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Der Portier zog mürrisch die nach dem oberen Stockwerk hinaufgehende Schnur und wendete sich von den beiden Besuchern ab.
»Die Fürstin Drubezkaja zu dem Fürsten Wasili Sergejewitsch«, rief er dem Diener in Frack, Schuhen und Kniehosen zu, der von oben heruntergelaufen kam und von dem Treppenabsatz aus herunterblickte.
Die Mutter legte die Falten ihres aufgefärbten Seidenkleides zurecht, betrachtete sich in dem venezianischen, aus einer einzigen großen Scheibe bestehenden Wandspiegel und stieg tapfer in ihren schiefgetretenen Schuhen die mit einem Teppich belegte Treppe hinan.
»Lieber Sohn, du hast mir versprochen ...«, wandte sie sich wieder an ihren Sohn und suchte ihn wieder durch eine Berührung seiner Hand zu einem ihren Wünschen entsprechenden Verhalten zu bewegen. Boris ging mit niedergeschlagenen Augen ruhig hinter ihr her.
Sie traten in einen Saal, aus welchem eine Tür in die dem Fürsten Wasili angewiesenen Gemächer führen sollte.
Mutter und Sohn gingen bis in die Mitte des Saales und wollten gerade einen alten Diener, der bei ihrem Eintritt aufgesprungen war, fragen, wohin sie sich zu wenden hätten, da drehte sich an einer der Türen der Bronzegriff, und Fürst Wasili, in einem mit Samt bezogenen Pelz, mit nur einem Ordensstern, also im Hausanzug, erschien in der Tür und begleitete einen schönen Herrn mit schwarzem Haar hinaus. Dieser Herr war der berühmte Petersburger Arzt Dr. Lorrain.
»Es ist also sicher?« fragte der Fürst.
»Errare humanum est, Fürst; aber ...«, antwortete der Arzt; er schnarrte dabei das r und sprach die lateinischen Worte mit französischer Aussprache.
»Gut, gut!«
Als Fürst Wasili die Fürstin Anna Michailowna und ihren Sohn bemerkte, trennte er sich mit einer Verbeugung von dem Arzt und trat schweigend, aber mit fragender Miene, auf sie zu. Der Sohn bemerkte, wie die Augen seiner Mutter auf einmal einen Ausdruck tiefen Grames annahmen, und lächelte leise.
»Ja, unter was für traurigen Umständen müssen wir uns wiedersehen, Fürst ... Nun, wie geht es unserm teuren Kranken?« fragte sie, als ob sie den beleidigend kalten Blick, mit dem der Fürst sie ansah, nicht bemerkte.
In dem fragenden Blick, welchen Fürst Wasili auf die Mutter und dann auf den Sohn richtete, lag sein höchstes Erstaunen über die Anwesenheit der beiden hier. Boris verbeugte sich höflich. Ohne die Verbeugung zu erwidern, wandte sich Fürst Wasili zu Anna Michailowna und antwortete auf ihre Frage durch eine Bewegung des Kopfes und der Lippen, welche zu verstehen gab, daß für den Kranken nicht mehr viel zu hoffen sei.
»Also wirklich?« rief Anna Michailowna. »Ach, das ist ja schrecklich! Ein furchtbarer Gedanke ...! Dies ist mein Sohn«, fügte sie, auf Boris weisend, hinzu. »Er wollte Ihnen persönlich seinen Dank sagen.« Boris verbeugte sich nochmals höflich.
»Seien Sie überzeugt, Fürst, daß mein Mutterherz nie vergessen wird, was Sie für uns getan haben.«
»Ich freue mich, daß ich Ihnen habe eine kleine Gefälligkeit erweisen können, liebe Anna Michailowna«, erwiderte der Fürst, indem er sein Jabot in Ordnung brachte; seine Gebärden und sein Ton hatten der von ihm protegierten Anna Michailowna gegenüber hier in Moskau noch weit mehr von vornehmer Würde an sich als in Petersburg auf der Soiree bei Annette Scherer.
»Bemühen Sie sich, Ihren Dienst ordentlich und pünktlich zu tun und sich der Ihnen gewordenen Auszeichnung würdig zu zeigen«, fügte er, zu Boris gewendet, in strengem Ton hinzu. »Es freut mich ... Sie sind auf Urlaub hier?« fuhr er in seinem gleichgültigen Ton fort.
»Ich warte auf Befehl, Euer Durchlaucht, um mich zu meiner neuen Bestimmung zu begeben«, antwortete Boris. Er ließ weder Verdruß über den scharfen Ton des Fürsten noch den Wunsch, mit diesem in ein Gespräch zu kommen, merken, sondern sprach so ruhig und respektvoll, daß der Fürst ihn aufmerksam anblickte.
»Sie wohnen bei Ihrer Frau Mutter?«
»Ich wohne bei dem Grafen Rostow«, antwortete Boris und fügte wieder hinzu: »Euer Durchlaucht.«
»Das ist jener Ilja Rostow, welcher Natalja Schinschina geheiratet hat«, bemerkte Anna Michailowna.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Fürst Wasili mit seiner eintönigen Stimme. »Es ist mir immer unbegreiflich gewesen, wie Natalja sich hat entschließen können, diesen widerwärtigen Tölpel zu heiraten. Ein ganz dummes, lächerliches Subjekt. Überdies auch noch ein Spieler, wie man hört.«
»Aber ein guter Mensch, Fürst«, erwiderte Anna Michailowna mit herzgewinnendem Lächeln; der Sinn war: auch sie wisse recht wohl, daß Graf Rostow ein solches Urteil verdiene; sie bäte aber, mit dem armen alten Mann nicht zu streng ins Gericht zu gehen.
»Was sagen die Ärzte?« fragte die Fürstin nach einem kurzen Stillschweigen, und wieder wurde auf ihrem vergrämten Gesicht jener Ausdruck tiefer Traurigkeit sichtbar.
»Es ist wenig Hoffnung«, antwortete der Fürst.
»Und ich hätte so gern dem Onkel noch einmal für alle die Wohltaten gedankt, die er mir und meinem Boris erwiesen hat. Er ist sein Taufpate«, fügte sie in einem Ton hinzu, als ob diese Nachricht dem Fürsten Wasili die größte Freude bereiten müßte.
Fürst Wasili schwieg nachdenklich und runzelte die Stirn. Anna Michailowna merkte, daß er in ihr eine Rivalin um die Erbschaft des Grafen Besuchow zu finden fürchtete; sie beeilte sich, ihn darüber zu beruhigen.
»Wenn ich nicht eine so innige Liebe und Verehrung für den Onkel hegte ...«, sagte sie und sprach dabei das Wort Onkel mit besonderer Selbstverständlichkeit und Achtlosigkeit aus; »ich kenne ja seinen edlen, geraden Charakter. Aber es ist jetzt niemand bei ihm als die Prinzessinnen; und diese sind noch recht jung.« Sie neigte den Kopf und fügte flüsternd hinzu: »Hat er auch seine letzte Pflicht erfüllt, Fürst? Diese letzten Augenblicke sind kostbar, sie dürfen nicht unbenutzt bleiben. Man darf nicht warten, bis sich sein Zustand noch mehr verschlimmert; er muß notwendigerweise vorbereitet werden, wenn es so schlecht mit ihm steht. Wir Frauen, Fürst«, hier lächelte sie sanft, »wissen immer, wie man über solche Dinge mit einem Kranken sprechen muß. Ich muß ihn unter allen Umständen sehen. Und wenn es mir auch noch so schmerzlich ist ... aber ich bin ja schon gewohnt zu leiden.«
Der Fürst verstand offenbar ihre Absicht und sagte sich, gerade wie auf der Abendgesellschaft bei Annette Scherer, daß es schwer sein würde, Anna Michailowna loszuwerden.
»Wenn dieses Wiedersehen ihn nur nicht zu sehr angreifen wird, liebe Anna Michailowna«, sagte er. »Wir wollen doch damit bis zum Abend warten; die Ärzte haben erklärt, es stehe eine Krisis bevor.«
»Aber wir dürfen nicht warten, Fürst, bei der kurzen Spanne Zeit, die ihm vielleicht nur noch vergönnt ist. Bedenken Sie, es handelt sich um die Rettung seiner Seele. Ach! Es ist ein schreckliches Ding um die Pflicht eines Christen ...«
Eine nach den inneren Zimmern führende Tür öffnete sich, und eine der Prinzessinnen, welche die Nichten des Grafen waren, trat ein, eine Dame mit mürrischem, kaltem Gesicht und einer im Verhältnis zu den Beinen auffallend langen Taille.
Fürst Wasili wandte sich zu ihr.
»Nun, wie befindet er sich?«
»Es ist immer derselbe Zustand. Und es ist ja auch nicht anders zu erwarten; dieser ewige Lärm ...«, erwiderte die Prinzessin und blickte dabei Anna Michailowna an, als ob sie sie absolut nicht kenne.
»Ah, meine Teuerste! Ich hatte Sie gar nicht erkannt!« sagte Anna Michailowna mit einem glückseligen Lächeln und ging mit leichten, hurtigen Schritten zu der Nichte des Grafen hin. »Ich bin hergekommen, um Ihnen bei der Pflege meines lieben Onkels beizustehen. Ich kann mir vorstellen, was Sie haben durchmachen müssen!« fügte sie, teilnahmsvoll die Augen zur Decke richtend, hinzu.
Die Prinzessin antwortete nicht, lächelte auch nicht einmal und ging sofort aus dem Zimmer. Anna Michailowna zog sich die Handschuhe aus, setzte sich, wie in einer eroberten Position, bequem in einem Lehnstuhl zurecht und forderte den Fürsten Wasili auf, sich neben sie zu setzen.
»Boris«, sagte sie lächelnd zu ihrem Sohn, »ich werde zu dem Grafen, meinem Onkel, gehen, und du, lieber Sohn, geh doch unterdessen zu Pierre. Und vergiß nicht, ihm die Einladung von Rostows zu bestellen. – Sie laden ihn für heute zum Diner ein; aber ich möchte meinen: er wird nicht hingehen?« sagte sie, zu dem Fürsten gewendet.
»O doch, doch!« erwiderte der Fürst, der sichtlich schlechter Laune geworden war. »Ich würde sehr froh sein, wenn Sie mich von diesem jungen Mann befreiten. Er sitzt hier nur herum. Der Graf hat noch nicht ein einziges Mal nach ihm gefragt.«
Er zuckte die Achseln. Ein Diener führte den jungen Boris hinunter und eine andere Treppe wieder hinauf zu Pierre oder, wie er hier hieß, zu Pjotr Kirillowitsch.
XVI
Pierre war in Petersburg nicht dazu gekommen, sich einen bestimmten Beruf zu erwählen, und war wirklich wegen der begangenen Exzesse nach Moskau verwiesen worden. Die Geschichte, die beim Grafen Rostow erzählt wurde, hatte sich tatsächlich so zugetragen. Pierre hatte bei dem Zusammenbinden des Reviervorstehers mit dem Bären mitgewirkt. Jetzt nun war er vor einigen Tagen in Moskau angekommen und hatte, wie immer, bei seinem Vater Wohnung genommen. Obgleich er sich dachte, daß seine Skandalgeschichte wohl schon in Moskau bekannt sei, und daß die Damen, welche seinen Vater umgaben, bei ihrer ihm von jeher übelwollenden Gesinnung diesen Vorfall dazu benutzen würden, den Grafen gegen ihn aufzubringen, so begab er sich doch noch am Tag seiner Ankunft nach der Zimmerflucht, welche sein Vater bewohnte. Als er den Salon, den gewöhnlichen Aufenthaltsort der Prinzessinnen, betrat, begrüßte er die drei Damen, von denen zwei am Stickrahmen beschäftigt waren, während die dritte ihnen aus einem Buch vorlas. Die Vorleserin war die Älteste, ein peinlich sauber gekleidetes, strengblickendes Fräulein mit langer Taille, dieselbe, von deren Begegnung mit Anna Michailowna oben erzählt wurde; die beiden jüngeren stickten, zwei rotwangige, hübsche Mädchen, die sich untereinander nur dadurch unterschieden, daß die eine einen Leberfleck auf der Oberlippe hatte, der ihr Gesicht besonders nett und interessant erscheinen ließ. Pierre fand einen Empfang, als ob er ein Gespenst oder ein Pestkranker wäre. Die Älteste brach plötzlich mit dem Vorlesen ab und blickte ihn schweigend mit erschrockenen Augen an; die zweite, die ohne Leberfleck, zeigte genau den gleichen Gesichtsausdruck; die jüngste jedoch, die mit dem Leberfleck, ein Mädchen von heiterem, lachlustigem Wesen, beugte sich über den Stickrahmen hinab, um ihr Lächeln über die wahrscheinlich bevorstehende Szene, deren Komik sie vorhersah, zu verbergen. Sie zog den Wollfaden nach unten und bückte sich, als wollte sie das Muster genau betrachten, hielt aber nur mit Mühe das Lachen zurück.
»Guten Tag, liebe Kusinen«, sagte Pierre. »Sie erkennen mich wohl nicht?«
»Ich erkenne Sie nur zu gut, nur zu gut!« erwiderte die Älteste.
»Wie steht es mit dem Befinden des Grafen? Kann ich ihn wohl sehen?« fragte Pierre in unbeholfener Weise, wie immer, aber ohne irgendwelche Verlegenheit.
»Der Graf ist körperlich und seelisch leidend, und wie es scheint, haben Sie sich alle Mühe gegeben, ihm noch mehr seelische Leiden zu bereiten.«
»Kann ich den Grafen sehen?« fragte Pierre noch einmal.
»Hm ...! Wenn Sie ihn töten, vollständig töten wollen, dann können Sie ihn sehen. Olga, geh doch einmal hin und sieh nach, ob die Bouillon für den Onkel fertig ist; es ist bald Zeit«, fügte sie hinzu, um dadurch Pierre zu verstehen zu geben, daß sie beschäftigt seien, und zwar beschäftigt mit der Pflege seines Vaters, während er offenbar nur darauf ausgehe, ihn seelisch zugrunde zu richten.
Olga ging hinaus. Pierre blieb noch ein Weilchen stehen, blickte die Schwester an und sagte schließlich mit einer Verbeugung: »Dann werde ich also wieder auf mein Zimmer gehen. Sobald ich ihn sehen kann, lassen Sie es mir, bitte, sagen.« Er ging hinaus, und ein hellklingendes, aber nur leises Lachen der Schwester mit dem Leberfleck ertönte hinter ihm.
Am folgenden Tag kam Fürst Wasili an und logierte sich gleichfalls im Haus des Grafen ein. Er ließ Pierre zu sich rufen und sagte zu ihm:
»Mein Lieber, wenn Sie sich hier so betragen wollen, wie Sie es in Petersburg getan haben, so wird es mit Ihnen ein böses Ende nehmen. Darauf können Sie sich verlassen. Der Graf ist sehr, sehr krank; es wäre ganz unzweckmäßig, wenn Sie sich vor ihm zeigten.«
Seitdem war Pierre von niemand inkommodiert worden und saß den ganzen Tag allein oben auf seinem Zimmer.
In dem Augenblick, als Boris zu ihm hereintrat, ging Pierre gerade in seinem Zimmer auf und ab; mitunter blieb er in dieser oder jener Ecke stehen, wobei er drohende Gebärden gegen die Wand machte, als wollte er einen unsichtbaren Feind mit einem Degen durchbohren, und grimmig über seine Brille wegblickte; dann begann er seine Wanderung von neuem, murmelte undeutliche Worte, zuckte mit den Achseln und breitete die Arme auseinander.
»Mit England geht es zu Ende ... jawohl, zu Ende!« stieß er mit gerunzelter Stirn hervor. Er zeigte mit dem Finger auf jemand. »Mister Pitt wird als Verräter an der Nation und am Völkerrecht zum Tod ...« Er glaubte in diesem Augenblick Napoleon in eigener Person zu sein, hatte in der Gestalt dieses seines Heros bereits die gefährliche Überfahrt über den Pas de Calais bewerkstelligt und London eingenommen, wurde nun aber, gerade als er dabei war, das Urteil über Pitt zu fällen, unterbrochen: denn er erblickte einen jungen, hübschen, schlanken Offizier, der zu ihm ins Zimmer trat. Pierre blieb stehen. Er hatte Boris als vierzehnjährigen Knaben zum letztenmal gesehen und besaß schlechterdings keine Erinnerung mehr an ihn; aber trotzdem drückte er ihm in der raschen, treuherzigen Art, die in seinem Wesen lag, die Hand und lächelte ihn freundlich an.
»Erinnern Sie sich meiner?« fragte Boris ruhig mit einem angenehmen Lächeln. »Ich bin mit meiner Mutter hergekommen, um dem Grafen einen Besuch zu machen; aber er scheint ja recht krank zu sein.«
»Ja, das ist er, wie es scheint. Man macht ihm gar zu viel Unruhe«, erwiderte Pierre und strengte sein Gedächtnis an, um herauszubringen, wer dieser junge Mann wohl sei.
Boris merkte, daß Pierre ihn nicht erkannte, hielt es aber nicht für nötig, seinen Namen zu nennen, und blickte ihm, ohne die geringste Verlegenheit zu empfinden, gerade ins Gesicht.
»Graf Rostow läßt Sie bitten, heute zum Diner zu ihm zu kommen«, sagte er nach einem ziemlich langen und für Pierre unbehaglichen Stillschweigen.
»Ah, Graf Rostow!« rief Pierre freudig. »Also Sie sind sein Sohn Ilja. Denken Sie nur, ich hatte Sie im ersten Augenblick nicht erkannt. Erinnern Sie sich noch, wie wir mit Madame Jacquot eine Partie nach den Sperlingsbergen machten? Es ist freilich schon lange her.«
»Sie irren sich«, antwortete Boris ohne besondere Eile mit einem frischen, ein wenig spöttischen Lächeln. »Ich bin Boris, der Sohn der Fürstin Anna Michailowna Drubezkaja. Graf Rostow, der Vater, heißt Ilja, sein Sohn aber Nikolai. Und eine Madame Jacquot habe ich nie gekannt.«
Pierre schlug mit dem Kopf und den Armen hin und her, als ob ein Schwarm Mücken oder Bienen über ihn hergefallen wäre.
»Ach, was habe ich da gemacht! Lauter Konfusion! Ich habe aber auch so viele Verwandte hier in Moskau! Sie sind Boris ... ja. Nun, jetzt sind wir also miteinander einig. Also wie denken Sie über die Boulogner Expedition? Meinen Sie nicht auch, daß es den Engländern schlimm ergehen wird, wenn Napoleon über den Kanal setzt? Ich glaube, daß die Expedition sehr wohl durchführbar ist. Wenn nur Villeneuve nicht den rechten Augenblick verpaßt!«
Boris wußte nichts von der Boulogner Expedition. Er las keine Zeitungen und hatte von Villeneuve bisher noch nie etwas gehört.
»Wir hier in Moskau interessieren uns mehr für Diners und Klatschgeschichten als für Politik«, sagte er in seinem ruhigen, spöttischen Ton. »Ich weiß von diesen Dingen nichts und habe darüber kein Urteil. Moskaus Interesse geht so gut wie ganz in Stadtklatsch auf. Jetzt spricht man von Ihnen und von dem Grafen.«
Pierre lächelte in seiner gutherzigen Weise, wie wenn er um des andern willen besorgt sei, dieser könne etwas sagen, was gesagt zu haben ihm nachher leid tun würde; aber Boris sprach mit vollem Bedacht, klar und bestimmt weiter, indem er Pierre gerade in die Augen blickte:
»Die Moskauer haben nichts weiter zu tun als zu klatschen. Alle Leute hier erörtern eifrig die Frage, wem der Graf sein Vermögen hinterlassen wird. Und dabei wird er vielleicht uns alle überleben, und ich wünsche ihm das von Herzen ...«
»Ja, das ist alles sehr schmerzlich«, fiel Pierre schnell ein, »sehr schmerzlich!« Er fürchtete noch immer, dieser junge Offizier könne unversehens auf ein Thema zu sprechen kommen, das dann ihm, dem Redenden, selbst peinlich sein würde.
»Sie müssen wohl zu der Vorstellung kommen«, sagte Boris mit leisem Erröten, aber ohne Stimme und Haltung zu ändern, »Sie müssen wohl zu der Vorstellung kommen, daß das Trachten aller nur darauf gerichtet sei, etwas von dem reichen Mann zu erhalten.«
»Ganz richtig!« dachte Pierre.
»Aber gerade das wollte ich Ihnen zur Vermeidung von Mißverständnissen sagen, daß Sie sich sehr irren, wenn Sie mich und meine Mutter mit zu diesen Leuten zählen. Wir sind sehr arm; aber (wenigstens kann ich das von mir sagen) der Umstand, daß Ihr Vater reich ist, bildet für mich keinen Grund, mich für seinen Verwandten zu halten, und weder ich noch meine Mutter werden ihn jemals um etwas bitten oder etwas von ihm annehmen.«
Pierre konnte lange nicht begreifen, was der andere eigentlich wollte; aber als er es begriffen hatte, sprang er vom Sofa in die Höhe, ergriff Boris mit der ihm eigenen Raschheit und Unbeholfenheit von untenher bei der Hand und begann, noch weit stärker als Boris errötend, in einem aus Scham und Ärger gemischten Gefühl zu reden:
»Das ist ja sonderbar. Habe ich etwa ... Und wie dürfte überhaupt jemand denken ... Ich weiß sehr wohl ...«
Aber Boris unterbrach ihn.
»Ich freue mich, daß ich mir alles vom Herzen geredet habe. Wenn es Ihnen vielleicht unangenehm gewesen ist, so verzeihen Sie mir«, sagte er, seinerseits bemüht, Pierre zu beruhigen, statt sich von diesem beruhigen zu lassen. »Aber ich hoffe, daß ich Sie nicht gekränkt habe. Es ist mein Grundsatz, alles frei herauszusprechen. Was soll ich denn nun also bestellen? Werden Sie zu Rostows zum Diner kommen?«
Dem jungen Offizier wurde ganz leicht zumute, als habe er eine schwere Pflicht erledigt, und in dem Gefühl, daß er selbst aus einer unbehaglichen Lage herausgekommen sei und einen andern in eine solche versetzt habe, wurde er wieder ganz munter und unbefangen.
»Nein, hören Sie«, sagte Pierre, sich allmählich einigermaßen beruhigend. »Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Was Sie da soeben gesagt haben, ist sehr schön, wirklich sehr schön! Es ist ja ganz natürlich, daß Sie mich nicht kennen; wir haben so lange keine Beziehungen zueinander gehabt ... wir waren damals noch Kinder ... Sehr erklärlich, daß Sie von mir die Vorstellung hatten ... Ich verstehe Sie, verstehe Sie vollkommen. Ich für meine Person hätte das nicht fertiggebracht; ich hätte nicht den Mut dazu gefunden; aber es war von Ihnen ganz ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, Sie kennengelernt zu haben. Sonderbar«, fügte er nach einem kurzen Stillschweigen lächelnd hinzu, »was Sie von mir für eine Vorstellung gehabt haben!« Er lachte auf. »Nun aber, was tut's? Wir werden einander besser kennenlernen. Ich bitte Sie darum.« Er drückte Boris die Hand. »Wissen Sie, ich bin noch gar nicht bei dem Grafen gewesen. Er hat mich nicht rufen lassen ... Er tut mir schon vom rein menschlichen Standpunkt aus herzlich leid ... Aber was ist zu tun?«
»Und Sie glauben, daß es Napoleon gelingen wird, mit seiner Armee überzusetzen?« fragte Boris lächelnd.
Pierre verstand, daß Boris das Gespräch auf ein anderes Thema bringen wollte. Er war damit ganz einverstanden und begann die günstigen und ungünstigen Momente, die bei dem Boulogner Unternehmen in Betracht kamen, darzulegen.
Ein Diener kam, um Boris zur Fürstin zu rufen. Die Fürstin wollte wegfahren. Pierre versprach, zu dem Diner zu kommen, um mit Boris noch näher bekanntzuwerden, drückte ihm kräftig die Hand und blickte ihm durch seine Brille freundlich in die Augen. Nachdem Boris gegangen war, schritt Pierre noch lange in seinem Zimmer hin und her; aber er durchbohrte keinen unsichtbaren Feind mehr mit dem Degen, sondern lächelte bei der Erinnerung an diesen liebenswürdigen, verständigen, charakterfesten jungen Mann.
Wie es oft bei Menschen der Fall ist, die sich noch in den Zeiten der ersten Jugend befinden, und namentlich bei solchen, die allein dastehen, empfand er für diesen jungen Mann eine Zärtlichkeit, von der er sich nicht ganz Rechenschaft geben konnte, und faßte den Vorsatz, unbedingt Freundschaft mit ihm zu schließen.
Fürst Wasili begleitete die Fürstin hinaus. Die Fürstin hielt das Taschentuch an die Augen, und ihr Gesicht war von Tränen überströmt.
»Es ist schrecklich, schrecklich!« sagte sie. »Aber so schwer es mir auch werden mag, ich werde meine Pflicht erfüllen. Ich werde herkommen und die Nacht hier zubringen. So darf es nicht mit ihm bleiben. Jeder Augenblick ist kostbar. Ich begreife nicht, warum die Prinzessinnen noch länger zaudern. Vielleicht hilft mir Gott ein Mittel finden, um ihn vorzubereiten ...! Leben Sie wohl, Fürst, Gott verleihe Ihnen Kraft ...«
»Adieu, meine Liebe«, antwortete Fürst Wasili und wandte sich von ihr weg.
»Ach, er ist in einem schrecklichen Zustand!« sagte die Mutter zu dem Sohn, als sie wieder im Wagen saßen. »Er erkennt fast niemand mehr.«
»Ich bin mir darüber nicht klar, Mamachen: wie steht er eigentlich mit Pierre?« fragte der Sohn.
»Das Testament wird darüber Auskunft geben, lieber Sohn. Von diesem Testament hängt auch unser Schicksal ab.«
»Aber warum meinen Sie, daß er uns etwas hinterlassen wird?«
»Ach, lieber Sohn, er ist so reich und wir so arm!«
»Nun, das ist noch kein ausreichender Grund, Mamachen.«
»Ach, mein Gott, mein Gott! Wie krank er ist!« rief die Mutter.
XVII
Nachdem Anna Michailowna mit ihrem Sohn zu dem Grafen Kirill Wladimirowitsch Besuchow gefahren war, saß die Gräfin Rostowa längere Zeit still für sich da und drückte das Taschentuch gegen die Augen. Endlich klingelte sie.
»Was stellt das vor, meine Liebe?« sagte sie ärgerlich zu dem Stubenmädchen, das einige Minuten auf sich hatte warten lassen. »Sie wollen wohl Ihren Dienst nicht weiter verrichten, wie? Dann werde ich Ihnen einen andern Platz anweisen.«
Die Gräfin fühlte sich durch den Kummer und die demütigende Armut ihrer Freundin tief ergriffen und war deshalb schlechter Laune, was sich bei ihr immer dadurch äußerte, daß sie zu dem Stubenmädchen »meine Liebe« sagte und sie mit »Sie« anredete.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte das Mädchen.
»Ich lasse den Grafen bitten, zu mir zu kommen.«
Der Graf trat herein und näherte sich mit seinem watschelnden Gang seiner Frau; er machte, wie immer, eine etwas schuldbewußte Miene.
»Nun, meine liebe Gräfin, was das für ein ausgezeichnetes Haselhuhn-Sauté mit Madeira werden wird, meine Teuerste! Ich habe es gekostet; ich muß sagen: die tausend Rubel, die ich für unsern Koch Taras gegeben habe, waren nicht weggeworfen; er ist wirklich das Geld wert!«
Er setzte sich neben seine Frau, stützte in jugendlich unternehmender Haltung die Hände auf die Knie und fuhr sich mit den Fingern durch das graue Haar.
»Was befehlen Sie, meine liebe Gräfin?«
»Lieber Freund, ich möchte ... Aber was hast du da für einen Fleck?« fragte sie, indem sie auf seine Weste zeigte. »Das ist gewiß von dem Sauté«, fügte sie lächelnd hinzu. »Also höre, lieber Graf, ich brauche Geld.«
Ihr Gesicht nahm einen trüben, schmerzlichen Ausdruck an.
»Ah, das ist es, meine liebe Gräfin!« Der Graf holte seine Brieftasche heraus, wurde aber sehr verlegen.
»Ich brauche viel Geld, Graf; ich brauche fünfhundert Rubel.« Sie zog ihr batistenes Taschentuch hervor und rieb damit an der Weste ihres Mannes.