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»Wahrscheinlich werden wir vorrücken«, antwortete Bolkonski, der augenscheinlich in Gegenwart Fremder nicht mehr sagen mochte.
Berg benutzte die Gelegenheit, um mit besonderer Höflichkeit zu fragen, ob, wie das Gerücht gehe, die Kompaniechefs bei der Linie künftig doppelte Furagegelder bekommen würden. Hierauf antwortete Fürst Andrei lächelnd, in so wichtige Staatsangelegenheiten sei er nicht eingeweiht, und Berg lachte fröhlich.
»Über Ihre Angelegenheit«, wandte sich Fürst Andrei wieder an Boris, »reden wir ein andermal« (er blickte zu Rostow hin). »Kommen Sie nach der Truppenschau zu mir; wir werden alles tun, was in unsern Kräften steht.«
Er sah sich rings im Zimmer um und wandte sich nun auch an Rostow; er würdigte dessen kindische, unbezwingbare Verlegenheit, die in Ingrimm über ging, keiner Beachtung und sagte:
»Sie erzählten ja wohl gerade von dem Kampf bei Schöngrabern? Sind Sie dabeigewesen?«
»Ja, ich bin dabeigewesen«, erwiderte Rostow grimmig, als ob er dadurch den Adjutanten zu kränken beabsichtigte.
Bolkonski bemerkte die Stimmung des Husaren recht wohl, und sie kam ihm komisch vor. Ein leises, geringschätziges Lächeln spielte um seinen Mund.
»Über diesen Kampf hört man jetzt vielerlei Erzählungen«, sagte er.
»Ja, vielerlei Erzählungen«, antwortete Rostow mit erhobener Stimme und sah mit wütenden Blicken bald Boris, bald Bolkonski an, »ja, vielerlei Erzählungen; aber unsere Erzählungen, die Erzählungen derjenigen, die selbst im feindlichen Feuer gewesen sind, unsere Erzählungen sind zuverlässig, anders als die Erzählungen der jungen Helden vom Stab, welche Auszeichnungen einheimsen, ohne etwas getan zu haben.«
»Und zu denen gehöre Ihrer Ansicht nach auch ich?« fragte Fürst Andrei in ruhigem Ton und mit einem besonders freundlichen Lächeln.
Ein sonderbar gemischtes Gefühl, ein Gefühl der Erbitterung und zugleich der Hochachtung vor der ruhigen Sicherheit dieses Mannes wurde in Rostows Seele rege.
»Von Ihnen rede ich nicht«, sagte er. »Ich kenne Sie nicht und habe, offengestanden, auch gar nicht den Wunsch, Sie kennenzulernen. Ich rede im allgemeinen von den Offizieren beim Stab.«
»Nun, hören Sie einmal zu, was ich Ihnen sagen werde«, unterbrach ihn Fürst Andrei im Ton ruhiger Überlegenheit. »Sie wollen mich beleidigen, und ich gebe gern zu, daß das eine sehr leichte Sache ist, wenn Sie nicht die genügende Selbstachtung besitzen; aber Sie müssen selbst sagen, daß Zeit und Ort dazu sehr übel gewählt sind. In den nächsten Tagen werden wir alle bei einem großen, ernsteren Duell mitzuwirken haben; und außerdem kann doch Drubezkoi, der sagt, daß er ein alter Freund von Ihnen sei, nichts dafür, daß mein Gesicht das Unglück gehabt hat, Ihnen zu mißfallen. Übrigens«, sagte er, indem er aufstand, »kennen Sie ja meinen Namen und wissen, wo ich zu finden bin. Vergessen Sie aber nicht«, fügte er hinzu, »daß ich weder mich noch Sie irgendwie für beleidigt halte, und als der ältere von uns beiden würde ich Ihnen raten, in dieser Sache nichts weiteres zu tun. Also auf Freitag, nach der Truppenschau; ich erwarte Sie, Drubezkoi; auf Wiedersehen!« rief Fürst Andrei; den beiden andern Anwesenden machte er eine Verbeugung und verließ das Zimmer.
Dem jungen Rostow fiel erst, als der Fürst schon weg war, ein, was er ihm hätte antworten sollen. Und daß er nicht darauf gekommen war, ihm dies zu sagen, machte ihn noch zorniger. Er ließ sich sogleich sein Pferd bringen und ritt, nach einem trockenen Abschied von Boris, wieder nach seinem Quartier zurück. Sollte er morgen nach dem Hauptquartier reiten und diesen Maulhelden von Adjutanten fordern oder die Sache wirklich auf sich beruhen lassen? Diese Frage quälte ihn auf dem ganzen Heimweg. Bald dachte er ingrimmig daran, mit welcher Lust er die Angst dieses kleinen, schwächlichen, hochmütigen Menschen der Mündung seiner Pistole gegenüber beobachten werde, bald wurde er sich mit Erstaunen bewußt, daß er von allen Menschen, die er kannte, keinen so lebhaft zum Freund zu haben begehrte, wie diesen verhaßten Adjutanten.
VIII
Am Tage nach dem Wiedersehen zwischen Boris und Rostow fand die Truppenschau über die österreichischen und über die russischen Truppen statt, und zwar, die letzteren anlangend, sowohl über die frischen, soeben aus Rußland eingetroffenen als auch über diejenigen, die mit Kutusow aus dem Feldzug zurückgekehrt waren. Diese Truppenschau über die verbündete achtzigtausend Mann starke Armee wurde von beiden Kaisern abgehalten; dem russischen Kaiser stand der Thronfolger, dem österreichischen der Erzherzog zur Seite.
Vom frühen Morgen an rückten die Truppen, die sich mit peinlicher Sorgfalt gesäubert und geputzt hatten, heran und nahmen auf dem weiten Feld vor der Festung Aufstellung. Hier bewegten sich Tausende von Menschenbeinen und Bajonetten mit wehenden Fahnen heran, machten auf das Kommando der Offiziere halt, schwenkten ein, gingen um andere, ähnliche Infanteriemassen in anderen Uniformen herum und stellten sich in bestimmten Abständen voneinander auf; dort kam unter gleichmäßigem Getrappel der Pferdehufe und Klirren der Waffen die schmucke Kavallerie, in blauen, roten und grünen gestickten Uniformen, mit den noch bunteren Musikern an der Spitze, auf Rappen, Füchsen und Grauschimmeln; dort kroch in lang ausgedehntem Zug, unter dem metallischen Getön der auf ihren Lafetten zitternden, wohlgesäuberten, glänzenden Kanonen und mit dem Geruch ihrer Luntenstöcke die Artillerie in den Zwischenraum zwischen Infanterie und Kavallerie hinein und ordnete sich an den ihr angewiesenen Plätzen. Nicht nur die Generale in voller Paradeuniform, die dicken und dünnen Taillen soviel als nur irgend möglich zusammengeschnürt, die roten Hälse von hohen Kragen umschlossen, mit Schärpen und sämtlichen Orden, nicht nur die pomadisierten, geschniegelten Offiziere, sondern auch jeder Soldat mit dem frisch gewaschenen und rasierten Gesicht und den bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit blankgeputzten Ausrüstungsstücken, ja jedes Pferd, so sorgsam behandelt, daß sein Fell wie Atlas schimmerte und in der feuchten Mähne ein Härchen neben dem andern lag: alle hatten sie das Gefühl, daß etwas Ernstes, Wichtiges, Feierliches vorgehen solle. Jeder General und jeder Soldat wurde sich seiner eigenen Unbedeutendheit bewußt, kam sich wie ein Sandkörnchen in diesem Meer von Menschen vor und hatte doch gleichzeitig das Gefühl seines eigenen Wertes, indem er sich sagte, daß er ein Teil dieses gewaltigen Ganzen sei.
Am frühen Morgen hatte diese angestrengte, eifrige Geschäftigkeit begonnen, und um zehn Uhr war alles so in Ordnung gekommen, wie es verlangt war. Alles stand auf dem gewaltigen Feld in Reih und Glied. Die ganze Armee war in drei Linien aufgestellt: vorn die Kavallerie, dahinter die Artillerie, noch weiter nach hinten die Infanterie. Zwischen je zwei Linien war eine Art von Straße.
Scharf unterschieden sich in dieser Armee voneinander drei Teile: erstens das Kutusowsche Heer (auf dessen rechtem Flügel in der vordersten Linie die Pawlograder standen), zweitens die soeben aus Rußland gekommenen Linien- und Garderegimenter, und drittens das österreichische Heer. Aber alle standen sie in denselben drei Linien und unter demselben Oberbefehl und in derselben Ordnung.
Wie ein Wind durch die Blätter fährt, so pflanzte sich durch die Menschenreihen ein aufgeregtes Flüstern fort: »Sie kommen, sie kommen!« Man hörte einzelne ängstliche Zurufe, und wie eine Welle ging durch die ganze Truppenmasse eine von den letzten Vorbereitungen hervorgerufene unruhige Bewegung.
Vorn, aus der Richtung von Olmütz her, wurde eine sich nähernde Reitergruppe sichtbar. Und gerade in diesem Augenblick lief, obwohl es sonst ein windstiller Tag war, ein leichter Windhauch über das Heer hin und ließ die Lanzenfähnchen flattern und die entrollten Fahnen ein wenig gegen ihre Stangen schlagen. Es war, als ob die Armee selbst durch diese leise Bewegung ihre Freude über das Herannahen der Kaiser zum Ausdruck bringen wolle. Eine einzelne Stimme rief: »Stillgestanden!« Dann wiederholten, wie Hähne in der Morgenfrühe, viele Stimmen an verschiedenen Stellen dasselbe Kommando. Und alles wurde still.
In der Totenstille hörte man nur das Trappeln von Pferden. Das waren die Kaiser mit ihrer Suite. Die Kaiser ritten zu dem einen Flügel hin, und es ertönten die Trompeten des ersten Kavallerieregiments, die den Generalmarsch bliesen. Es war, als ob da nicht die Trompeten bliesen, sondern als ob das Heer selbst, über die Annäherung der Kaiser erfreut, wie ein einziger Organismus diese Töne hervorbrächte. Durch diese Töne hindurch erscholl vernehmlich eine einzelne jugendliche, freundliche Stimme, die Stimme des Kaisers Alexander. Er sprach den üblichen Gruß, und das erste Regiment schrie: »Hurra!« so betäubend, langgedehnt und freudig, daß die Leute selbst über die gewaltige Zahl und Stärke der Masse, die sie bildeten, einen Schreck bekamen.
Rostow stand in den ersten Reihen des Kutusowschen Heeres, an welches der Kaiser zuerst heranritt, und war von denselben Empfindungen erfüllt wie jeder Mann dieses Heeres: von einem Gefühl der Selbstvergessenheit, von einem stolzen Machtbewußtsein und von einer leidenschaftlichen Begeisterung für den, welcher die Ursache dieser feierlichen Veranstaltung war.
Er fühlte, daß es nur eines einzigen Wortes aus dem Mund dieses Mannes bedurfte, und diese gewaltige Menschenmasse (auch er selbst, der, ein winziges Sandkorn, zu ihr gehörte) würde sich ins Feuer und ins Wasser stürzen, zu Verbrechen schreiten, in den Tod gehen oder die glorreichsten Taten vollbringen, und es kam ihn ein Zittern an, das Herz wollte ihm stillstehen angesichts dieses herannahenden Wortes.
»Hurra! Hurra! Hurra!« klang es donnernd aus zahllosen Kehlen, und ein Regiment nach dem andern empfing den Kaiser mit den Klängen des Generalmarsches; wieder »Hurra!« und Generalmarsch, und wieder »Hurra!« und »Hurra!«. Und diese Töne flossen, immer stärker anschwellend, zu einem betäubenden Getöse zusammen.
Jedes Regiment glich, solange der Kaiser noch nicht bis zu ihm gelangt war, in seiner Stummheit und Regungslosigkeit einem leblosen Körper; sowie aber der Kaiser sich ihm näherte, gewann es Leben und rief laut und kräftig seinen Gruß, indem es in den donnernden Ruf der ganzen Linie einstimmte, an der der Kaiser bereits entlanggeritten war. Bei dem furchtbaren, betäubenden Ton dieser Stimmen bewegten sich zwischen diesen Truppenmassen, die ohne sich zu regen wie versteinert in ihren Karrees dastanden, lässig, aber in symmetrischen Gruppen und vor allem frei und unbehindert die mehrere hundert Reiter zählende Suite und an ihrer Spitze zwei Männer: die beiden Kaiser. Auf diese beiden konzentrierte sich ungeteilt die leidenschaftliche, aber äußerlich beherrschte Aufmerksamkeit dieser ganzen Menschenmasse.
Dem schönen, jugendlichen Kaiser Alexander, in der Uniform der Chevaliergardisten, auf dem Kopf den Dreimaster mit aufgeschlagenen Krempen, mit seinem freundlichen Gesicht und der wohlklingenden, mäßig lauten Stimme, fiel von dieser allgemeinen Aufmerksamkeit der Löwenanteil zu.
Rostow stand nicht weit von der Regimentsmusik; mit seinen scharfen Augen hatte er den Kaiser schon von weitem erkannt und verfolgte sein Herankommen. Als sich der Kaiser bis auf zwanzig Schritt genähert hatte und Nikolai das schöne, jugendliche, glückstrahlende Gesicht des Herrschers deutlich in allen Einzelheiten erkennen konnte, da wurde in seiner Seele ein Gefühl der Rührung und der Begeisterung wach, wie er es bisher noch nie gekannt hatte. Alles an dem Kaiser schien ihm bezaubernd, jeder Gesichtszug, jede Bewegung.
Als der Kaiser vor die Front des Pawlograder Regiments gelangt war, hielt er an, sagte zu dem Kaiser von Österreich etwas auf französisch und lächelte.
Rostow, der dieses Lächeln sah, begann unwillkürlich selbst zu lächeln und fühlte, wie die Liebe zu seinem Kaiser in seinem Herzen noch stärker anschwoll. Gern hätte er seine Liebe zum Kaiser irgendwie zum Ausdruck gebracht. Er wußte, daß das ein Ding der Unmöglichkeit war, und hätte beinahe losgeweint. Der Kaiser rief den Regimentskommandeur vor und sagte zu ihm einige Worte.
»O Gott, wie würde mir zumute sein, wenn der Kaiser mich anredete!« dachte Rostow. »Ich würde sterben vor Glückseligkeit.«
Der Kaiser wandte sich auch an die Offiziere:
»Ihnen allen, meine Herren« (jedes Wort klang Rostow wie ein Ton vom Himmel), »danke ich von ganzem Herzen.«
Wie glücklich wäre Rostow gewesen, wenn er jetzt hätte für seinen Zaren sterben können.
»Sie haben Ihre Georgsfahnen verdient und werden sich ihrer auch künftig würdig zeigen.«
»Könnte ich nur für ihn sterben, für ihn sterben!« dachte Rostow.
Der Kaiser sagte noch etwas, was Rostow nicht deutlich verstand, und die Husaren schrien so kräftig: »Hurra!« als ob sie sich die Brust auseinandersprengen wollten.
Rostow schrie, sich auf den Sattel niederbeugend, gleichfalls aus voller Kraft mit und hätte sich mit diesem Schreien sogar gern Schaden getan, wenn er nur seine Begeisterung für den Kaiser so recht hätte dokumentieren können.
Der Kaiser hielt noch einige Sekunden vor der Front des Husarenregiments, wie wenn er über etwas, was er tun wollte, unschlüssig wäre.
»Wie kann der Kaiser unschlüssig sein?« dachte Rostow; aber dann erschien ihm sogar diese Unschlüssigkeit als etwas Majestätisches und Bezauberndes, wie eben alles, was der Kaiser tat.
Die Unentschlossenheit des Kaisers hatte nur einen Moment gedauert. Sein Fuß berührte mit der schmal zulaufenden Stiefelspitze, wie man sie damals trug, die Flanke der anglisierten braunen Stute, die er ritt; seine Hand im weißen Handschuh faßte die Zügel fester, und er entfernte sich, begleitet vom unordentlich wogenden Meer der Adjutanten. Weiter und weiter ritt er, bei andern Regimentern anhaltend, davon, und schließlich konnte Rostow nur noch seinen weißen Federbusch aus der Suite, die die Kaiser umgab, herauserkennen.
Unter den Herren in der Suite hatte Rostow auch Bolkonski bemerkt, der lässig und schlaff auf seinem Pferd saß. Es war ihm sein gestriger Streit mit dem Adjutanten eingefallen, und er legte sich nun die Frage vor, ob es angemessen sei, ihn zum Duell zu fordern oder nicht. »Natürlich ist es nicht angemessen«, war jetzt Rostows Anschauung. »Wie kann man an dergleichen denken und von dergleichen reden in einem Augenblick, wie der jetzige? In einem Augenblick, wo man von einem solchen Gefühl der Liebe, der Begeisterung und Selbstverleugnung erfüllt ist, was bedeuten da alle unsere Zänkereien und wechselseitigen Beleidigungen? Jetzt liebe ich alle Menschen und verzeihe allen Menschen«, dachte Rostow.
Nachdem der Kaiser fast bei allen Regimentern entlanggeritten war, zogen die Truppen bei ihm im Parademarsch vorüber, und Rostow ritt auf dem »Beduinen«, den er dem Rittmeister Denisow kürzlich abgekauft hatte, als Schließender seiner Eskadron, das heißt allein und dem Kaiser frei sichtbar.
Als er noch nicht ganz bis zum Kaiser gelangt war, gab Rostow, ein vorzüglicher Reiter, seinem »Beduinen« zweimal die Sporen und brachte ihn glücklich zu der wilden Trabart, die der »Beduine«, auf diese Weise gereizt, oft anschlug. Das Tier bog das schäumende Maul gegen die Brust, spreizte den Schweif ab und schien, indem es die Beine hoch hinaufwarf und graziös wechselte, in der Luft zu fliegen, ohne die Erde zu berühren; so kam der »Beduine«, der ebenfalls zu fühlen schien, daß der Blick des Kaisers auf ihm ruhte, vorzüglich vorbei.
Rostow selbst streckte die Beine nach hinten, zog den Bauch ein, und sich eins mit seinem Pferd fühlend, ritt er mit finsterem, aber glückseligem Gesicht »wie ein wahrer Satan«, nach Denisows Ausdruck, an dem Kaiser vorüber.
»Brave Burschen, die Pawlograder!« sagte der Kaiser.
»O Gott, o Gott, wie glücklich wäre ich, wenn er mir befehlen würde, mich jetzt auf der Stelle ins Feuer zu stürzen«, dachte Rostow.
Als die Truppenschau beendet war, traten die Offiziere, sowohl die neu angekommenen als auch die Kutusowschen, zu einzelnen Gruppen zusammen und unterhielten sich miteinander über Orden und Beförderungen, über die Österreicher und deren Uniformen und militärische Leistungen, über Bonaparte, und wie schlecht es ihm jetzt ergehen werde, namentlich wenn noch das Essensche Korps herankomme und Preußen auf unsere Seite trete.
Aber am häufigsten redeten sie in allen Gruppen vom Kaiser Alexander; sie machten einander von jedem seiner Worte, von jeder seiner Bewegungen Mitteilung und waren davon entzückt und begeistert.
Alle hatten nur einen Wunsch: unter Führung des Kaisers recht bald gegen den Feind vorzurücken. Unter dem persönlichen Kommando des Kaisers mußten sie ja siegen, wer auch immer ihnen gegenüberstand; so dachten nach der Truppenschau Rostow und die allermeisten Offiziere.
Alle glaubten nach der Truppenschau mit größerer Zuversicht an einen bevorstehenden Sieg, als sie es nach zwei gewonnenen Schlachten hätten tun können.
IX
Am Tag nach der Truppenschau legte Boris seine feinste Uniform an und ritt, von den besten Wünschen seines Kameraden Berg für guten Erfolg begleitet, nach Olmütz zu Bolkonski, in der Absicht, sich dessen wohlwollende Gesinnung zunutze zu machen und sich eine recht angenehme Stellung zu verschaffen, am liebsten eine Adjutantenstelle bei irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit; denn eine solche Stelle erschien ihm als die verlockendste in der ganzen Armee. »Ja«, dachte er, »dieser Rostow, der von seinem Vater fortwährend Summen von vielen tausend Rubeln geschickt bekommt, der hat gut reden, daß er sich vor niemand bücken und niemandes Lakai werden wolle. Aber ich, der ich nichts besitze als meinen Kopf, muß eifrig für meine Karriere sorgen und darf günstige Gelegenheiten nicht ungenutzt lassen.«
In Olmütz traf er an diesem Tag den Fürsten Andrei nicht an. Aber der Anblick dieser Stadt, wo sich das Hauptquartier und das diplomatische Korps befanden, und wo die beiden Kaiser mit ihren Suiten, mit dem Hofstaat und mit den sonstigen ihnen nahestehenden Persönlichkeiten wohnten, ließ seinen Wunsch, auch zu dieser höheren Welt zu gehören, nur noch lebhafter und stärker werden.
Er kannte hier niemand, und trotz seiner eleganten Gardeuniform standen, wie es schien, alle diese hohen Herren, teils Hofleute, teils Militärs, die mit Federbüschen, Orden und breiten Ordensbändern in prächtigen Equipagen eilig durch die Straßen rollten, so unermeßlich hoch über ihm, dem simplen Gardefähnrich, daß sie sich um seine Existenz nicht kümmern mochten, ja auch wohl gar nicht konnten. In dem Quartier des Oberkommandierenden Kutusow, wo er nach Bolkonski fragte, sahen ihn alle diese Adjutanten und sogar die Burschen so an, als ob sie ihm zu verstehen geben wollten, solche Offiziere wie er trieben sich hier massenhaft umher und seien ihnen schon zum Überdruß geworden. Trotzdem, oder vielmehr gerade deswegen, ritt er am folgenden Tag, dem 15., nach dem Mittagessen wieder nach Olmütz, ging in das von Kutusow bewohnte Haus und fragte nach Bolkonski. Fürst Andrei war zu Hause, und Boris wurde in einen großen Saal geführt, der wahrscheinlich früher als Tanzsaal gedient hatte, jetzt aber fünf Betten und verschiedene andere Möbel enthielt: einen Tisch, Stühle und ein Klavier. Ein Adjutant saß nicht weit von der Tür in einem persischen Schlafrock am Tisch und schrieb. Ein anderer, ein dicker Mensch mit rotem Gesicht (es war Neswizki) lag auf einem Bett, hatte die Hände unter den Kopf gelegt und unterhielt sich lachend mit einem andern neben ihm sitzenden Offizier. Ein dritter spielte auf dem Klavier einen Wiener Walzer, und ein vierter lag auf dem Klavier und sang dazu. Bolkonski war nicht anwesend. Obwohl diese Herren den eintretenden Boris bemerkten, sah sich doch keiner von ihnen veranlaßt, seine Haltung zu ändern oder seine Beschäftigung zu unterbrechen. Der, welcher schrieb und an den sich Boris wandte, drehte sich ärgerlich nach ihm um und sagte ihm, Bolkonski habe Dejour; wenn er ihn sprechen wolle, so möge er durch die Tür links in das Wartezimmer gehen. Boris bedankte sich und ging in das Wartezimmer. In dem Wartezimmer befanden sich etwa zehn Offiziere, darunter auch einige Generale.
In dem Augenblick, als Boris eintrat, hörte Fürst Andrei gerade, die Augen geringschätzig halb zukneifend (mit jener eigenartigen Miene höflicher Müdigkeit, welche deutlich sagt: »Wenn es nicht meine Pflicht wäre, würde ich keinen Augenblick länger mit Ihnen reden«), einen alten, mit Orden geschmückten russischen General an, der in strammer Haltung, beinah auf den Fußspitzen, mit dem Ausdruck einer sonst nur bei den untersten Rangstufen üblichen Unterwürfigkeit auf dem blauroten Gesicht ihm etwas meldete.
»Sehr schön, haben Sie die Güte ein wenig zu warten«, sagte er zu dem General auf russisch, aber mit jener französischen Klangfärbung, deren er sich zu bedienen pflegte, wenn er geringschätzig sprechen wollte. Nun bemerkte er Boris, nickte ihm zu und ging ihm freundlich lächelnd entgegen, ohne sich weiter um den General zu kümmern, der ihm nachlief und ihn flehentlich bat, ihm noch einen Augenblick Gehör zu schenken.
Bei diesem Anblick wurde sich Boris völlig klar über etwas, was er auch schon früher vermutet hatte, daß nämlich in der Armee außer derjenigen Subordination und Disziplin, von der das Reglement handelte, und die im Regiment bekannt war, und die auch er kannte, noch eine andere, wichtigere Subordination existierte, diejenige Subordination, die diesen General mit der festumschnürten Taille und dem blauroten Gesicht zwang, respektvoll so lange zu warten, wie der Hauptmann Fürst Andrei größeres Vergnügen daran fand, sich mit dem Fähnrich Drubezkoi zu unterhalten. Mit größerer Entschiedenheit als je vorher faßte Boris jetzt den Entschluß, künftighin nicht auf der Grundlage jener im Reglement festgesetzten Subordination, sondern auf der Grundlage dieser ungeschriebenen zu dienen. Er war sich jetzt bewußt, daß er, einzig und allein infolge der Empfehlung an den Fürsten Andrei, bereits auf einmal höher stand als ein General, der unter andern Umständen, nämlich bei der Truppe, ihn, den Gardefähnrich, hätte geradezu vernichten können.
Fürst Andrei trat zu ihm und ergriff seine Hand.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Ich habe den ganzen Tag über mit den Deutschen meine Plackerei gehabt. Ich war mit Weyrother hingeritten, um die Disposition nachzuprüfen. Na, und wenn die Deutschen erst mit ihrer Gründlichkeit anfangen, da ist kein Ende zu finden.«
Boris lächelte, als hätte er Verständnis für das, was Fürst Andrei wie etwas allgemein Bekanntes andeutete. Aber er hörte den Namen Weyrother und sogar das Wort Disposition in diesem Sinn zum erstenmal.
»Nun also, mein Lieber, haben Sie noch den Wunsch, Adjutant zu werden? Ich habe diese Zeit her wiederholt an Sie gedacht.«
»Ja, ich dachte den Oberkommandierenden darum zu bitten«, antwortete Boris mit unwillkürlichem Erröten. »Fürst Kuragin hat an ihn einen Empfehlungsbrief für mich geschrieben. Ich wollte nur deswegen darum bitten«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »weil ich fürchte, daß die Garde nicht ins Gefecht kommt.«
»Schön, schön! Wir wollen über all das noch genauer reden«, sagte Fürst Andrei. »Erlauben Sie nur, daß ich zuerst diesen Herrn anmelde; dann stehe ich vollständig zu Ihren Diensten.«
Während Fürst Andrei zu Kutusow hineinging, um den General mit dem blauroten Gesicht anzumelden, fixierte dieser General, der offenbar Boris' Ansicht über die Vorzüge der ungeschriebenen Subordination nicht teilte, den dreisten Fähnrich, der ihn gehindert hatte, sein Gespräch mit dem Adjutanten zu Ende zu bringen, so hartnäckig, daß es diesem unbehaglich wurde. Er wandte sich ab und wartete ungeduldig auf des Fürsten Andrei Rückkehr aus dem Arbeitszimmer des Oberkommandierenden.
»Sehen Sie, mein Lieber, ich habe über Ihre Angelegenheit nachgedacht«, sagte Fürst Andrei, nachdem sie in den großen Saal mit dem Klavier gegangen waren. »Daß Sie zum Oberkommandierenden gehen, hat keinen Zweck; er wird Ihnen einen Haufen Liebenswürdigkeiten sagen, wird Sie zum Diner einladen« (»Das wäre noch nicht so übel für mein künftiges Dienen auf der Grundlage jener Subordination«, dachte Boris); »aber weiter wird dabei für Sie nichts herauskommen; wir Adjutanten und Ordonnanzoffiziere werden bald ein ganzes Bataillon sein. Aber wir wollen die Sache so machen: der Generaladjutant Fürst Dolgorukow, ein ganz vortrefflicher Mensch, ist ein guter Freund von mir. Nun wissen Sie das zwar vielleicht noch nicht, aber die Sache ist tatsächlich die, daß jetzt Kutusow mit seinem Stab und wir alle nichts mehr zu sagen haben; alle Fäden laufen jetzt beim Kaiser zusammen. Also da wollen wir uns an Dolgorukow wenden; ich muß sowieso zu ihm hingehen und habe mit ihm schon von Ihnen gesprochen; wir wollen sehen, ob er eine Möglichkeit findet, Sie bei sich oder irgendwo dort in der Nähe der Sonne unterzubringen.«