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Die Redenden waren Burschen und Diener Kutusows, die mit Einpacken beschäftigt waren. Einer von ihnen, wohl ein Kutscher oder Reitknecht, neckte den alten, dem Fürsten Andrei wohlbekannten Koch Kutusows, namens Tit, und sagte:
»Tit, he, Tit!«
»Was ist?« antwortete der Alte.
»Tit, Tit, Tit! Hast du Appetit, tit, tit?« sagte der Spaßmacher.
»Hol dich der Teufel!« rief der Gefoppte, dessen Stimme aber von dem Gelächter der Burschen und Diener fast übertönt wurde.
»Und doch ist das Ziel meiner Wünsche und meines Strebens nur die Herrschaft über all diese Menschen, und als das einzig Wertvolle erscheint mir die Macht und der Ruhm, die geheimnisvoll hier in diesem Nebel über meinem Haupt schweben.«
XIII
Rostow stand in dieser Nacht mit einem Beritt in der Vorpostenkette vor der Abteilung Bagrations. Seine Husaren waren paarweise auf einer ziemlich langen Linie verteilt; er selbst ritt an dieser Linie entlang, bemüht, den Schlaf von sich abzuwehren, dem er kaum mehr widerstehen konnte. Hinter sich erblickte er, über einen gewaltigen Raum ausgedehnt, die Lagerfeuer unseres Heeres, deren Glutschein im Nebel nur undeutlich zu sehen war; vor ihm lag neblige Dunkelheit. Soviel auch Rostow in diese neblige Ferne hineinspähte, er sah nichts: bald schien da etwas Graues oder Schwarzes vorhanden zu sein, bald schienen da, wo der Feind sein mußte, Lichter aufzublitzen, bald wieder meinte er, daß das alles nur ein Flimmern in seinen Augen sei. Mitunter fielen ihm die Augen zu, und dann führte ihm seine Einbildungskraft bald den Kaiser vor, bald Denisow, bald Moskauer Erinnerungen, und schnell riß er die Augen wieder auf und erblickte nahe vor sich den Kopf und die Ohren des Pferdes, auf dem er saß, und manchmal die schwarzen Gestalten seiner Husaren, wenn er auf sechs Schritt an sie herangekommen war, und in der Ferne immer dieselbe neblige Dunkelheit. »Warum nicht?« sagte Rostow, mit halbgeschlossenen Augen phantastische Ge danken ausspinnend, zu sich selbst. »Leicht möglich, daß der Kaiser, wenn er mich trifft, mir einen Auftrag gibt, wie er es ja auch bei andern Offizieren öfters tut. Er wird zum Beispiel sagen: ›Reite mal hin und bringe in Erfahrung, was da los ist.‹ Es gibt viele Geschichten darüber, wie er auf diese Weise ganz zufällig irgendeinen Offizier kennengelernt und ihn dann in seine Nähe gezogen hat. Wie, wenn er so auch mich in seine Nähe zöge! Oh, wie wollte ich ihn behüten und ihm die reine Wahrheit sagen und alle, die ihn zu betrügen suchen, entlarven!« Und um sich seine Liebe und Treue gegen den Kaiser recht lebhaft zu vergegenwärtigen, stellte sich Rostow einen Feind oder einen betrügerischen Deutschen vor, den er mit Hochgenuß nicht nur tötete, sondern auch vor den Augen des Kaisers ohrfeigte. Plötzlich schreckte ein fernes Geschrei Rostow aus seinem Halbschlaf auf. Er fuhr zusammen und öffnete die Augen.
»Wo bin ich? Ja, bei den Vorposten; Losung und Parole: Deichsel, Olmütz. Wie ärgerlich, daß unsere Eskadron morgen in der Reserve bleibt!« dachte er. »Ich will bitten, mich am Kampf teilnehmen zu lassen. Das ist vielleicht für mich die einzige Möglichkeit, den Kaiser zu sehen. Jetzt wird es nicht mehr lange hin sein bis zur Ablösung. Ich will noch einmal entlangreiten, und wenn ich zurückkomme, will ich zum General gehen und ihm meine Bitte vorlegen.« Er setzte sich auf dem Sattel zurecht und trieb sein Pferd an, um noch einmal seine Husaren zu revidieren. Es kam ihm vor, als ob es heller geworden wäre. Zur Linken war ein vom Monde beschienener sanfter Abhang und ein ihm gegenüberliegender schwarzer Hügel zu sehen, der steil wie eine Wand erschien. Auf diesem Hügel war ein weißer Fleck, aus welchem Rostow nicht recht klug werden konnte: war es eine vom Mond beschienene Lichtung im Wald oder liegengebliebener Schnee oder weiße Häuser? Es wollte ihm sogar scheinen, als ob sich auf diesem weißen Fleck etwas bewegte. »Wahrscheinlich ist es Schnee, dieser Fleck; ein Fleck, une tache ... tache ... tache ... Natascha ... Natascha, meine Schwester, mit den schwarzen Augen. Die liebe Natascha. (Die wird sich wundern, wenn ich ihr erzähle, daß ich den Kaiser gesehen habe!) Natascha ... Die Tasche, da nimm die Säbeltasche ...« – »Bitte, mehr rechts, Euer Wohlgeboren; sonst geraten Sie ins Gebüsch«, sagte die Stimme eines Husaren, neben dem der im Einschlafen begriffene Rostow vorbeiritt. Rostow hob den Kopf in die Höhe, der ihm schon bis auf die Mähne des Pferdes hinabgesunken war, und hielt vor dem Husaren an. Der Schlaf überkam ihn unwiderstehlich, wie man es bei kleinen Kindern sieht. »Ja, ja, woran dachte ich doch noch? Das möchte ich nicht vergessen. Wie ich mit dem Kaiser reden werde? Nein, das war es nicht; das kommt erst morgen. Ja, ja! Auf die Tasche treten, darüber fallen ... überfallen, uns überfallen, wen? Die Husaren. Husaren und Schnurrbärte ... Bei uns in Moskau in der Twerskaja-Straße, da ritt so ein Husar mit einem Schnurrbart; ich habe noch neulich an ihn gedacht, gerade gegenüber dem Gurjewschen Haus ... Der alte Gurjew ... Ja, Denisow ist doch ein prächtiger Mensch! Aber das alles sind ja Kleinigkeiten. Die Hauptsache ist jetzt, daß der Kaiser hier ist. Wie er mich ansah; er wollte etwas sagen, aber er wagte es nicht ... Nein, der es nicht wagte, das war ich. Aber das ist Unsinn; die Hauptsache ist: ich darf nicht vergessen, was ich Wichtiges gedacht habe, ja. Auf die Tasche, darüber fallen, uns überfallen, ja, ja, ja. So ist's in Ordnung.« Er fiel wieder mit dem Kopf auf den Hals des Pferdes. Plötzlich schien es ihm, als würde auf ihn geschossen. »Was ist das? Was ist das ...? Einhauen! Was ist das ...?« rief Rostow, zu sich kommend. In dem Augenblick, wo er die Augen öffnete, hörte er vor sich, dort, wo der Feind stand, ein langgezogenes, tausendstimmiges Geschrei. Sein eigenes Pferd und das des Posten stehenden Husaren, neben dem er noch immer hielt, spitzten bei diesem Geschrei die Ohren. An der Stelle, von der das Geschrei herübertönte, leuchtete ein Lichtschein auf und erlosch wieder, dann ein zweiter, und in der ganzen Linie der französischen Truppen auf dem Berg flammten Feuer auf, und das Geschrei wurde immer stärker und stärker. Rostow hörte den Klang französischer Worte, konnte sie aber nicht verstehen. Es tönten zu viele Stimmen durcheinander. Man hörte nur: aaaa! und rrrr!
»Was ist das? Was meinst du dazu?« wandte sich Rostow an den neben ihm haltenden Husaren. »Das ist doch beim Feind?«
Der Husar gab keine Antwort.
»Na, hörst du es denn etwa nicht?« fragte Rostow wieder, nachdem er ziemlich lange auf eine Antwort gewartet hatte.
»Wer kann wissen, was das ist, Euer Wohlgeboren?« antwortete der Husar endlich gezwungen.
»Nach der Gegend zu urteilen, muß es wohl der Feind sein?« setzte Rostow seine Fragen fort.
»Vielleicht ist er's, vielleicht auch nicht«, sagte der Husar. »Bei Nacht ist das so eine Sache ... Na! Ruhig!« rief er seinem Pferd zu, das sich unter ihm regte.
Rostows Pferd wurde gleichfalls unruhig, schlug mit dem Huf gegen die gefrorene Erde, horchte auf die Töne und blickte nach den Feuern. Das Geschrei der vielen Stimmen wuchs immer stärker an und floß in ein allgemeines Gebrause zusammen, wie es nur ein Heer von vielen tausend Köpfen hervorbringen konnte. Die Feuer verbreiteten sich immer weiter und weiter, wahrscheinlich an der ganzen Linie des französischen Lagers entlang. Rostows Schläfrigkeit war verschwunden. Das frohe, triumphierende Geschrei im feindlichen Heer machte ihn wach und munter. »Vive l'empereur, l'empereur!« konnte Rostow jetzt deutlich hören.
»Es kann nicht weit sein, wahrscheinlich gleich jenseits des Baches«, sagte er zu dem Husaren.
Der Husar seufzte nur, antwortete nichts und räusperte sich verdrießlich. Längs der Vorpostenlinie der Husaren war ein herantrabender Reiter zu hören, und aus dem nächtlichen Nebel hob sich plötzlich, einen Augenblick lang einem gewaltigen Elefanten gleich, die Gestalt eines Husarenunteroffiziers heraus.
»Euer Wohlgeboren, die Generale!« sagte der Unteroffizier zu Rostow heranreitend. Rostow ritt mit dem Unteroffizier, indem er sich dabei immer noch nach den Feuern und dem Geschrei umsah, einer Anzahl von Reitern entgegen, die an der Vorpostenkette entlanggeritten kamen. Einer ritt auf einem Schimmel. Es waren Fürst Bagration und Fürst Dolgorukow nebst ihren Adjutanten; sie waren ausgeritten, um nach dieser seltsamen Erscheinung im feindlichen Lager, den Feuern und dem Geschrei, Ausschau zu halten. Rostow ritt an Bagration heran, stattete seinen Rapport ab und schloß sich dann den Adjutanten an, um zu hören, was die Generale sagen würden.
»Glauben Sie mir«, sagte Fürst Dolgorukow, zu Bagration gewendet, »das Ganze ist weiter nichts als eine List: er hat sich zurückgezogen und die Arrieregarde angewiesen, Feuer anzuzünden und Lärm zu machen, um uns zu täuschen.«
»Schwerlich«, erwiderte Bagration. »Ich habe sie noch abends auf jenem Hügel gesehen; zöge der Feind sich zurück, so wären sie auch von dort schon verschwunden ... Herr Offizier«, wandte sich Fürst Bagration an Rostow, »stehen dort noch seine Vorposten?«
»Am Abend standen sie noch da; wie es jetzt ist, weiß ich nicht, Euer Durchlaucht. Wenn Sie befehlen, werde ich mit ein paar Husaren hinreiten«, erwiderte Rostow.
Bagration hielt an; ohne zu antworten, suchte er in dem Nebel Rostows Gesicht zu erkennen.
»Nun gut, sehen Sie einmal zu«, sagte er nach kurzem Stillschweigen.
»Zu Befehl.«
Rostow gab seinem Pferd die Sporen, rief den Unteroffizier Fedtschenko und noch zwei Husaren herbei, befahl ihnen, hinter ihm herzureiten, und ritt im Trab bergab auf das immer noch fortdauernde Geschrei zu. Es war ihm ängstlich und froh zugleich zumute, wie er da so allein mit seinen drei Husaren dahinritt in diese geheimnisvolle, gefährliche, neblige Ferne, wo vor ihm noch niemand gewesen war. Bagration rief ihm von oben her noch nach, er solle nicht weiter als bis an den Bach reiten; aber Rostow tat, als hätte er diese Weisung nicht mehr gehört, und ritt, ohne anzuhalten, weiter und weiter, wobei er sich fortwährend irrte, indem er Büsche für Bäume und Wasserrinnsale für Menschen hielt, und dann fortwährend seines Irrtums innewurde. Als er im Trab am Fuße des Berges angelangt war, sah er weder die Lagerfeuer der Unsrigen noch die der Feinde mehr, hörte aber das Schreien der Franzosen lauter und deutlicher. Im Talgrund erblickte er etwas vor sich, was wie ein Fluß aussah; aber als er hingelangt war, sah er, daß es ein Fahrweg war. Er ritt auf den Weg und hielt unschlüssig sein Pferd an: sollte er den Weg verfolgen oder ihn kreuzen und über das schwarze Feld bergauf reiten? Auf dem im Nebel hellschimmernden Weg zu reiten war minder gefährlich, weil es hier eher möglich war, menschliche Gestalten zu unterscheiden. »Mir nach!« kommandierte er, kreuzte den Weg und ritt im Galopp bergauf nach dem Ort hin, wo am Abend ein französisches Pikett gestanden hatte.
»Euer Wohlgeboren, da ist er«, sagte hinter ihm einer der Husaren.
Und Rostow hatte noch nicht Zeit gehabt, einen schwärzlichen Gegenstand, der plötzlich im Nebel sichtbar wurde, zu erkennen, als ein Feuerschein aufblitzte, ein Schuß knallte und die Kugel mit einer Art von klagendem Pfeifen oben durch den Nebel flog und sich aus der Hörweite verlor. Ein zweites Gewehr ging nicht los; es blitzte nur das Pulver auf der Zündpfanne auf. Rostow warf sein Pferd herum und ritt im Galopp zurück. Noch vier Schüsse ertönten in verschiedenen Zeitabständen, und mit verschiedenartig singenden Tönen flogen die Kugeln irgendwo durch den Nebel. Rostow hielt sein Pferd zurück, das, ebenso wie er selbst, durch die Schüsse in eine fröhliche Erregung gekommen war, und ritt im Schritt weiter. »Schießt nur immer weiter, immer weiter!« sagte eine vergnügte Stimme in seinem Innern. Aber es erfolgten keine weiteren Schüsse mehr.
Erst als er sich dem Fürsten Bagration näherte, setzte Rostow sein Pferd wieder in Galopp und ritt, die Hand an den Mützenschirm legend, zu ihm heran.
Dolgorukow hatte inzwischen immer noch hartnäckig seine Ansicht verfochten, daß die Franzosen abgezogen wären und nur um uns zu täuschen, Feuer angezündet hätten.
»Was beweist denn das?« sagte er gerade in dem Augenblick, als Rostow zu ihnen herangeritten kam. »Sie werden abgezogen sein und ein paar Piketts zurückgelassen haben.«
»Es scheint doch, daß sie noch nicht alle abgezogen sind, Fürst«, erwiderte Bagration. »Warten wir bis morgen früh; morgen werden wir über alles ins klare kommen.«
»Euer Durchlaucht, das Pikett steht auf dem Berg immer noch an derselben Stelle, wo es am Abend stand«, meldete Rostow sich vorbeugend und die Hand an den Mützenschirm haltend; er war nicht imstande, ein fröhliches Lächeln zu unterdrücken, das sein Rekognoszierungsritt und besonders das Pfeifen der Kugeln auf seinem Gesicht hervorgerufen hatten.
»Gut, gut«, antwortete Bagration. »Ich danke Ihnen, Herr Offizier.«
»Euer Durchlaucht«, sagte Rostow, »gestatten Sie mir eine Bitte.«
»Nämlich?«
»Meine Eskadron ist morgen zur Reserve bestimmt; gestatten Sie mir die Bitte um Abkommandierung zur ersten Eskadron.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Graf Rostow.«
»Ah, schön. Sie können als Ordonnanzoffizier bei mir bleiben.«
»Ein Sohn von Ilja Andrejewitsch?« fragte Dolgorukow.
Aber Rostow gab ihm keine Antwort.
»Also darf ich hoffen, Euer Durchlaucht?«
»Ich werde Befehl geben.«
»Morgen kann es leicht so kommen«, dachte Rostow, »daß ich mit irgendeiner Meldung zum Kaiser geschickt werde. Gott sei Dank!«
Das Geschrei und die Feuer in der feindlichen Armee waren dadurch veranlaßt worden, daß, während den Truppen der Tagesbefehl Napoleons vorgelesen wurde, der Kaiser selbst durch ihre Biwaks hindurchritt. Sobald die Soldaten den Kaiser erblickten, zündeten sie Strohbüschel an und liefen ihm mit dem Ruf: »Vive l'empereur!« nach. Der Tagesbefehl Napoleons lautete folgendermaßen:
»Soldaten! Die russische Armee zieht gegen uns, um die Niederlage zu rächen, die wir der österreichischen Armee bei Ulm beigebracht haben. Dies sind dieselben Bataillone, die ihr bei Hollabrunn geschlagen und seitdem ununterbrochen bis zu diesem Punkt verfolgt habt. Die Positionen, die wir innehaben, sind stark, und wenn die Feinde versuchen sollten, mich auf der rechten Seite zu umgehen, so werden sie mir ihre Flanke zum Angriff darbieten! Soldaten! Ich selbst werde eure Bataillone führen. Ich werde mich außerhalb des Feuers halten, wenn ihr mit eurer gewohnten Tapferkeit Unordnung und Verwirrung in die Reihen der Feinde tragen werdet; sollte aber der Sieg auch nur für einen Augenblick zweifelhaft werden, so werdet ihr euren Kaiser unter den Vordersten sich den Streichen des Feindes aussetzen sehen; denn der Sieg darf nicht ins Schwanken kommen, namentlich an einem Tag, an dem es sich um die Ehre des französischen Infanteristen handelt, die für die Ehre der Nation so notwendig und unentbehrlich ist.
Niemand darf Reih und Glied verlassen unter dem Vorwand der Wegschaffung Verwundeter! Möge ein jeder sich ganz von dem Gedanken durchdringen lassen, daß wir diese Mietlinge Englands besiegen müssen, die von solchem Haß gegen unsere Nation erfüllt sind. Dieser Sieg wird unsern Feldzug beendigen, und wir werden in die Winterquartiere zurückkehren können, wo die neuen französischen Truppen zu uns stoßen werden, welche ich jetzt in Frankreich formieren lasse; und dann wird der Friede, den ich schließen werde, meines Volkes und euer und meiner selbst würdig sein.
Napoleon.«
XIV
Um fünf Uhr morgens war es noch ganz dunkel. Die Truppen des Zentrums, die Reserven, sowie der von Bagration kommandierte rechte Flügel verharrten noch regungslos; aber auf dem linken Flügel war schon Leben. Die dort stehenden Infanterie-, Kavallerie- und Artilleriekolonnen, welche als die ersten von den Höhen hinabsteigen sollten, um den rechten Flügel der Franzosen anzugreifen und der Disposition gemäß in die böhmischen Berge zurückzuwerfen, rührten sich bereits und erhoben sich von ihrem Nachtlager. Der Rauch von den Lagerfeuern, in die sie alles Überflüssige hineinwarfen, biß in die Augen. Es war kalt und dunkel. Die Offiziere tranken eilig ihren Tee und frühstückten; die Soldaten kauten ihren Zwieback, trampelten umher, um sich zu erwärmen, und drängten sich um die Feuer, in denen sie Stühle, Tische, Räder, Fässer, Reste von den Baracken, kurz alles verbrannten, was nicht mitgenommen werden konnte. Höhere österreichische Offiziere eilten zwischen den russischen Truppen umher und konnten als Vorboten des Aufbruchs dienen. Sowie ein solcher österreichischer Offizier sich bei dem Quartier eines Regimentskommandeurs gezeigt hatte, geriet das Regiment in hastige Bewegung: die Soldaten liefen von den Feuern weg, steckten ihre Tabakspfeifen in die Stiefelschäfte, legten die Brotbeutel auf die Fuhrwerke, brachten ihre Gewehre in Ordnung und stellten sich auf. Die Offiziere knöpften die Uniformen zu, legten Degen und Ränzchen an und gingen, ab und zu einen Soldaten anschreiend, an den Reihen entlang; die Fuhrleute und Burschen spannten an, luden die Gepäckstücke auf und banden sie fest. Die Adjutanten, die Bataillons- und Regimentskommandeure stiegen zu Pferd, bekreuzten sich, erteilten den zurückbleibenden Fuhrleuten die letzten Befehle, Anweisungen und Aufträge, und nun ertönte der gleichmäßige, stampfende Tritt mehrerer tausend Füße. Die Kolonnen marschierten ab, ohne zu wissen wohin, und infolge der sie umgebenden Kameraden und des Rauches und des zunehmenden Nebels sahen sie weder die Örtlichkeit, die sie jetzt verließen, noch die, nach der sie hinzogen.
Der Soldat wird auf dem Marsch von seinem Regiment ebenso umgeben, beschränkt und mitgezogen, wie der Seemann von dem Schiff, auf dem er sich befindet. Wie weit er auch fortmarschieren, in welche fremdartigen, unbekannten, gefährlichen Gegenden er auch gelangen mag, um sich hat er (wie der Seemann immer und überall dasselbe Verdeck, dieselben Masten und Taue seines Schiffes) immer und überall dieselben Kameraden, dieselben Reihen, denselben Feldwebel Iwan Mitritsch, denselben Kompaniehund Schutschka, dieselben Vorgesetzten. Der Soldat hat nur selten den Wunsch, die Breiten kennenzulernen, in denen sich sein »Schiff« befindet; aber am Tag einer Schlacht macht sich, Gott weiß wie und woher, in der Gedankenwelt der Truppen gleichsam ein einheitlicher, ernster Ton vernehmbar, der das Herannahen von etwas Entscheidendem, Feierlichem zu bedeuten scheint und bei ihnen eine Neugier erweckt, die ihnen sonst fremd ist. Am Tag einer Schlacht suchen die Soldaten in lebhafter Erregung die enge Interessensphäre ihres Regiments zu überschreiten, sie horchen umher, blicken sich um und erkundigen sich eifrig nach dem, was um sie herum vorgeht.
Der Nebel hatte sich so verdichtet, daß man, obwohl es schon Tag geworden war, nicht zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Sträuche sahen aus wie riesige Bäume, Ebenen wie Abhänge und Schluchten. Überall, auf allen Seiten, konnte man mit dem auf zehn Schritte unsichtbaren Feind zusammenstoßen. Aber schon lange marschierten die Kolonnen immer in demselben Nebel dahin, bergab und bergauf, an Gärten und Feldern vorbei, durch eine neue, unbekannte Gegend; und nirgends stießen sie auf den Feind. Vielmehr nahmen die Soldaten bald vorn, bald hinten, auf allen Seiten, wahr, daß da russische Kolonnen in derselben Richtung marschierten. Jedem Soldaten war es ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß ebendahin, wohin er selbst ging, wiewohl das Ziel ihm unbekannt war, noch viele, viele andere der Unsrigen gingen.
»Nun sieh mal an, die Kursker sind auch vorbeimarschiert«, wurde in den Reihen gesagt.
»Es ist gar nicht zu glauben, Bruder, was für eine Unmasse von unsern Truppen hier zusammengekommen ist. Ich habe es mir am Abend angesehen, als die Feuer angezündet wurden: es war kein Ende davon zu erblicken. Ordentlich wie Moskau!«
Obgleich keiner der höheren Kommandeure an die Reihen heranritt und zu den Soldaten sprach (die höheren Offiziere waren, wie wir beim Kriegsrat gesehen haben, verstimmt und mit der in Aussicht genommenen Aktion unzufrieden und beschränkten sich daher darauf, die Befehle auszuführen, ohne sich um die Aufmunterung der Soldaten zu bemühen), marschierten die Soldaten dennoch in heiterer Stimmung, wie immer, wenn es zum Kampf und namentlich zum Angriff geht. Aber nachdem sie ungefähr eine Stunde, immer im dichten Nebel, marschiert waren, mußte ein großer Teil der Truppen haltmachen, und es verbreitete sich in den Reihen das unangenehme Gefühl, daß etwas in Unordnung gekommen sei und die Dispositionen nicht stimmten. Auf welche Weise ein solches Gefühl sich verbreitet, ist sehr schwer festzustellen; aber jedenfalls verbreitet es sich, einmal aufgekommen, mit außerordentlicher Sicherheit und sickert schnell immer weiter, unmerklich und unaufhaltsam, wie Wasser, das einen Abhang hinabläuft. Wären die russischen Truppen für sich allein gewesen, ohne Verbündete, so hätte es vielleicht noch längere Zeit gedauert, bis dieses Gefühl von einer Unordnung zur allgemeinen Überzeugung geworden wäre; aber jetzt schob man, als müßte das so sein, diese Unordnung den verdrehten Deutschen in die Schuhe, und alle waren überzeugt, daß da eine nachteilige Konfusion entstanden sei, an der diese Wurstmacher schuld wären.
»Warum haben wir haltgemacht? Ist der Weg versperrt? Oder sind wir schon auf die Franzosen gestoßen?«
»Nein, es ist nichts zu hören. Dann würde doch geschossen werden.«
»Da haben sie es nun so eilig gehabt mit unserm Ausmarsch, und nun sind wir ausmarschiert und stehen hier ohne Sinn und Zweck mitten auf dem Feld; diese verfluchten Deutschen richten immer nur Verwirrung an. Solche verrückten Kerle!«
»Ja, wenn's auf mich ankäme, ich würde sie ins Vordertreffen stellen; aber die, da kann man sicher sein, die drücken sich nach hinten zusammen. Da müssen wir nun stehen, ohne etwas Ordentliches im Leib zu haben!«
»Na? Geht's bald wieder weiter? Es heißt, die Kavallerie versperrt uns den Weg«, sagte ein Offizier zu einem andern.
»Ach, diese verdammten Deutschen! Kennen ihr eigenes Land nicht!« antwortete der.
»Von welcher Division sind Sie?« schrie ein Adjutant, der herangeritten kam.
»Von der achtzehnten.«
»Warum sind Sie denn dann hier? Sie müßten schon längst vorn sein! Jetzt kommen Sie vor Abend nicht durch!«
»Das kommt von den törichten Anordnungen; die hohen Herren finden selbst nicht darin zurecht«, sagte der eine Offizier und ritt weg.
Dann kam ein General geritten und rief zornig etwas, aber nicht auf russisch.
»Tafa-lafa; was der da schimpft, kann unsereiner nicht verstehen«, sagte ein Soldat, indem er dem fortreitenden General nachäffte. »Totschießen möchte ich sie, die Kanaillen!«
»Vor neun Uhr sollten wir an Ort und Stelle sein, und nun haben wir noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter uns. Das sind nette Anordnungen!« wurde von verschiedenen Seiten räsoniert.
Und der Kampfeswille, mit welchem die Truppen zum Gefecht aufgebrochen waren, fing an in Ärger und Zorn über die sinnlosen Anordnungen und über die Deutschen überzugehen.
Die Ursache der Verwirrung lag darin, daß während des Vorrückens der österreichischen Kavallerie auf dem linken Flügel die oberste Leitung gefunden hatte, unser Zentrum sei doch gar zu weit vom rechten Flügel entfernt, und daher der ganzen Kavallerie Befehl erteilt hatte, auf die rechte Seite hinüberzugehen. So zogen denn mehrere tausend Mann Kavallerie vor dem Fußvolk vorbei, und das Fußvolk mußte warten.
Bei der Tete der Infanterie kam es zu einem harten Zusammenstoß zwischen einem höheren österreichischen Offizier und einem russischen General. Der russische General verlangte, zornig schreiend, die Reiterei solle anhalten; der Österreicher wies darauf hin, daß nicht er, sondern die oberste Leitung daran schuld sei. Inzwischen standen die Truppen da, bekamen Langeweile und ließen den Mut sinken. Nach einem einstündigen Aufenthalt konnten sie sich endlich wieder in Bewegung setzen und begannen bergab zu marschieren. Der Nebel, der sich oben auf der Anhöhe zerteilt hatte, breitete sich in den Tälern, in die die Truppen hinabstiegen, nur um so dichter aus. Vorn erscholl im Nebel ein Schuß, ein zweiter; anfangs fielen die Schüsse unregelmäßig, in verschieden langen Zeitabständen: »Tratta ... tat«, dann immer regelmäßiger und häufiger, und es entspann sich das Gefecht am Goldbach.