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Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein der Wirklichkeit; aber in dieser kurzen Zeitspanne der Selbstvergessenheit träumte er von zahllosen Dingen: von seiner Mutter und ihrer großen, weißen Hand, von Sonjas schmächtigen Schultern, von Nataschas Augen und von ihrem Lachen, und von Denisow mit seiner eigentümlichen Aussprache und seinem Schnurrbart, und von Teljanin, und von der ganzen unangenehmen Geschichte, die er mit Teljanin und mit Bogdanowitsch gehabt hatte. Diese ganze Geschichte war ein und dasselbe wie dieser Soldat da mit der scharfen Stimme, und diese ganze Geschichte und dieser Soldat peinigten ihn furchtbar dadurch, daß sie seinen Arm hartnäckig festhielten und drückten und immer nach einer Seite zogen. Er versuchte, sich von ihnen freizumachen; aber sie wichen auch nicht um ein Haarbreit und nicht für eine Sekunde von seiner Schulter. Die Schulter würde ihm nicht weh tun, sie würde gesund sein, wenn die beiden nur nicht immer daran zögen; aber es war ihm unmöglich, sich von ihnen zu befreien.
Er öffnete die Augen und blickte in die Höhe. Der schwarze Schleier der Nacht hing tief herab, und der Lichtschein der glimmenden Kohlen reichte nur wenige Fuß nach oben. In diesem Lichtschein flogen feine Schneestäubchen, die zur Erde sanken. Tuschin war nicht zurückgekehrt, ein Arzt nicht gekommen. Er war allein; nur ein kleiner Soldat saß jetzt nackt an der andern Seite des Feuers und wärmte seinen mageren, gelben Körper.
»Niemand kümmert sich um mich!« dachte Rostow. »Niemand hilft mir, niemand hat mit mir Mitleid. Und doch war auch ich einmal zu Hause und war kräftig und vergnügt, und alle hatten mich gern.« Er seufzte, und mit dem Seufzer verband sich unwillkürlich ein Stöhnen.
»Oh! Tut Ihnen etwas weh?« fragte der kleine Soldat, indem er sein Hemd über dem Feuer schüttelte; und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er, nachdem er sich geräuspert hatte, hinzu: »Wie viele, viele Menschen heute etwas abbekommen haben; schauderhaft!«
Rostow hörte gar nicht, was der Soldat sagte. Er blickte nach den Schneeflocken, die über dem Feuer flatterten, und dachte an den russischen Winter mit dem warmen, hellen Haus, dem dichten Pelz, dem schnellen Schlitten, dem gesunden Körper und mit all der Liebe und Pflege, die er bei seiner Familie genossen hatte. »Warum bin ich hierhergegangen?« dachte er.
Am andern Tag erneuerten die Franzosen den Angriff nicht, und die Überreste der Bagrationschen Abteilung vereinigten sich wieder mit der Armee Kutusows.
I
Seine Pläne sorgsam zu durchdenken, das lag nicht in der Art des Fürsten Wasili. Noch weniger war er darauf bedacht, anderen Leuten Übles zu tun, um selbst einen Vorteil zu erlangen. Er war eben nur ein Weltmann, der durch das Leben in den höheren Gesellschaftskreisen etwas erreicht hatte und dem es zur Gewohnheit geworden war, in dieser Weise etwas zu erreichen. In seinem Kopf bildeten sich fortwährend je nach den Umständen und je nachdem er mit diesem oder jenem in nähere Beziehungen kam, allerlei Pläne und Kombinationen, von denen er sich selbst nicht genauer Rechenschaft gab, die aber doch den ganzen Inhalt seines Daseins ausmachten. Und von solchen Plänen und Kombinationen waren in seinem Kopf nicht etwa nur einer oder zwei gleichzeitig im Gang, sondern Dutzende, von denen die einen in seinem Geist eben erst auftauchten, andere in der Ausführung begriffen waren und eine dritte Klasse sich bereits wieder in nichts auflöste. So zum Beispiel sagte er nicht etwa zu sich: »Dieser Mann besitzt jetzt großen Einfluß; daher muß ich mir sein Vertrauen und seine Freundschaft erwerben und mir durch seine Vermittlung die Auszahlung einer einmaligen Unterstützung erwirken«, oder: »Dieser Pierre ist reich; daher muß ich ihn dazu verleiten, meine Tochter zu heiraten, und mir von ihm die vierzigtausend Rubel leihen, die ich notwendig brauche.« Sondern die Sache ging so zu: er kam mit dem einflußreichen Mann in Berührung, und in demselben Augenblick flüsterte ihm sein Instinkt zu, daß dieser Mann ihm nützlich sein könne, und nun näherte Fürst Wasili sich ihm, und sobald sich eine Möglichkeit dazu bot, ohne alle Vorbereitungen, lediglich durch seinen Instinkt geleitet, schmeichelte er ihm, wurde mit ihm intim und sprach dann mit ihm von dem, was ihm am Herzen lag.
Und ähnlich mit Pierre. Diesen hatte Fürst Wasili in Moskau unter seine Obhut genommen, hatte ihm die Ernennung zum Kammerjunker verschafft, was damals dem Rang eines Staatsrates gleichkam, und darauf bestanden, daß der junge Mann mit ihm zusammen nach Petersburg fuhr und in seinem Haus Wohnung nahm. In einer Art von Zerstreuung und Absichtslosigkeit und dabei doch mit der zweifellosen, instinktiven Sicherheit, daß er so handeln müsse, tat Fürst Wasili alles, was erforderlich war, um eine Heirat zwischen Pierre und seiner Tochter zustande zu bringen. Hätte Fürst Wasili seine Pläne im voraus sorgsam durchdacht, so wäre es um seine Harmlosigkeit und Unbefangenheit im Verkehr geschehen gewesen und er hätte sich nicht allen Leuten gegenüber, mochten sie nun über oder unter ihm stehen, so schlicht und natürlich benehmen können. Ein innerer Trieb zog ihn beständig zu den Leuten hin, die ihn an Einfluß oder an Reichtum übertrafen, und die Natur hatte ihn mit der seltenen Geschicklichkeit begabt, immer gerade den Augenblick zu ergreifen, wo es möglich und angebracht war, von den Leuten Vorteil zu ziehen.
Als Pierre in so unerwarteter Weise ein reicher Mann und ein Graf Besuchow geworden war, fand er sich, nachdem er noch bis vor kurzem ganz für sich und ganz unbekümmert gelebt hatte, nun dermaßen von Menschen umringt und in Anspruch genommen, daß er nur noch im Bett die Möglichkeit hatte, mit seinen Gedanken allein zu sein. Er mußte Schriftstücke unterzeichnen und mit Gerichts- und Verwaltungsbehörden verhandeln, ohne daß er von dem Inhalt der Schriftstücke und dem Sinn der Verhandlungen einen klaren Begriff gehabt hätte, mußte nach diesem und jenem den Oberadministrator fragen, auf das in der Nähe von Moskau gelegene Gut fahren und eine Menge von Leuten empfangen, die früher nicht einmal von seiner Existenz etwas hatten wissen wollen, jetzt aber sich sehr gekränkt und verletzt gefühlt haben würden, wenn er ihren Besuch nicht angenommen hätte. Alle diese verschiedenartigen Personen: Geschäftsleute, Verwandte, Bekannte, alle waren sie in gleicher Weise gegen den jungen Erben gut und freundlich gesinnt; alle waren sie sichtlich und zweifellos von Pierres vortrefflichen Eigenschaften überzeugt. Fortwährend bekam er Redewendungen zu hören wie: »Bei Ihrer außerordentlichen Güte«, oder: »Bei Ihrem vortrefflichen Herzen«, oder: »Sie selbst sind ein so reiner Charakter, Graf«, oder: »Wenn er Ihren Verstand besäße« usw., so daß er allen Ernstes an seine außerordentliche Güte und an seinen außerordentlichen Verstand zu glauben anfing, um so mehr da er im Grunde seiner Seele immer schon der Ansicht gewesen war, daß er tatsächlich ein sehr guter und ein sehr kluger Mensch sei. Sogar solche Personen, die ihm früher übel gesinnt gewesen waren und ihm mit unverhohlener Feindschaft gegenübergestanden hatten, wurden jetzt freundlich und herzlich gegen ihn. Die früher auf ihn so ergrimmte älteste Prinzessin mit der langen Taille und dem, wie bei einer Puppe, glatt anliegenden Haare kam nach der Beerdigung in Pierres Zimmer. Mit niedergeschlagenen Augen und unter beständigem Erröten sagte sie ihm, sie bedauere lebhaft die zwischen ihnen vorgekommenen Mißverständnisse und fühle sich jetzt nicht berechtigt, um irgend etwas zu bitten; höchstens möchte sie um die Erlaubnis bitten, nach dem schweren Schlag, von dem sie betroffen worden sei, noch einige Wochen in dem Haus bleiben zu dürfen, das ihr so lieb geworden sei und wo sie so viele schwere Opfer gebracht habe. Sie vermochte sich nicht zu beherrschen und brach bei diesen Worten in Tränen aus. Ganz gerührt darüber, daß die sonst so starre, kalte Prinzessin sich so hatte verändern können, ergriff Pierre ihre Hand und bat sie um Verzeihung, er wußte selbst nicht wofür. Gleich noch an diesem Tag begann die Prinzessin, für Pierre einen gestreiften Leibgurt zu stricken, und war nun gegen ihn ganz wie umgewandelt.
»Tue das für sie, mein Lieber; sie hat doch von dem Seligen viel zu leiden gehabt«, sagte Fürst Wasili zu ihm, indem er ihm ein zugunsten der Prinzessin ausgestelltes Schriftstück zur Unterschrift vorlegte.
Fürst Wasili war zu der Ansicht gelangt, man müsse der armen Prinzessin diesen Knochen, einen Wechsel über dreißigtausend Rubel, hinwerfen, damit es ihr nicht in den Sinn komme, über seine, des Fürsten Wasili, Beteiligung an der Geschichte mit dem Mosaikportefeuille anfangen zu reden. Pierre unterschrieb den Wechsel, und seitdem wurde die Prinzessin gegen ihn noch liebenswürdiger. Auch die beiden jüngeren Schwestern waren freundlich gegen ihn, namentlich die jüngste, die hübsche, die mit dem Leberfleck, und sie setzte Pierre oft durch ihr Lächeln und ihre Verlegenheit bei seinem Anblick selbst in Verlegenheit.
Daß alle Menschen ihn gern hatten, fand Pierre so natürlich, und es wäre ihm so unnatürlich vorgekommen, wenn ihn jemand nicht hätte leiden können, daß es ihm nicht beikam, an der Aufrichtigkeit der Menschen, die ihn umgaben, irgendwie zu zweifeln. Außerdem hatte er gar keine Zeit, sich die Frage nach der Aufrichtigkeit oder Unaufrichtigkeit dieser Menschen vorzulegen. Er hatte beständig zu tun und fühlte sich beständig im Zustand einer milden, vergnüglichen Trunkenheit. Er fühlte sich sozusagen als den Mittelpunkt einer bedeutsamen, allgemeinen Bewegung; er fühlte, daß man von ihm beständig etwas erwartete, und daß, wenn er es nicht tat, er viele kränkte und in ihrer Erwartung täuschte; er hoffte aber, wenn er dies und das tue, dann werde alles gut sein; und so tat er denn, was man von ihm verlangte; freilich blieb der erhoffte Erfolg, daß dann alles gut sein werde, immer aus.
Noch mehr als alle andern hatte in dieser ersten Zeit Fürst Wasili sich nicht nur der Angelegenheiten Pierres, sondern auch der Person desselben bemächtigt. Seit dem Tod des Grafen Besuchow ließ er Pierre nicht aus seinen Händen. Fürst Wasili machte dabei den Eindruck, als sei er von Geschäften überbürdet, ermüdet und erschöpft, könne es aber trotzdem aus Mitleid nicht übers Herz bringen, Pierre dem blinden Zufall und allerlei Gaunern preiszugeben, ihn, den hilflosen Jüngling, den Sohn seines Freundes und, schließlich, den Besitzer eines so gewaltigen Vermögens. In den wenigen Tagen, die Fürst Wasili nach dem Tod des Grafen Besuchow noch in Moskau zubrachte, ließ er Pierre häufig auf sein Zimmer kommen oder ging selbst in Pierres Zimmer und gab ihm über alles, was er tun müsse, Anweisungen in einem solchen Ton der Müdigkeit und der eigenen Überzeugtheit von der Richtigkeit dieser Anweisungen, wie wenn er jedesmal dazu sagte: »Du weißt, daß ich mit Geschäften überhäuft bin und mich nur aus reiner Liebe deiner annehme, und du weißt ferner recht wohl, daß das, was ich dir vorschlage, das einzig mögliche ist.«
»Nun, mein Freund, morgen reisen wir endlich ab«, sagte er eines Tages zu ihm, indem er die Augen zusammenkniff und mit den Fingern leise an Pierres Ellbogen trommelte, und er sagte es in einem Ton, als ob das, was er sagte, schon längst zwischen ihnen eine ausgemachte Sache wäre und man darüber gar nicht andrer Ansicht sein könnte. »Morgen reisen wir; ich gebe dir einen Platz in meinem Wagen. Ich freue mich sehr. Hier ist nun alles, was für uns von Wichtigkeit war, erledigt. Ich für meine Person hätte ja freilich schon längst fort gemußt. Hier, das habe ich vom Kanzler für dich erhalten. Ich hatte ihn in deinem Interesse darum gebeten; du bist nun dem diplomatischen Korps aggregiert und zum Kammerjunker ernannt. Jetzt steht dir die diplomatische Laufbahn offen.«
Obwohl der Ton der Müdigkeit und eigenen Überzeugtheit, mit welchem diese Worte gesprochen wurden, eine Art Zwang auszuüben schien, wollte Pierre, der so lange über seine künftige Laufbahn nachgedacht hatte, etwas erwidern. Aber Fürst Wasili unterbrach ihn in jenem zärtlichen, tiefen Ton, der jede Möglichkeit, dazwischenzureden, ausschloß; dieses Tones pflegte sich Fürst Wasili zu bedienen, wenn es ihm notwendig schien, bei jemandem eine wirklich vollständige Überzeugung zu erwecken.
»Aber, mein Lieber, ich habe das für dich getan, weil es mir Gewissenssache war, und da brauchst du mir nicht zu danken. Noch nie hat sich jemand darüber beklagt, daß die Leute ihn allzu gern hätten. Und dann, du bist ja dein freier Herr; wenn du willst, kannst du dich ja all dieser Ehren morgen wieder entäußern. Du wirst ja in Petersburg selbst sehen, wie es mit allen diesen Dingen steht. Auch hättest du dich schon längst von den schrecklichen Erinnerungen hier losmachen sollen.« Fürst Wasili seufzte. »Ja, ja, ich habe recht, mein Bester ... Und mein Kammerdiener mag in deinem Wagen fahren. Ach ja, das hätte ich beinah vergessen«, fügte Fürst Wasili noch hinzu: »Du weißt, mein Lieber, daß der Verstorbene und ich pekuniäre Beziehungen miteinander hatten; da ist denn aus dem Rjasaner Gut etwas an mich gezahlt worden, und ich möchte das zunächst behalten. Du brauchst es ja nicht. Wir beide rechnen schon noch miteinander ab.«
Was Fürst Wasili »etwas aus dem Rjasaner Gut« nannte, waren einige tausend Rubel Pachtzins, die er für sich behalten hatte.
Wie in Moskau, so sah sich Pierre auch in Petersburg von einer großen Menge Menschen umgeben, die ihm freundlich gesinnt und liebevoll zugetan waren. Es war ihm unmöglich, auf das Amt oder richtiger gesagt, auf den Titel (denn zu tun hatte er nichts), den ihm Fürst Wasili verschafft hatte, zu verzichten; der Bekanntschaften, Einladungen und gesellschaftlichen Vergnügungen waren so viele, daß Pierre in noch höherem Grad als in Moskau das Gefühl einer gewissen Benommenheit und unruhigen Hast hatte; es war ihm zumute, als ob etwas, was ihn beglücken sollte, immer im Herannahen begriffen sei, aber nie zur Wirklichkeit werde.
Von dem Junggesellenkreis, in welchem er früher verkehrt hatte, waren viele Genossen zur Zeit nicht in Petersburg: die Garde war ins Feld gezogen, Dolochow war degradiert, Anatol stand bei einem Regiment in der Provinz. Und Fürst Andrei war im Ausland. So konnte denn Pierre weder die Nächte in der Weise verbringen, wie er sie früher zu verbringen geliebt hatte, noch auch ab und zu durch ein vertrauliches Gespräch mit dem älteren, verehrten Freund sich einen wahren Herzensgenuß verschaffen. Seine ganze Zeit verging bei Diners und Bällen und vor allem, sobald er sich im Haus des Fürsten Wasili befand, in der Gesellschaft der dicken Fürstin, der Frau desselben, und der schönen Helene.
Auch Anna Pawlowna Scherer brachte, ebenso wie alle andern Leute, durch ihr Benehmen Pierre gegenüber zum Ausdruck, daß in seiner gesellschaftlichen Stellung jetzt eine gewaltige Veränderung eingetreten war.
Früher hatte Pierre in Anna Pawlownas Gegenwart beständig das Gefühl gehabt, daß das, was er sagte, unpassend, taktlos, verfehlt sei, und daß seine Reden, die ihm klug erschienen, solange er sie sich im Kopf zurechtlegte, dumm wurden, sobald er sie laut aussprach, während die albernsten Äußerungen des Fürsten Ippolit für klug und hübsch erachtet wurden. Aber jetzt wurde alles, was er sagte, als »charmant« betrachtet. Selbst wenn Anna Pawlowna das nicht geradezu aussprach, sah er doch, daß sie es eigentlich sagen wollte und es nur aus zarter Rücksicht auf seine Bescheidenheit unterließ.
Zu Anfang des Winters von 1805 auf 1806 erhielt Pierre von Anna Pawlowna das übliche rosa Brief chen mit einer Einladung; zu der Einladung hatte sie noch die Bemerkung hinzugefügt: »Sie werden bei mir die schöne Helene finden, die anzuschauen man nie müde wird.«
Als Pierre diesen Satz las, fühlte er zum erstenmal, daß sich zwischen ihm und Helene eine Art von Beziehung gebildet hatte, die von anderen Leuten gewissermaßen als rechtmäßig anerkannt wurde. Einerseits hatte dieser Gedanke für ihn etwas Schreckhaftes, als würde ihm da eine Verpflichtung auferlegt, der er nicht imstande sei gerecht zu werden; andrerseits gefiel ihm die Sache recht gut, da die Voraussetzung einer solchen Beziehung etwas Amüsantes hatte.
Die Soiree bei Anna Pawlowna war von derselben Art wie die erste, nur war das neue Gericht, mit welchem Anna Pawlowna ihre Gäste regalierte, diesmal nicht Mortemart, sondern ein Diplomat, der aus Berlin gekommen war und die neuesten Einzelheiten über den Aufenthalt des Kaisers Alexander in Potsdam mitgebracht hatte; er berichtete, wie die beiden hohen Freunde dort einander geschworen hätten, in unverbrüchlichem Bund die gerechte Sache gegen den Feind des Menschengeschlechtes zu verteidigen. Anna Pawlowna begrüßte Pierre mit einem leisen Beiklang von Traurigkeit, die sich offenbar auf den frischen Verlust beziehen sollte, der den jungen Mann betroffen hatte, also auf den Tod des Grafen Besuchow (wie denn alle es beständig für ihre Pflicht hielten, Pierre zu versichern, daß er über das Hinscheiden seines Vaters, den er doch in Wirklichkeit kaum gekannt hatte, sehr betrübt sei), und diese Traurigkeit war genau von derselben Art wie jene wehmütige Traurigkeit, welche Anna Pawlowna bei Erwähnung der erhabenen Kaiserinmutter Maria Feodorowna zum Ausdruck zu bringen pflegte. Pierre fühlte sich dadurch geschmeichelt. Mit der ihr geläufigen Kunstfertigkeit teilte Anna Pawlowna in ihrem Salon die Gäste in Gruppen. Die größere Gruppe, in welcher sich Fürst Wasili und einige Generale befanden, genoß den Diplomaten; die zweite Gruppe saß am Teetisch. Pierre wollte sich zu der ersteren gesellen; aber Anna Pawlowna, die sich in demselben Zustand der Aufregung befand wie ein Feldherr auf dem Schlachtfeld, wenn ihm viele, viele neue glänzende Ideen kommen, die er kaum Zeit finden wird alle zur Ausführung zu bringen, Anna Pawlowna berührte, sobald sie Pierres Absicht bemerkte, seinen Ärmel mit einem Finger.
»Warten Sie, ich habe für diesen Abend mit Ihnen meine besonderen Absichten.« Sie blickte zu Helene hin und lächelte ihr zu. »Meine liebe Helene, Sie müssen an meiner armen Tante, die Sie mit einer wahren Schwärmerei verehrt, ein gutes Werk tun. Gehen Sie zu ihr hin, und leisten Sie ihr zehn Minuten lang Gesellschaft. Und damit Sie sich nicht allzusehr langweilen, so nehmen Sie hier unsern liebenswürdigen Grafen mit; er wird sich nicht weigern, Sie zu begleiten.«
Die schöne Helene begab sich zu der Tante; aber den jungen Mann hielt Anna Pawlowna noch bei sich zurück, mit einer Miene, als müßte sie noch eine letzte notwendige Anordnung treffen.
»Nicht wahr, sie ist entzückend?« sagte sie zu Pierre, indem sie auf das in leichtem, schwebendem Gang sich entfernende majestätisch schöne Mädchen deutete. »Und welch ein Anstand! Ein so junges Mädchen, und welch ein feines Taktgefühl besitzt sie, wie meisterhaft weiß sie sich zu benehmen! Das kommt von ihrem prächtigen Herzen her! Glücklich wird der Mann sein, dem sie als Gattin angehören wird! Selbst wenn er persönlich kein Weltmann sein sollte, würde er doch an ihrer Seite ganz von selbst die glänzendste Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Nicht wahr? Ich wollte nur Ihre Ansicht kennenlernen.« Damit ließ Anna Pawlowna nun auch Pierre gehen und begleitete ihn selbst zu der Tante.
Pierre gab auf Anna Pawlownas Frage, betreffend Helenens vollendete Kunst sich zu benehmen, mit voller Aufrichtigkeit eine bejahende Antwort. Wenn er manchmal an Helene gedacht hatte, so hatte er namentlich an zwei ihrer Eigenschaften gedacht: an ihre Schönheit und an die außerordentliche, ruhige Geschicklichkeit, mit der sie in Gesellschaft eine schweigsam würdige Haltung beobachtete.
Die Tante empfing die beiden jungen Leute in ihrem Eckchen mit dem üblichen Lächeln, schien aber ihre schwärmerische Verehrung für Helene absichtlich verbergen und vielmehr ihre Furcht vor Anna Pawlowna zum Ausdruck bringen zu wollen. Sie blickte ihre Nichte an, wie wenn sie fragen wollte, was sie denn eigentlich mit diesen beiden jungen Leuten anfangen solle. Als Anna Pawlowna von ihnen zurücktrat, berührte sie noch einmal mit der Fingerspitze Pierres Rockärmel und sagte leise:
»Ich hoffe, Sie werden nun nicht mehr sagen, daß man sich bei mir langweilt.« Dabei richtete sie ihren Blick auf Helene.
Helene lächelte mit einer Miene, welche besagte, sie halte es für unmöglich, daß jemand sie ansehe, ohne von ihr entzückt zu sein. Die Tante räusperte sich, schluckte den Speichel hinunter und sagte auf französisch, sie freue sich sehr, Helene zu sehen; dann wandte sie sich mit derselben Begrüßung und mit derselben Miene zu Pierre. Während des langweiligen, wiederholt stockenden Gesprächs blickte Helene einmal nach Pierre hin und lächelte ihn mit jenem klaren, schönen Lächeln an, mit dem sie alle anzulächeln pflegte. Aber Pierre war dieses Lächeln so gewohnt und fand darin so wenig ihn persönlich Angehendes, daß er es gar nicht weiter beachtete. Die Tante sprach unterdessen gerade von einer Dosensammlung, die Pierres seliger Vater, Graf Besuchow, besessen habe, und zeigte dabei ihre eigene Tabaksdose. Die Prinzessin Helene bat um die Erlaubnis, das Porträt des Gemahls der Tante besehen zu dürfen, das auf der Dose angebracht war.
»Es ist wohl von Wines gemalt«, sagte Pierre, indem er den Namen eines bekannten Miniaturmalers nannte. Er beugte sich dabei über den Tisch, um die Dose in die Hand zu nehmen, horchte aber nach dem Gespräch am andern Tisch hin.
Er erhob sich ein wenig, in der Absicht, um den Tisch herumzugehen; aber die Tante reichte ihm die Dose gerade über Helene weg, hinter ihrem Kopf. Helene beugte sich nach vorn, um Raum zu geben, und blickte lächelnd um sich. Sie trug, wie stets bei Abendgesellschaften, ein nach damaliger Mode vorn und hinten sehr tief ausgeschnittenes Kleid. Ihre Büste, die auf Pierre immer den Eindruck des Marmorartigen gemacht hatte, befand sich in so geringem Abstand von seinen Augen, daß er trotz seiner Kurzsichtigkeit unwillkürlich ihre Schultern und ihren Hals als etwas von reizvollem Leben Erfülltes erkannte, und so nah an seinen Lippen, daß er sich nur ein wenig zu bücken brauchte, um sie zu berühren. Er empfand die Wärme ihres Körpers, roch den Duft ihres Parfüms und hörte das Knistern des Korsetts bei ihren Bewegungen. Er sah jetzt nicht ihre marmorartige Schönheit, die mit dem Kleid zusammen ein einheitliches Ganzes bildete; sondern er sah und fühlte den ganzen Reiz ihres Leibes, dem der Anzug lediglich als Hülle diente. Und nachdem er einmal zu dieser Art des Sehens gelangt war, war er nicht mehr imstande in anderer Weise zu sehen, so wie wir in eine einmal aufgeklärte Täuschung uns nicht wieder zurückversetzen können.
»Hatten Sie denn bisher noch nicht bemerkt, wie schön ich bin?« schien Helene zu fragen. »Hatten Sie gar nicht bemerkt, daß ich ein Weib bin? Ja, ich bin ein Weib, das jedem angehören kann, auch Ihnen«, sagte ihr Blick. Und in diesem Augenblick hatte Pierre das Gefühl, daß Helene seine Frau nicht nur werden könne, sondern werden müsse, unter allen Umständen werden müsse.
Er war davon in diesem Augenblick so fest überzeugt, als ob er schon mit ihr vor dem Altar stünde. Wie und wann es geschehen werde, darüber war er sich nicht klar; er war sich nicht einmal darüber klar, ob es ihm zum Segen gereichen werde (er hatte sogar die Empfindung, daß es aus irgendeinem Grund nicht gutgehen werde); aber daß es geschehen werde, das wußte er.
Pierre schlug die Augen nieder, hob sie wieder in die Höhe und wollte in der Prinzessin Helene von neuem nichts weiter als das ihm fernstehende, ihm fremde schöne Mädchen sehen, das er bisher täglich in ihr gesehen hatte; aber dies zu tun, war er nicht mehr imstande. Er war dazu ebensowenig imstande, wie jemand, der im Nebel einen Steppengrashalm gesehen und für einen Baum gehalten hat, nachher, nachdem er gesehen hat, daß es ein Halm ist, von neuem in ihm einen Baum sehen kann. Sie stand ihm auf einmal so nahe, daß ihm beklommen wurde; sie hatte schon Gewalt über ihn. Und zwischen ihm und ihr bestanden jetzt keinerlei Schranken mehr außer denen, die sein eigener Wille errichtete.
»Gut, ich lasse Sie in Ihrem kleinen Winkel. Ich sehe, daß Sie sich da ganz wohl befinden«, hörte er auf einmal Anna Pawlowna sagen.
Pierre überlegte ängstlich, ob er auch nicht irgend etwas Unpassendes getan habe, errötete und blickte rings um sich. Es kam ihm vor, als wüßten alle geradeso gut wie er selbst, was mit ihm geschehen war.
Als er einige Zeit darauf zu der größeren Gruppe trat, sagte Anna Pawlowna zu ihm: