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Fürst Andrei wurde immer besonders lebhaft und rege, wenn er in die Lage kam, einem jungen Mann Anleitung zu geben und ihm in der gesellschaftlichen Sphäre zu Erfolg zu verhelfen. Unter dem Vorwand, für einen andern eine Hilfe zu erbitten, die er für sich selbst aus Stolz niemals angenommen hätte, trat er gern in nähere Berührung mit jenen Kreisen, von denen aller Erfolg abhing, und die auf ihn eine starke Anziehungskraft ausübten. So nahm er sich denn des jungen Boris mit großem Vergnügen an und ging mit ihm zum Fürsten Dolgorukow.
Es war schon spätabends, als sie in das Olmützer Schloß hineingingen, wo die Kaiser und ihr Gefolge wohnten. An ebendiesem Tag hatte ein Kriegsrat stattgefunden, an welchem sämtliche Mitglieder des Hofkriegsrates und beide Kaiser teilgenommen hatten. Bei dieser Beratung war gegen die Ansicht zweier bejahrter Herren, nämlich Kutusows und des Fürsten Schwarzenberg, beschlossen worden, unverzüglich anzugreifen und Bonaparte eine Hauptschlacht zu liefern. Als Fürst Andrei, von Boris begleitet, in das Schloß kam, um den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, war der Kriegsrat soeben beendet. Jedermann im Hauptquartier stand noch unter dem starken Eindruck der heutigen, für die Partei der Jüngeren siegreichen Sitzung. Die Stimmen der Zauderer, welche geraten hatten, noch einige Zeit mit dem Angriff zu warten, waren so einmütig übertönt und ihre Gründe durch so unzweifelhafte Beweise von der Vorteilhaftigkeit eines Angriffs widerlegt worden, daß das, worüber im Kriegsrat gehandelt war, nämlich die bevorstehende Schlacht und der zweifellose Sieg, nicht mehr als etwas der Zukunft, sondern als etwas der Vergangenheit Angehöriges erschien. Alle Vorteile waren auf unserer Seite: gewaltige Streitkräfte, denen die Napoleons unzweifelhaft nicht gleichkamen, waren an einem Punkt zusammengezogen; die Truppen waren durch die Anwesenheit der Kaiser begeistert und brannten vor Kampfbegierde; der strategische Punkt, auf dem gekämpft werden sollte, war dem österreichischen General Weyrother, der die Truppen führte, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt (es erschien als ein glücklicher Zufall, daß die österreichischen Truppen im vorigen Jahr ein Manöver gerade auf dem Terrain abgehalten hatten, auf dem jetzt die Schlacht mit den Franzosen stattfinden sollte), und genaue Karten des Terrains waren an alle Beteiligten verteilt; und Bonaparte, der sich offenbar schwach fühlte, unternahm nichts.
Dolgorukow, einer der eifrigsten Vertreter der Ansicht, daß man angreifen müsse, war soeben aus der Sitzung zurückgekommen, ermüdet und erschöpft, aber doch lebhaft erregt und stolz auf den errungenen Sieg. Fürst Andrei stellte ihm den von ihm protegierten Offizier vor; aber Fürst Dolgorukow drückte diesem zwar höflich und mit Wärme die Hand, redete ihn jedoch nicht an; es drängte ihn offenbar unwiderstehlich, die Gedanken auszusprechen, die ihn in diesem Augenblick stärker als alles andere beschäftigten. Er wandte sich an den Fürsten Andrei und sagte auf französisch mit Lebhaftigkeit und in abgerissener Redeweise:
»Nun, mein Lieber, was haben wir für einen Kampf zu bestehen gehabt! Gott gebe nur, daß derjenige Kampf, der die Folge davon sein wird, ebenso siegreich ausgehe. Aber, mein Lieber, ich muß bekennen, daß ich den Österreichern, und namentlich diesem Weyrother, nicht das Wasser reiche. Welch eine Akkuratesse, welch eine Durchdringung der Einzelheiten, welch eine Kenntnis der Örtlichkeit, welch ein Vorhersehen aller Möglichkeiten, aller Umstände, aller, auch der kleinsten Details! Nein, mein Lieber, günstigere Umstände als die, in denen wir uns jetzt befinden, könnte man sich mit aller Mühe nicht ausdenken. Eine Vereinigung österreichischer Sorgsamkeit und russischer Tapferkeit – was will man mehr?«
»Also ist der Angriff definitiv beschlossen?« fragte Bolkonski.
»Und wissen Sie, mein Lieber, mir scheint, daß Bonaparte tatsächlich mit seinem Latein am Ende ist. Sie wissen, daß der Kaiser heute einen Brief von ihm bekommen hat.« Dolgorukow lächelte bedeutsam.
»Ei, so etwas! Nun, was schreibt er denn?« fragte Bolkonski.
»Was kann er denn schreiben? Wischiwaschi, alles nur mit der Absicht, Zeit zu gewinnen. Ich sage Ihnen: wir haben ihn vollständig in der Hand; das ist sicher! Aber was das Amüsanteste ist«, fuhr er fort und lachte dabei gutmütig, »wir konnten absolut keine angemessene Fassung der Adresse für die Antwort finden. Wenn man nicht: ›An den Konsul‹ adressieren wollte und selbstverständlich auch nicht: ›An den Kaiser‹, so empfahl es sich, wie mir schien: ›An den General Bonaparte‹ zu schreiben.«
»Aber ob man ihm den Kaisertitel vorenthält oder ihn so schlechtweg als General Bonaparte bezeichnet, dazwischen ist doch ein großer Unterschied«, meinte Bolkonski.
»Das ist's ja eben!« unterbrach ihn Dolgorukow schnell und lachte von neuem. »Sie kennen Bilibin; er ist ein sehr kluger Mensch; der schlug vor, zu adressieren: ›An den Usurpator und Feind des Menschengeschlechtes‹.«
Dolgorukow lachte vergnügt.
»Nichts Schlimmeres?« bemerkte Bolkonski.
»Aber dann hat Bilibin doch im Ernst einen passenden Titel für die Adresse gefunden. Er ist ein scharfsinniger, kluger Mensch.«
»Nun, welchen denn?«
»›An das Oberhaupt der französischen Regierung, au chef du gouvernement français‹«, sagte Fürst Dolgorukow ernst und mit Behagen. »Nicht wahr, das ist gut?«
»Ja, aber ihm wird es sehr mißfallen«, bemerkte Bolkonski.
»Oh, sehr, sehr! Mein Bruder kennt ihn; der hat in Paris mehrere Male bei ihm, dem jetzigen Kaiser, gespeist und hat mir gesagt, er habe nie in seinem Leben einen schlaueren, listigeren Diplomaten kennengelernt. Wissen Sie: eine Vereinigung französischer Gewandtheit und italienischer Verstellungskunst. Kennen Sie die Geschichte von Bonaparte und dem Grafen Markow? Graf Markow, das war der einzige, der mit ihm umzugehen wußte. Sie kennen die Geschichte von dem Taschentuch? Die ist allerliebst!«
Und nun erzählte der redselige Dolgorukow, indem er sich bald an Boris, bald an den Fürsten Andrei wandte, wie Bonaparte, um unsern Gesandten Markow auf die Probe zu stellen, vor ihm stehend absichtlich sein Taschentuch habe fallen lassen und ihn dann, doch wohl in der Erwartung eines Gefälligkeitsdienstes von seiten Markows, angesehen habe, und wie Markow sogleich sein eigenes Taschentuch habe daneben fallen lassen und das seinige aufgehoben habe, aber nicht das Tuch Bonapartes.
»Sehr nett«, sagte Bolkonski. »Aber was ich sagen wollte, Fürst, ich bin als Fürsprecher für diesen jungen Mann zu Ihnen gekommen. Bitte, sehen Sie zu, ob ...«
Aber Fürst Andrei konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen, da ein Adjutant ins Zimmer trat und den Fürsten Dolgorukow zum Kaiser rief.
»Ach, wie ärgerlich!« sagte Dolgorukow, stand schnell auf und drückte dem Fürsten Andrei und Boris die Hand. »Sie wissen, daß ich mich sehr freue, für Sie und für diesen liebenswürdigen jungen Mann alles zu tun, was in meinen Kräften steht.« Er drückte Boris noch einmal die Hand mit dem Ausdruck gutmütiger Aufrichtigkeit und munterer Harmlosigkeit. »Aber Sie sehen ... Ein andermal!«
Den jungen Fähnrich Boris regte der Gedanke auf, wie nah er sich in diesem Augenblick der höchsten Instanz befand. Hier fühlte er sich in Berührung mit jenen Triebfedern, von welchen alle jene gewaltigen Massen in Bewegung gesetzt wurden; wenn er dagegen bei seinem Regiment war, so hatte er die Empfindung, daß er nur ein kleiner, gehorsamer, unbedeutender Teil dieser Massen sei. Fürst Andrei und er traten nach dem Fürsten Dolgorukow ebenfalls auf den Korridor hinaus und begegneten dort einem Herrn, der aus derselben Tür zu dem Zimmer des Kaisers herauskam, in welche Dolgorukow hineinging. Er trug Zivil, war von kleiner Statur, noch jung und hatte ein kluges Gesicht, das durch den vorstehenden Unterkiefer einen strengen, scharfen Zug erhielt; aber dieser Zug entstellte sein Gesicht nicht, sondern ließ dasselbe vielmehr besonders lebhaft und ausdrucksfähig erscheinen. Dieser kleine Herr nickte dem Fürsten Dolgorukow wie einem guten Bekannten zu; den Fürsten Andrei sah er mit einem kalten Blick starr an, ging gerade auf ihn zu und erwartete offenbar, daß Fürst Andrei ihn grüßen oder ihm Platz machen werde. Fürst Andrei jedoch tat weder das eine noch das andere; er machte ein ärgerliches Gesicht, und der junge Mann wandte den Kopf weg und ging mehr nach der Seitenwand des Korridors zu an ihnen vorüber.
»Wer war das?« fragte Boris.
»Das ist einer von den einflußreichsten, aber mir unangenehmsten Menschen. Es ist der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Fürst Adam Czartoryski. Das sind die Leute«, sagte Bolkonski, während sie aus dem Schloß hinausgingen, mit einem Seufzer, den er nicht unterdrücken konnte, »das sind die Leute, die das Schicksal der Völker entscheiden.«
Am andern Tag setzten sich die Truppen in Marsch, und Boris fand vor der Schlacht bei Austerlitz keine Zeit mehr, den Fürsten Bolkonski oder den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, und blieb daher vorläufig noch im Ismaïler Regiment.
X
In der Morgenfrühe des 16. November brach Denisows Eskadron, in welcher Nikolai Rostow stand, und die zur Abteilung des Fürsten Bagration gehörte, aus ihrem Quartier auf. Es hieß, sie werde ins Gefecht kommen; aber nachdem sie, hinter anderen Kolonnen einherziehend, ungefähr eine Werst zurückgelegt hatte, erhielt sie Befehl, sich neben der Chaussee aufzustellen. Rostow sah, wie eine Kosakenabteilung an seiner Eskadron vorbei weiterzog, desgleichen die erste und zweite Eskadron seines Husarenregiments, und Infanteriebataillone und Artillerie, und wie die Generale Bagration und Dolgorukow mit ihren Adjutanten vorbeiritten. All die Furcht, der er an diesem Tag, ebenso wie früher, vor dem Gefecht unterworfen gewesen war, der ganze innere Kampf, mittels dessen er diese Furcht überwunden hatte, all seine Phantasien, in denen er sich ausgemalt hatte, wie er sich so recht husarenmäßig in diesem Gefecht auszeichnen wolle: das alles war nun vergebens gewesen. Seine Eskadron wurde in der Reserve zurückbehalten, und Nikolai Rostow verbrachte diesen Tag in recht langweiliger, verdrießlicher Weise. Zwischen acht und neun Uhr vormittags hörte er von vorn her Schießen und Hurrarufen, sah, wie Verwundete zurücktransportiert wurden (es waren ihrer nicht viele), und schließlich, wie inmitten einer Kosakeneskadron eine ganze Abteilung gefangener französischer Kavalleristen vorbeigeführt wurde. Offenbar war das Gefecht beendet, und es war augenscheinlich nicht groß, aber glücklich gewesen. Die auf dem Rückmarsch vorbeikommenden Soldaten und Offiziere erzählten von einem glänzenden Sieg, von der Einnahme der Stadt Wischau und von der Gefangennahme einer ganzen französischen Eskadron. Nach einem starken Nachtfrost war es ein klarer, sonniger Tag geworden; zu dem heiteren Glanz des Herbsttages kam nun noch die Siegesnachricht, die man nicht nur aus den Erzählungen der Teilnehmer am Kampf erfuhr, sondern auch durch die frohen Mienen der Soldaten, Offiziere, Generale und der nach der einen und nach der andern Seite vorbeisprengenden Adjutanten bestätigt fand. Um so schmerzlicher zog sich Nikolais Herz zusammen, der die ganze Furcht, die bei ihm immer einem Kampf vorherging, vergeblich durchgemacht hatte und diesen heiteren Tag in Untätigkeit hatte verbringen müssen.
»Komm her, Rostow, wir wollen unsern Kummer vertrinken!« rief Denisow, der sich am Rand der Chaussee bei einer Flasche und einem kalten Imbiß niedergelassen hatte.
Die Offiziere versammelten sich im Kreis um Denisows Proviantkorb, aßen und redeten miteinander.
»Da bringen sie noch einen!« sagte einer von ihnen und zeigte auf einen gefangenen französischen Dragoner, den zwei Kosaken zu Fuß vorbeitransportierten.
Der eine von ihnen führte das dem Gefangenen abgenommene große, schöne französische Pferd am Zügel.
»Verkaufe doch das Pferd!« rief Denisow dem Kosaken zu.
»Gern, Euer Wohlgeboren ...«
Die Offiziere standen auf und umringten die Kosaken und den gefangenen Franzosen. Der französische Dragoner war ein junger Bursche, ein Elsässer, der Französisch mit deutscher Färbung sprach. Er war vor Aufregung ganz außer Atem und hatte ein gerötetes Gesicht, und als er die Offiziere Französisch sprechen hörte, redete er sie schnell an, indem er sich bald an diesen, bald an jenen wendete. Er sagte, er würde sich nicht haben gefangennehmen lassen; daß er gefangengenommen sei, daran sei nicht er schuld, sondern sein Korporal, der ihn weggeschickt habe, um die Pferdedecken zu holen, obgleich er ihm gesagt habe, daß die Russen schon da seien. Alle Augenblicke sagte er dazwischen: »Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, und streichelte sein Pferd. Es war augenscheinlich, daß er sich nicht recht klar darüber war, wo er sich eigentlich befand. Bald entschuldigte er sich, daß er sich hatte gefangennehmen lassen, bald hatte er die Vorstellung, daß er seine Vorgesetzten vor sich habe, und suchte seine soldatische Pünktlichkeit und seinen Diensteifer ins rechte Licht zu setzen. So brachte er die eigentümliche Atmosphäre des französischen Heeres, die den Russen so fremd war, in ihrer ganzen Frische mit sich in unsere Vorhut hinein.
Die Kosaken verkauften das Pferd für zwei Dukaten, und Rostow, der jetzt, wo er Geld bekommen hatte, der reichste von den Offizieren war, kaufte es.
»Ich bitte nur, daß meinem lieben, guten Pferd nichts zuleide getan wird«, sagte der Elsässer gutherzig zu Rostow, als das Pferd einem Husaren übergeben wurde.
Lächelnd beruhigte Rostow den Dragoner darüber und gab ihm etwas Geld.
»Allö! Allö!« sagte der eine Kosak und berührte den Gefangenen am Arm, damit er weiterginge.
»Der Kaiser! Der Kaiser!« wurde plötzlich unter den Husaren gerufen.
Alles lief und hastete, und Rostow erblickte von hinten her auf dem Weg einige sich nähernde Reiter mit weißen Federbüschen. In einem Augenblick waren alle auf ihren Plätzen und warteten.
Rostow hatte gar kein Bewußtsein und Gefühl davon, wie er an seinen Platz lief und sich auf sein Pferd setzte. Verschwunden war augenblicklich sein schmerzliches Bedauern darüber, daß er nicht hatte am Kampf teilnehmen können, verschwunden die Alltagsstimmung, in der er sich inmitten der ihm schon so langweilig gewordenen Gesichter befunden hatte, verschwunden sofort jeder Gedanke an seine eigene Person: sein Herz war ganz erfüllt von der Glücksempfindung, die die Nähe des Kaisers in ihm hervorrief. Schon allein durch diese Nähe fühlte er sich für den Verlust des heutigen Tages entschädigt. Er war glücklich wie ein Verliebter, dem die ersehnte Begegnung endlich zuteil wird. Er wagte nicht, in Reih und Glied den Kopf zu drehen; aber er empfand mit dem Instinkt der Begeisterung die Annäherung des Kaisers. Und zwar merkte er das nicht nur an dem Klang der Hufschläge der sich nähernden Kavalkade, sondern er fühlte es daran, daß, je näher sie herankam, um so heller, freudiger, bedeutsamer, festtäglicher alles um ihn herum wurde. Immer mehr und mehr näherte sich ihm diese Sonne, Strahlen milden, majestätischen Lichtes um sich verbreitend, und nun fühlte er sich schon von diesen Strahlen umflossen, er hörte die Stimme des Kaisers, diese freundliche, ruhige Stimme, die zugleich so majestätisch und so schlicht klang. Eine Totenstille war eingetreten, wie es auch nach Rostows Empfindung gar nicht anders sein konnte, und in dieser Stille ertönte die Stimme des Kaisers.
»Die Pawlograder Husaren?« sagte er im Ton der Frage.
»Die Reserve, Euer Majestät«, antwortete eine andere Stimme, eine recht menschenartige Stimme nach jener einer höheren Welt angehörigen Stimme, die gesagt hatte: »Die Pawlograder Husaren?«
Der Kaiser war nun bis zu Rostow gelangt und hielt an. Das Gesicht Alexanders war noch schöner als bei der Truppenschau vor drei Tagen. Es glänzte von einer solchen Heiterkeit und Jugendfrische, von einer so unschuldsvollen Jugendfrische, daß es an die ausgelassene Munterkeit eines vierzehnjährigen Knaben erinnerte, und doch war es dabei zugleich das Antlitz eines majestätischen Herrschers. Während der Kaiser einen musternden Blick über die Eskadron gleiten ließ, begegneten seine Augen zufällig den Augen Rostows und blieben nicht länger als zwei Sekunden auf ihnen haften. Ob der Kaiser erkannte, was in Rostows Seele vorging, war wohl schwer zu sagen (Rostow war der Meinung, daß der Kaiser alles erkenne); aber er blickte ihm zwei Sekunden lang mit seinen blauen Augen, denen ein mildes, sanftes Licht entströmte, ins Gesicht. Dann zog er auf einmal die Brauen in die Höhe, stieß mit einer scharfen Bewegung des linken Fußes das Pferd an und galoppierte weiter in der Richtung nach vorn.
Der junge Kaiser hatte dem Wunsch, bei dem Kampf zugegen zu sein, nicht widerstehen können, hatte trotz aller Gegenvorstellungen seiner Umgebung um zwölf Uhr die dritte Kolonne, die er bis dahin begleitet hatte, verlassen und war in scharfer Gangart zur Vorhut geritten. Aber noch ehe er zu den Husaren gelangt war, waren ihm einige Adjutanten mit der Nachricht von dem glücklichen Ausgang des Kampfes entgegengekommen.
Das Treffen, das eigentlich nur darin bestanden hatte, daß eine französische Eskadron besiegt worden war, wurde als ein glänzender Sieg über die Franzosen dargestellt, und daher waren der Kaiser und die ganze Armee (namentlich solange sich der Pulverrauch noch nicht von dem Kampfplatz verzogen hatte) des Glaubens, die Franzosen seien besiegt und auf einem unfreiwilligen Rückzug begriffen. Einige Minuten, nachdem der Kaiser vorbeigeritten war, wurde auch diese Eskadron der Pawlograder nach vorn beordert. In dem kleinen deutschen Städtchen Wischau sah Rostow den Kaiser noch einmal. Auf dem Marktplatz, wo vor der Ankunft des Kaisers ein ziemlich heftiges Schießen stattgefunden hatte, lagen einige Gefallene und Verwundete, die man noch nicht Zeit gefunden hatte wegzuschaffen. Der Kaiser, von seiner militärischen und nichtmilitärischen Suite umgeben, ritt ein anderes Pferd als bei der Truppenschau, eine anglisierte Fuchsstute; sich zur Seite herabbiegend, hielt er mit einer anmutigen Bewegung seine goldene Lorgnette vor die Augen und betrachtete durch sie einen Soldaten, der mit dem Gesicht nach unten, ohne Tschako, mit blutigem Kopf dalag. Der verwundete Soldat sah so unsauber, plump und garstig aus, daß sich Rostow von dessen Anwesenheit in nächster Nähe des Kaisers peinlich berührt fühlte. Rostow sah, daß die herabgebeugten Schultern des Kaisers wie von einem durch sie hinlaufenden Schauder zusammenzuckten; er sah, daß der linke Fuß des Kaisers krampfhaft mit dem Sporn das Pferd in die Seite stieß, daß aber das dressierte Tier sich gleichmütig umsah und sich nicht von der Stelle rührte. Ein Adjutant stieg vom Pferd, faßte den Soldaten unter die Arme und schickte sich an, ihn auf eine schnell herbeigebrachte Tragbahre zu legen.
»Sachte, sachte, geht es denn nicht sachter?« sagte der Kaiser, der offenbar mehr litt als der sterbende Soldat, und ritt weiter.
Rostow sah, daß dem Kaiser die Tränen in den Augen standen, und hörte, wie er im Weiterreiten auf französisch zu Czartoryski sagte:
»Der Krieg ist doch etwas Furchtbares, etwas ganz Furchtbares!«
Die zur Vorhut gehörigen Truppen lagerten sich vor Wischau, gegenüber der feindlichen Vorpostenkette, die während dieses ganzen Tages stets vor den Unsrigen zurückgewichen war, sobald diese auch nur einige wenige Schüsse abgegeben hatten. Der Vorhut wurde der Dank des Kaisers ausgesprochen, es wurden ihr Belohnungen in Aussicht gestellt, und an die Mannschaften wurden doppelte Rationen Branntwein verteilt. Noch lustiger als in der vorhergehenden Nacht knisterten die Biwakfeuer und tönten die Lieder der Soldaten. Denisow feierte in dieser Nacht seine Beförderung zum Major, und gegen Ende des Gelages brachte Rostow, der schon ziemlich viel getrunken hatte, einen Toast auf den Kaiser aus, aber »nicht auf Seine Majestät, unsern Allergnädigsten Kaiser und Herrn, wie es bei offiziellen Diners heißt«, sagte er, »sondern auf die Gesundheit unseres lieben, guten Kaisers, des bezaubernden, herrlichen Menschen; trinken wir auf seine Gesundheit und auf den sicheren Sieg über die Franzosen!«
»Wenn wir uns schon früher brav geschlagen haben«, sagte er, »und, wie bei Schöngrabern, uns von den Franzosen nichts haben gefallen lassen, wie wird es nun erst jetzt gehen, wo er an unserer Spitze ist? Wir alle werden gern für ihn sterben, werden mit Wonne für ihn sterben. Nicht wahr, meine Herren? Vielleicht treffe ich nicht die richtigen Ausdrücke; ich habe viel getrunken; aber das ist meine Empfindung, und gewiß auch die Ihrige. Auf die Gesundheit Alexanders des Ersten! Hurra!«
»Hurra!« riefen die Offiziere in hoher Begeisterung.
Auch der alte Rittmeister Kirsten schrie begeistert mit und nicht minder herzlich als der zwanzigjährige Rostow.
Als die Offiziere ausgetrunken und ihre Gläser zerschlagen hatten, goß Kirsten andere Gläser voll und ging, nur in Hemd und Hose, mit einem Glas in der Hand, zu den Biwakfeuern der Mannschaften hin. In imponierender Haltung, den rechten Arm hoch erhoben, mit seinem langen, grauen Schnurrbart und der behaarten Brust, die unter dem offenstehenden Hemd sichtbar wurde, blieb er im Schein eines Feuers stehen.
»Kinder, auf die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers und auf den Sieg über die Feinde, Hurra!« rief er mit seiner, trotz des Alters immer noch frisch und jugendlich klingenden Husarenstimme, einem hübschen Bariton.
Die Husaren drängten sich um ihn und antworteten alle zugleich mit lautem Geschrei.
Als spät in der Nacht alle Teilnehmer des Zechgelages sich entfernt hatten, klopfte Denisow mit seiner kurzfingerigen Hand seinem Liebling Rostow auf die Schulter.
»Nun sehe mal einer diesen Burschen an! Weil er in dem Feldzug niemand hat, in den er sich verlieben könnte, hat er sich in den Zaren verliebt«, sagte er.
»Denisow, darüber darfst du nicht spotten!« rief Rostow. »Das ist ein so hohes, so schönes Gefühl, ein so ...«
»Ich glaube es, ich glaube es, Freundchen, und ich teile dieses Gefühl und billige es durchaus ...«
»Nein, du hast kein Verständnis dafür!«
Rostow stand auf und schlenderte zwischen den Lagerfeuern umher und erging sich in Träumereien darüber, welch ein Glück es wäre zu sterben, nicht als Lebensretter des Kaisers (davon wagte er gar nicht zu träumen), sondern einfach nur vor den Augen des Kaisers. Er war tatsächlich in den Kaiser verliebt und in den Ruhm der russischen Waffen und in die Hoffnung auf den bevorstehenden Sieg und Triumph. Und er war nicht der einzige, den dieses Gefühl in jenen denkwürdigen Tagen erfüllte, die der Schlacht bei Austerlitz vorhergingen; neun Zehntel der russischen Armee waren damals, wenn auch weniger enthusiastisch als er, in ihren Zaren und in den Ruhm der russischen Waffen verliebt.
XI
Am folgenden Tag blieb der Kaiser in Wischau. Sein Leibarzt Villiers wurde mehrere Male zu ihm gerufen. Im Hauptquartier und bei den in der Nähe lagernden Truppenteilen war die Nachricht verbreitet, dem Kaiser sei nicht wohl. Er hatte, wie aus seiner Umgebung verlautete, nichts gegessen und die letzte Nacht schlecht geschlafen. Der Grund dieses Unwohlseins lag in dem starken Eindruck, den der Anblick der Verwundeten und Getöteten auf das weiche Herz des Kaisers gemacht hatte.
Am frühen Morgen des 17. November wurde von den Vorposten ein französischer Offizier, der mit einer Parlamentärsflagge gekommen war und gebeten hatte, den Kaiser von Rußland sprechen zu dürfen, nach Wischau geleitet. Dieser Offizier war Savary. Der Kaiser war eben erst eingeschlafen, und daher mußte Savary warten. Um Mittag wurde er beim Kaiser vorgelassen, und eine Stunde darauf ritt er zu den Vorposten der französischen Armee zurück, begleitet von dem Fürsten Dolgorukow.
Wie man hörte, bestand der Zweck der Sendung Savarys darin, dem Kaiser Alexander den Vorschlag zu einer Zusammenkunft mit Napoleon zu machen. Eine persönliche Zusammenkunft war von Kaiser Alexander zur großen Freude und stolzen Genugtuung des ganzen Heeres abgelehnt worden; statt dessen wurde nun Fürst Dolgorukow, der Sieger von Wischau, mit Savary zusammen abgesandt, um mit Napoleon zu verhandeln, falls dem Verlangen desselben nach Verhandlungen wider Vermuten wirklich der Wunsch, Frieden zu schließen, zugrunde liegen sollte.