt, persönlich zuzusehen, wie die Geschütze ihre Stellung verließen und sich zurückzogen. Mit Tuschin zusammen trat er über die Leichen hinweg und ließ unter dem furchtbaren Feuer der Franzosen die Geschütze zum Rückzug fertigmachen.
»Eben war schon ein andrer Offizier hier«, sagte der Feuerwerker zum Fürsten Andrei. »Aber der hat sich schnell wieder davongemacht; nicht so wie Euer Wohlgeboren.«
Fürst Andrei redete nicht mit Tuschin. Sie waren beide so beschäftigt, daß sie einander gar nicht zu sehen schienen. Die beiden Geschütze, die von den vieren noch heil geblieben waren, wurden aufgeprotzt (eine Kanone und eine Haubitze, beide zerschossen, wurden zurückgelassen), und als sie sich bergab in Bewegung setzten, ritt Fürst Andrei zu Tuschin heran.
»Nun, also auf Wiedersehen!« sagte er und streckte dem Hauptmann die Hand hin.
»Auf Wiedersehen, bester Herr«, sagte Tuschin. »Sie liebe Seele! Leben Sie wohl, bester Herr!« Die Tränen traten ihm plötzlich in die Augen, er wußte selbst nicht recht warum.
XXI
Der Wind hatte sich gelegt; schwarze Wolken hingen tief auf das Schlachtfeld herab und verschwammen am Horizont mit dem Pulverrauch. Es war dunkel geworden, und um so deutlicher hob sich an zwei Stellen der rote Schein von Feuersbrünsten ab. Das Geschützfeuer war schwächer geworden; aber das Knattern des Kleingewehrs war hinten und rechts noch häufiger und näher zu hören. Kaum war Tuschin mit seinen Geschützen, um die am Boden liegenden Verwundeten herumfahrend, mitunter auch an sie anstoßend, aus dem Schußbereich hinausgelangt und in die Schlucht hinabgefahren, als ihm eine Anzahl von höheren Offizieren und Adjutanten begegnete, darunter auch der Stabsoffizier und Scherkow, welcher letztere zweimal nach Tuschins Batterie hingeschickt, aber nie bis zu ihr hingelangt war. Alle diese Herren, von denen immer einer dem andern ins Wort fiel, überbrachten ihm Befehle und gaben ihm eigene, wie und wohin er fahren sollte, machten ihm Vorwürfe und erteilten ihm Verweise. Tuschin traf gar keine Anordnungen mehr und ritt schweigend auf seinem Artilleriegaul hinter seinen Geschützen her; er fürchtete sich, zu sprechen, weil er bei jedem Wort nahe daran war, loszuweinen, er wußte selbst nicht weshalb. Obgleich Befehl gegeben war, die Verwundeten sich selbst zu überlassen, schleppten sich dennoch viele von ihnen hinter den Truppen her und baten um ein Plätzchen auf den Geschützen. Jener frische, stramme Infanterieoffizier, der vor dem Kampf aus Tuschins Hütte herausgestürzt war, war mit einer Kugel im Unterleib auf die Lafette der Matwjewna gelegt worden. Am Fuß des Berges trat ein blasser Husarenjunker, der seinen einen Arm mit dem andern festhielt, an Tuschin heran und bat um die Erlaubnis, aufzusteigen.
»Hauptmann, ich bitte Sie um Gottes willen, ich habe eine Kontusion am Arm«, sagte er schüchtern. »Um Gottes willen, ich kann nicht weitergehen. Um Gottes willen!«
Es war deutlich, daß dieser Junker schon zu wiederholten Malen um die Erlaubnis aufzusteigen gebeten und überall abschlägige Antworten erhalten hatte. Er bat mit unsicherer, kläglicher Stimme.
»Befehlen Sie, daß die Leute mich aufsteigen lassen, um Gottes willen.«
»Laßt ihn aufsteigen, laßt ihn aufsteigen«, sagte Tuschin. »Leg ihm einen Mantel unter, Onkel«, wandte er sich an den Soldaten, dem er besonders gewogen war. »Aber wo ist denn der verwundete Offizier geblieben?«
»Den haben wir heruntergenommen; er war gestorben«, antwortete einer der Leute.
»Laßt ihn aufsteigen. Setzen Sie sich hin, lieber Freund, setzen Sie sich hin. Breite ihm einen Mantel unter, Antonow.«
Der Junker war Rostow. Er hielt den einen Arm mit dem andern fest, war ganz blaß im Gesicht, und sein Unterkiefer bebte in einem Anfall von Schüttelfieber. Es wurde ihm ein Platz auf der Matwjewna angewiesen, auf eben dem Geschütz, von welchem der tote Offizier heruntergenommen worden war. An dem untergelegten Mantel war Blut, wovon Rostows Hosen und Hände befleckt wurden.
»Wie ist das? Sind Sie verwundet, mein Lieber?« fragte Tuschin, indem er an das Geschütz herankam, auf dem Rostow saß.
»Nein, ich habe eine Kontusion.«
»Woher rührt denn das Blut an der Lafettenwand?« fragte Tuschin.
»Das ist von dem Offizier, Euer Wohlgeboren«, antwortete ein Artillerist, als ob er sich wegen des unsauberen Zustandes, in welchem sich das Geschütz befand, entschuldigen wollte, und wischte das Blut mit dem Mantelärmel weg.
Nur mit Mühe und unter Beihilfe der Infanterie brachten sie die Geschütze auf die Anhöhe hinauf und machten, als sie das Dorf Guntersdorf erreicht hatten, halt. Es war schon so dunkel geworden, daß man die Uniformen der Soldaten auf zehn Schritt nicht mehr unterscheiden konnte. Das Gewehrfeuer verstummte allmählich. Plötzlich ertönte aus der Nähe, von rechts her, wieder Geschrei und Schießen. Die Schüsse blitzten jetzt schon in der Dunkelheit. Es war dies der letzte Angriff der Franzosen, und die Soldaten, die in den Häusern des Dorfes lagerten, antworteten darauf. Wieder stürzte alles aus dem Dorf heraus; Tuschins Geschütze aber konnten nicht vom Fleck, und die Artilleristen, Tuschin und der Junker blickten sich untereinander schweigend an und erwarteten ihr Schicksal. Indessen beruhigte sich das Schießen wieder, und aus einer Seitenstraße strömte eine Anzahl von Soldaten heraus, die in lebhaftem Gespräch begriffen waren.
»Bist du heil geblieben, Petrow?« fragte einer.
»Wir haben es ihnen gehörig gegeben, Bruder; jetzt werden sie sich nicht wieder herantrauen!« sagte ein andrer.
»Man konnte gar nicht mehr sehen. Wie die auf ihre eigenen Leute losgepfeffert haben! Gar nichts war zu sehen; alles war dunkel, Bruder. Habt ihr nicht etwas zum Trinken?«
Die Franzosen waren zum letztenmal zurückgeschlagen. In vollständiger Finsternis bewegten sich Tuschins Geschütze wieder vorwärts, von der lärmenden Infanterie dicht umgeben; wohin es ging, wußte der Hauptmann nicht.
Es war, als wälzte sich da im Dunkeln ein unsichtbarer, finsterer Strom dahin, immer in derselben Richtung, ein Strom, in welchem laute und leise Menschenstimmen und das Geräusch der Hufe und Räder sich zu einem dumpfen Brausen vereinigten. In dem allgemeinen Getöse hob sich aus allen andern Lauten am deutlichsten das Stöhnen und Schreien der Verwundeten in der nächtlichen Finsternis ab. Ihr Stöhnen schien diese ganze Finsternis, welche die Truppen umgab, zu erfüllen; ihr Stöhnen und die Finsternis dieser Nacht, das war gleichsam ein und dasselbe. Nach einiger Zeit entstand in der sich dahinwälzenden Menschenschar eine gewisse Aufregung. Es ritt jemand, von einer Suite begleitet, auf einem Schimmel vorbei und sagte etwas im Vorbeireiten.
»Was hat er gesagt? Wohin gehen wir jetzt? Wir sollen wohl haltmachen? Er hat uns wohl gedankt?« fragten die Soldaten auf allen Seiten eifrig, und die ganze in Bewegung befindliche Menschenmasse drängte sich in sich selbst zusammen (offenbar waren die vordersten stehengeblieben), und es verbreitete sich das Gerücht, es sei Befehl gegeben, haltzumachen. Alle blieben stehen, wo sie gerade gingen, mitten auf der schmutzigen Straße.
Es wurden Feuer angezündet, und die Gespräche wurden lauter. Nachdem Hauptmann Tuschin für seine Mannschaft das Erforderliche angeordnet hatte, schickte er einen seiner Leute aus, um für den Junker einen Verbandsplatz oder einen Arzt zu suchen, und setzte sich an ein Feuer, das die Soldaten auf der Straße angemacht hatten. Rostow schleppte sich gleichfalls zu dem Feuer hin. Schmerz, Kälte und Nässe hatten ihn in einen solchen Fieberzustand versetzt, daß sein ganzer Körper zitterte. Eine furchtbare Müdigkeit hatte ihn überkommen; aber doch konnte er vor schrecklichen Schmerzen in dem beschädigten Arm, welcher keine passende Lage fand, nicht einschlafen. Bald schloß er die Augen, bald sah er in das Feuer, das ihm glühend rot vorkam, bald blickte er nach der gebückten, dürftigen Gestalt Tuschins hin, der mit untergeschlagenen Beinen neben ihm saß. Tuschins große, gute, kluge Augen waren teilnahmsvoll und mitleidig auf ihn gerichtet. Rostow sah, daß Tuschin von ganzem Herzen ihm zu helfen wünschte, aber keine Möglichkeit dazu hatte.
Von allen Seiten hörte man die Schritte und das Reden vorübergehender und vorüberreitender Soldaten und der ringsherum lagernden Infanterie. Die Töne der Stimmen, der Schritte und der im Schmutz umhertretenden Pferdehufe und das nahe und ferne Prasseln des brennenden Holzes: alles floß zu einem einzigen wogenden Getöse zusammen.
Jetzt floß nicht mehr, wie vorher, in der Finsternis ein unsichtbarer Strom dahin, sondern hier war gleichsam ein finsteres Meer, das nach dem Sturm noch wallte und nun allmählich wieder zur Ruhe kam. Rostow sah und hörte gedankenlos, was vor ihm und um ihn herum vorging. Ein Infanterist trat zum Feuer, kauerte sich daneben nieder, hielt die Hände nach dem Feuer hin und wandte das Gesicht ab.
»Ist es erlaubt, Euer Wohlgeboren?« sagte er, indem er sich fragend an Tuschin wandte. »Ich habe meine Kompanie verloren, Euer Wohlgeboren; ich weiß gar nicht, wo sie ist. Eine dumme Geschichte!«
Gleichzeitig mit dem Soldaten war ein Infanterieoffizier mit verbundener Wange an das Feuer getreten; er bat Tuschin, die Geschütze ein klein wenig beiseite rücken zu lassen, damit er mit einem Bagagewagen vorbei könne. Nach diesem Kompaniechef kamen zwei Soldaten zum Feuer gelaufen. Sie schimpften einander grimmig und prügelten sich, indem einer dem andern einen Stiefel zu entreißen suchte.
»Natürlich! Von der Erde hast du ihn aufgehoben! Sieh, wie schlau!« schrie der eine mit heiserer Stimme.
Dann trat ein hagerer, blasser Soldat heran, den Hals mit einem blutigen Fußlappen verbunden, und verlangte in zornigem Ton von den Artilleristen Wasser.
»Was denkt ihr? Soll ich etwa krepieren wie ein Hund?« sagte er.
Tuschin befahl, ihm Wasser zu geben. Darauf kam ein lustiger Soldat herbeigelaufen, der um ein Feuerscheit für die Infanterie bat.
»Bitte um ein hübsch brennendes Feuerscheit für die Infanterie! Gott gebe auch alles Gute, liebe Landsleute! Wir danken auch schön für das Feuer, wir werden es euch mit Zinsen zurückerstatten«, sagte er und trug das rotbrennende Scheit irgendwohin weg in die Dunkelheit.
Nach diesem Soldaten gingen vier Soldaten am Feuer vorbei, die etwas Schweres auf einem Mantel trugen. Einer von ihnen stolperte.
»Na, so was! Mitten auf den Weg haben die verfluchten Kerle Holz hingeworfen«, brummte er.
»Er ist gestorben; wozu sollen wir ihn noch tragen?« sagte ein zweiter.
»Na wartet, ich werde euch ...«
Und sie verschwanden mit ihrer Last in der Dunkelheit.
»Nun? Tut es weh?« fragte Tuschin flüsternd den Junker Rostow.
»Ja.«
»Euer Wohlgeboren möchten zum General kommen. Der Herr General hat hier in dem Bauernhaus Quartier genommen«, sagte, zu Tuschin herantretend, der Feuerwerker.
»Gleich, lieber Freund.«
Tuschin stand auf, knöpfte sich den Mantel zu und ging, sich unterwegs das Haar zurechtstreichend, von dem Feuer weg.
Nicht weit von dem Feuer der Artilleristen saß in einer für ihn hergerichteten Stube eines Bauernhauses Fürst Bagration beim Mittagessen, im Gespräch mit mehreren ihm unterstellten Kommandeuren, die sich bei ihm versammelt hatten. Da war jener alte Mann mit den halbgeschlossenen Augen, der gierig an einem Hammelknochen nagte; da war jener General, der zweiundzwanzig Jahre lang tadellos gedient hatte; von einem Gläschen Schnaps und dem Essen hatte er einen ganz roten Kopf bekommen; da war der Stabsoffizier mit dem Brillantring, und Scherkow, dessen Augen unruhig bei allen Anwesenden umhergingen, und Fürst Andrei, blaß, mit zusammengepreßten Lippen und fieberhaft glänzenden Augen.
In der Stube stand, in eine Ecke gelehnt, eine erbeutete französische Fahne; der Auditeur mit dem naiven Gesicht betastete das Gewebe der Fahne und schüttelte, wie verwundert, den Kopf, vielleicht weil er sich wirklich für das Aussehen der Fahne interessierte, vielleicht auch weil es ihm peinlich war, hungrig einem Essen zuzusehen, bei welchem für ihn kein Gedeck vorhanden war. In der anstoßenden Stube befand sich ein von den Dragonern gefangengenommener französischer Oberst. Viele von unseren Offizieren drängten sich um ihn und betrachteten ihn. Fürst Bagration sprach den einzelnen Kommandeuren seinen Dank aus und erkundigte sich nach den Einzelheiten des Kampfes und nach den Verlusten. Jener Regimentskommandeur, der bei Braunau die Besichtigung durchgemacht hatte, berichtete dem Fürsten, er habe sich gleich bei Beginn des Kampfes aus dem Wald zurückgezogen, die Holzfäller gesammelt, sie nach hinten an sich vorbeipassieren lassen, mit zwei Bataillonen einen Bajonettangriff gemacht und die Franzosen zurückgeschlagen.
»Als ich dann sah, Euer Durchlaucht, daß das erste Bataillon stark gelitten hatte, da stellte ich mich am Weg hin und dachte: ›Ich will diese nach hinten zurücknehmen und dem Feind mit einem Dauerfeuer entgegentreten.‹ Und so habe ich es denn auch gemacht.«
Der Regimentskommandeur wünschte so lebhaft, dies getan zu haben, und bedauerte so tief, nicht imstande gewesen zu sein es zu tun, daß er sich einbildete, es sei alles genau so zugegangen. Und vielleicht war es sogar tatsächlich so gewesen? Hatte man etwa in diesem Wirrwarr erkennen können, was geschah und was nicht geschah?
»Dabei muß ich noch bemerken, Euer Durchlaucht«, fuhr er fort, da ihm Dolochows Gespräch mit Kutusow und seine eigene letzte Begegnung mit dem Degradierten einfielen, »daß der zum Gemeinen degradierte Dolochow vor meinen Augen einen französischen Offizier gefangengenommen und sich besonders ausgezeichnet hat.«
»Auf diesem Flügel, Euer Durchlaucht, habe ich die Attacke der Pawlograder mit angesehen«, mischte sich hier, unruhig umherblickend, Scherkow in das Gespräch, der an diesem Tag überhaupt keinen Husaren gesehen, sondern nur aus dem Mund eines Infanterieoffiziers von ihnen gehört hatte. »Sie haben zwei Karrees niedergeritten, Euer Durchlaucht.«
Bei Scherkows Worten lächelten manche, da sie, wie stets, von ihm einen Witz erwarteten; aber als sie merkten, daß das, was er sagte, ebenfalls auf den Ruhm unserer Waffen und des heutigen Tages abzielte, nahmen sie wieder eine ernste Miene an, obgleich viele von ihnen recht wohl wußten, daß das, was Scherkow sagte, eine Lüge ohne jeden tatsächlichen Untergrund war. Fürst Bagration wandte sich zu dem alten Regimentskommandeur.
»Ich danke Ihnen allen, meine Herren; alle Truppenteile haben heldenhaft gekämpft: die Infanterie, die Kavallerie und die Artillerie. Wie ist es aber zugegangen, daß im Zentrum zwei Geschütze zurückgelassen sind?« fragte er, indem er nach jemanden mit den Augen suchte. (Nach den Geschützen des linken Flügels erkundigte sich Fürst Bagration nicht; er wußte bereits, daß dort gleich zu Anfang des Kampfes alle Kanonen im Stich gelassen worden waren.) »Ich meine, ich hatte Sie gebeten, den Rückzug der Batterie zu veranlassen«, wandte er sich an den Stabsoffizier du jour.
»Das eine war zerschossen«, antwortete der Stabsoffizier du jour; »was das andere anlangt, so ist es mir unverständlich; ich bin selbst die ganze Zeit über dagewesen, habe das Erforderliche angeordnet und bin eben erst zurückgekommen ... Es ging dort in der Tat heiß her«, fügte er bescheiden hinzu.
Einer der Offiziere sagte, Hauptmann Tuschin befinde sich hier in ebendiesem Dorf, und es sei schon nach ihm geschickt worden.
»Sie sind ja auch dort gewesen«, sagte Fürst Bagration, sich an den Fürsten Andrei wendend.
»Gewiß, wir waren ja eine Weile gleichzeitig da«, sagte der Stabsoffizier du jour und lächelte dem Fürsten Andrei freundlich zu.
»Ich habe nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen«, erwiderte Fürst Andrei kurz und kalt.
Alle schwiegen. Auf der Schwelle erschien Tuschin, der schüchtern hinter dem Rücken der Generale herum einen Weg suchte. Als er in dem engen Zimmer um die Generale herumging, beachtete er, verlegen wie immer in Gegenwart von Vorgesetzten, die Fahnenstange nicht und stolperte darüber. Manche lachten laut.
»Wie ist es zugegangen, daß die Geschütze zurückgelassen wurden?« fragte Bagration und machte ein finsteres Gesicht, nicht sowohl wegen des Hauptmanns als wegen der Lacher; am lautesten von allen war unter diesen Scherkows Stimme zu hören gewesen.
Erst jetzt, beim Anblick des strengen Vorgesetzten, trat dem Hauptmann Tuschin seine Schuld und Schande in ihrem ganzen Umfang vor die Seele: daß er zwei Geschütze verloren hatte und selbst am Leben geblieben war. Er war fortwährend in einer solchen Aufregung gewesen, daß er bis zu diesem Augenblick noch keine Zeit gehabt hatte, daran zu denken. Das Gelächter der Offiziere brachte ihn noch mehr aus der Fassung. Er stand vor Bagration mit zitterndem Unterkiefer da und brachte kaum die Worte heraus:
»Ich weiß nicht ... Euer Durchlaucht ... es waren keine Leute da, Euer Durchlaucht.«
»Dann hätten Sie welche aus der Bedeckungsmannschaft nehmen können.«
Daß keine Bedeckungsmannschaft dagewesen war, das sagte Tuschin nicht, obgleich es die reine Wahrheit war. Er scheute sich, dadurch einem andern, einem Vorgesetzten, die Schuld zuzuschieben, und blickte schweigend mit starren Augen dem Fürsten Bagration gerade ins Gesicht, wie ein verwirrt gewordener Schüler seinem Examinator in die Augen sieht.
Dieses Schweigen dauerte ziemlich lange. Fürst Bagration, der offenbar nicht streng verfahren wollte, wußte nicht recht, was er sagen sollte; die übrigen wagten nicht, sich in das Gespräch einzumischen. Fürst Andrei warf einen schrägen Blick nach Tuschin hin, und seine Finger gerieten in nervöse Bewegung.
»Euer Durchlaucht«, unterbrach Fürst Andrei das Schweigen mit seiner scharfen Stimme, »beliebten, mich zu der Batterie des Hauptmanns Tuschin zu senden. Ich war dort und habe zwei Drittel der Mannschaft und der Pferde verwundet oder getötet gefunden; zwei Geschütze waren zerschossen, und eine Bedeckungsmannschaft war nicht vorhanden.«
Fürst Bagration und Tuschin blickten jetzt beide in gleicher Weise den mit zurückgehaltener Aufregung sprechenden Bolkonski starr an.
»Und wenn Euer Durchlaucht mir gestatten, meine Meinung auszusprechen«, fuhr er fort, »so muß ich sagen, daß wir den glücklichen Ausgang dieses Tages in erster Linie dieser Batterie und der heldenhaften Standhaftigkeit des Hauptmanns Tuschin und seiner Leute zu verdanken haben.« Nach diesen Worten stand Fürst Andrei, ohne auf eine Antwort zu warten, sofort auf und trat vom Tisch weg.
Fürst Bagration sah Tuschin an; er mochte augenscheinlich keinen Zweifel an der Richtigkeit von Bolkonskis so entschiedenem Urteil zum Ausdruck bringen, fühlte sich aber gleichzeitig außerstande, demselben vollen Glauben zu schenken; so neigte er denn den Kopf und sagte zu Tuschin, er könne gehen. Fürst Andrei ging hinter ihm her hinaus.
»Ich danke Ihnen, danke Ihnen; Sie haben mir herausgeholfen, bester Herr«, sagte Tuschin zu ihm.
Fürst Andrei sah Tuschin an und ging, ohne ein Wort zu sagen, von ihm weg. Er fühlte sich traurig und bedrückt. Alles dies war so sonderbar, so gar nicht dem ähnlich, was er gehofft hatte.
»Wer sind diese Leute? Wozu sind sie hier? Was wollen sie? Und wann wird das alles ein Ende nehmen?« dachte Rostow, indem er nach den dunklen Gestalten hinblickte, die einander vor seinen Augen fortwährend ablösten. Der Schmerz im Arm wurde immer ärger. Die Müdigkeit wurde unwiderstehlich, vor den Augen hüpften ihm rote Ringe, und die Aufregung, in die ihn diese Stimmen und diese Gesichter versetzten, und das Gefühl der Verlassenheit flossen mit dem Gefühl des Schmerzes zu einer einzigen Empfindung zusammen. Und diese Menschen da, diese Soldaten, die verwundeten und die unverwundeten, diese Menschen da würgten ihn und lasteten auf ihm und drehten ihm die Sehnen heraus und verbrannten ihm das Fleisch in seinem gelähmten Arm und in seiner gelähmten Schulter. Um sich von ihnen zu befreien, schloß er die Augen.