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„Nein?“
Im unterirdischen Kopiershop lässt sich Medina von einer sichtlich erholungsbedürftigen Russin ein paar Seiten vervielfältigen, ausführlich wird eine Reihe von Details geklärt. Die Kopien sind erst nach einer Stunde Wartezeit abzuholen. Mit Geduld hat man hier kein Problem, sie wird einem andauernd zwangsverordnet.
Anschließend suchen wir das Kartengeschäft auf, ich benötige exakte Landkarten von jenen entlegenen Gebieten, die ich befahren will, und in denen nicht gerade mit anschaulicher Straßenführung, Beschilderung oder gar auskunftsfreudigen Polizisten zu rechnen sein wird. Medina verabschiedet sich von uns, um nach ihren Kopien zu sehen. Nun bin ich allein mit Jasina.
Immer wieder gerate ich in Erstaunen, was in den Straßen alles feilgeboten wird. Eine Frau mit Waage, vor der sich eine Warteschlange aus leichtgewichteten, wissbegierigen Kunden bildet, ein Junge, der eine Handvoll Nüsse anpreist, sogar einzelne Zigaretten werden verkauft, und immer wieder trifft man auf das Anbot von einzelnen Stücken Obst. Vor diesem habe ich noch große Scheu, ich möchte mir keinesfalls schon zu Beginn meiner Reise etwas Unverträgliches einfangen. „Schäl es, koch es, oder vergiss es“, schwebt’s mir irgendwo im Hinterkopf. Abgesehen davon bin ich aus meinem kulinarischen Koma, welches ich mir im Londoner Flughafenshop geholt hatte, noch immer nicht komplett erwacht, und so bewahre ich meine Anti-Obsthaltung.
Ein alter, weißbärtiger Mann, der in folkloristische Kleider gesteckt ist, steht am Gehsteigrand und bezaubert mit einer Art Blockflöte. Er sucht meinen Blick, fängt ihn ein und zieht ihn, ohne sein Instrument abzusetzen, unmissverständlich in Richtung seines mit funkelnden Münzen gefüllten Körbchens. Ich komme der gar nicht stillen Aufforderung gerne nach – wir Musiker müssen zusammenhalten, gegenseitig der Karriere dienliche Auftrittsmöglichkeiten unterstützen und uns gemeinsam bemühen, jeglichen heiß erkämpften Musikerstatus aufrechtzuerhalten, sollte man auch schon längst in der Gosse gelandet sein, wie der da. Wenigstens ist der Künstler hier vor allzu leidigem Dirigentenaufkommen sicher. Ohne mich als Kollege erkennen zugeben, lassen wir von dieser Armutstribüne ab.
Wir müssen zur Reiseagentur Tien-Shan Travel, finden das Büro aber nicht. An der Stelle, die man uns beschrieben hatte, befindet sich lediglich ein klappriger Stiegenaufgang, geheftet an ein mysteriös anmutendes Gebäude, das gewiss vieles hinter sich, aber wohl nur mehr den Abbruch vor sich hat. Eine usbekische Brotbäckerin, die in einem schmalen, verkommenen Hinterhof Teig knetet, kann uns nicht weiterhelfen, widerwillig schüttelt sie den Kopf. Unverrichteten Besuchs ziehen wir weiter.
Ohne Ermüdungserscheinungen zerrt mich Jasina durch die Stadt und zeigt mir voll Stolz die Sehenswürdigkeiten. Die Plätze sind großzügig angelegt. Als wir über den riesigen Ala-Too-Platz schlendern, verlieren wir uns beinahe auf ihm, und auf einmal gehen wir annähernd im Gleichschritt mit zwei Wachsoldaten, die sich gerade mit Riesen-Trara zeremoniell ablösen. Sie üben noch immer Sowjetunion. Puck puck, geht’s im Stechschritt, knack knack, knallen die Hacken, klaps klaps, klappen die salutierenden Karatehände an die Schirmmützen. Und tipp tipp, sollte man sich an die Stirn tippen, sähe man den ganzen Zirkus nicht als zwar modrige, aber gelungene Freizeit-Attraktion. Jasina rafft mich von hier fort, sie hat noch Einiges vor mit mir.
Ihre Universität, die American University, auf der sie ein Wirtschaftsstudium absolviert, muss natürlich abgelichtet werden, mit stolzer Jasina davor. Ein respektabler Bau von ansehnlicher Breite. Wenn man bedenkt, dass sich vor 1825 so gut wie nichts auf dem heutigen Stadtboden rekelte und erst 1910 das erste zweistöckige Haus gebaut wurde, Respekt, Respekt. So einen erweise ich ihr. Jasina ist geschmeichelt. „Das ist ein ganz besonderer Tag für mich“, sagt sie, und sie werde ihn nie vergessen.
Ich dich auch nicht, Jasina.
Stetig gewinnt der Tag an Qualität, vom leeren Raum des Nichtstunmüssens herrührend, ein Wandeln im Nichts gleichsam. Der Kopf wird leicht, das Gewicht sackt tiefer, keinesfalls aber erstarrt es und macht bleierne Füße; trotz andauernder Rennerei.
Wir wollen uns mit ihrem Bruder treffen, der tritt an die Stelle von Medina als Aufpasser. Ich freue mich schon auf die geplante Besichtigung einer Moschee während der Gebetszeit. Wir erreichen die Neue Moschee nach kurzer Fahrt. Faris verschwindet kurz ins Innere des großen, runden, schmucklosen Baus, um eine Besuchserlaubnis für mich zu holen. Dass ich als Anders- (ist gleich: Nicht-) Gläubiger allemal mehr Zutrittsrechte besitze als moslemische Frauen, scheint Jasina nicht sonderlich zu stören. – Sie muss draußen warten.
„Das macht mir wirklich nichts aus. Geht nur hinein, vergesst aber nicht auf mich!“ Sie findet sich dem Anschein nach damit ab, dass sie ihre Gottesanliegen erst einem Mann anvertrauen muss, und nur dieser die Angelegenheit an allerhöchste Stelle weiterleiten darf. Wenn er will – und wie er will. Im Grunde könnte so was ein Anlass für Vertrauensbildung innerhalb von Partnerschaften sein, andererseits aber auch für Missgriffe. Gerade weil in Jasinas Ansichten immer ein Quäntchen Mut und Weltverbesserei mitklingt, überrascht mich ihre Reaktion.
„Ich verstehe nicht, dass du das so hinnimmst!“, misstraue ich ihr.
„Wieso? Beten kann ich hier draußen genauso.“
„Da hast du auch wieder Recht“, traue ich ihr.
Immer mehr gewinnt Jasina für mich an Stärke und Festigkeit.
Das Innere des Gottesbaus ist mit riesigen Teppichen ausgelegt. Ins Gebet versunkene Männer knien darauf und werfen immerzu ihre Oberkörper nach vorne. Die Stimme des Muezzins dringt von außen herein. Sonnenlicht, das durch die Kuppelfenster auf Wand und Boden fällt, erhellt Mensch und Gemüt. Eine Runde vollbärtiger Männer ist in ein lebhaftes Gespräch verwickelt, der Heftigkeit nach geht’s dabei wohl um Gott, oder vielleicht auch nur um mich, denn ich werde argwöhnisch gemustert und fixiert. Fraglos sitzen uns Westlern momentan die dänischen Mohammed-Karikaturen – mitnichten als Schalk – im Nacken. Faris zieht ein kurzes Pflichtprogramm an Gottesbezeugungen durch, grinst mich verlegen an, und schon wenden wir uns wieder dem Ausgang zu. Die scheelen Blicke bleiben an mir haften und verkleben mir die Rückenhaare.
Um im muslimischen Kirgistan nicht mehr aufzufallen, als es ohnedies unvermeidbar ist, habe ich mir vor der Reise eigens einen Vollbart wachsen lassen. Die paar Männer in der Moschee sollen die einzigen Vollbärtigen bleiben, denen ich auf meiner gesamten Reise begegne! Soweit zur Lage des Islam in Kirgistan. Noch dazu: In der kirgisischen Verfassung wird an keiner Stelle Bezug auf den Islam genommen.
Wir fahren weiter. Wobei, fahren ist eindeutig geschmeichelt. Vollauf schockiert denke ich schon auf den ersten Metern, dass es Faris darauf angelegt haben muss, sein klappriges Schrottfahrzeug per Karambolage zu entsorgen – so wie er den engen Kontakt mit anderen, an der Hetze beteiligten Autofahrern sucht, so wie er Fußgänger anvisiert, aber alle wie durch ein Wunder unversehrt lässt. Bald werde ich das als Radfahrer auch zu spüren bekommen, denke ich und ergraue.
Lange suchen wir nach halbwegs sauberem Benzin für meinen Kocher. Weder die vielen Straßenverkäufer noch Geschäfte führen so etwas wie Reinigungsbenzin. Also muss ich mich mit Autobenzin begnügen, wir fahren zu einer Tankstelle. Der Tankwart wundert sich nicht schlecht, beweist aber Fingerspitzengefühl beim Befüllen meiner kleinen Fläschchen. Was die (Über-) Lebensqualität der nächsten Wochen betrifft, würde mein Kocher wohl eine Schlüsselstellung einnehmen, und so wähle ich lieber eine hohe Oktananzahl. Bei der Gelegenheit lasse ich mein Gastgeberauto auch gleich volltanken. Beiden, Fahrer wie Auto, tut das merklich gut.
Erst durch anhaltende Starrköpfigkeit wird meine Einladung zum Pizzaessen angenommen. Es ist ein gepflegtes Türkisches Restaurant, und obwohl Hunger und Auswahl an Pizzas groß sind, fuhrwerken Jasina und Faris zusammen an einem Stück Pizza herum, nippen an den Wassergläsern – Wein ging nicht durch – und zieren sich bei allem. Irgendwie werde ich die Sorge nicht los, das Gastrecht verletzt zu haben, indem ich als Gast sie als Gastgeber einlade. Fies irgendwie, sie haben heute so viel für mich getan und gönnen mir die Retourkutsche nicht. Ich versuche die Sache anzusprechen, ich hätte es sein lassen sollen. Sie bleiben bei Ausflüchten, das mache wirklich nichts, sie würden mich sowieso für immer hier behalten, und allein dadurch ändere sich an essentiellen Dingen wie Gastgeberpflicht sowieso einiges.
Nichtsdestotrotz, die Pizza schmeckt, den köstlichen Salat kann ich nicht lassen. Meine Grundsätze („schäl es, koch es …“ – ach vergiss es) schwinden dahin; hoffentlich nicht Hand in Hand mit meinem Verdauungssystem.
Viel später als gewollt kommen wir nach Hause und begegnen einer Gruppe trauriger Gestalten, die gerade den Hof verlässt; gäbe es eine Türklinke, hätten wir sie ihnen in die Hand gegeben. Es sind Verwandte, die eigens wegen mir gekommen sind, den ganzen Abend gewartet haben und jetzt enttäuscht abziehen. Wieder so ein anschauliches Beispiel in Sachen Gastfreundschaft und menschlicher Wertschätzung. Oder habe ich jetzt zu hoch gegriffen und sollte es einfach Neugierde nennen? – Oder sind das am Ende gar die bevorstehenden Feierlichkeiten anlässlich meiner Infamiliennahme? Es lohnt sich, wachsam zu bleiben. Überhaupt morgen. Morgen geht’s los.
Verlängerte Wartezeiten
Wir sitzen auf der Terrasse des Hauses und frühstücken. Dabei sind wir umgeben von einer Unmenge an Frühstückskomponenten und Wespen. Die Fliegenpatsche des Onkels gehört zur Basis-Heimausstattung, heftige Knaller ohne jegliche Vorwarnung, abgelöst von kurzen Begeisterungsrufen begleiten unser sonst geruhsames Schlemmen. Das ganze Gemetzel hat nicht viel für sich, den Unterschied höchstens, dass die Wespen jetzt tot in der Marmelade landen.
Die Mama hat über Nacht gebüffelt. „Du … Sohn … Ich … Mutter … Jasina, Faris … Bruder.”
Aha. Mein Verdacht von gestern erhärtet sich. Infamiliennahme.
Danach wird für mich gebetet, das rührt mich, noch nie haben fremde Menschen das für mich getan. Der Onkel betet vor, Jasina und ihre Mutter nehmen’s nicht so ernst mit der Ernsthaftigkeit des Wahrhaften; ihre Hände bedecken zwar das Gesicht, ihr Lachen können sie aber kaum verbergen. Ich tue es ihnen gleich und beobachte mal ergriffen, mal vergnügt die Szenerie, die mich allzu sehr an Glaubens(h)ausübungen im verchristeten Europa erinnert, nur dass es in heimatlichen Gefilden noch nie einem Gastgeber eingefallen wäre, für einen Gast zu beten. Dann werden mir – es handelt sich um ein ortsübliches Phänomen, wie ich schon weiß – Warnungen mit auf den Weg gegeben. Die bereits bekannte Palette wird durch Spinnen-, Schlangen- und Böserwolfsaufkommen erweitert. Man sagt mir auch genau, wie viel Geld ich maximal den korrupten Polizisten geben soll, um meinen Reisepass samt innerer Ruhe zurückzugewinnen, beziehungsweise um mein Leben und die Würde des Polizisten aufrechtzuerhalten.
Eine Frau bringt die Zeitung, das wird gleich zum Anlass für ein ausgiebiges Schwätzchen genommen. Mir drängt sich der Vergleich zu den motorisierten, zeitungswerfenden Austrägern in der westlichen Welt auf. Diejenigen, die in unseren Augen laufend ihre Zeit vergeuden, haben sichtlich keine Zeitnot und folglich ein Problem weniger als wir. Sie gewinnen einen schier unendlichen Raum ohne Korsett aus Zeit. Als die Frau nach langer Zeit wieder geht, frage ich mich, ob sie nicht schon den gesamten Inhalt der Zeitung vorweggenommen und sich damit ihrer Funktion enthoben hat.
Nachdem ich morgens Katja angerufen hatte und sie uns den Weg genauer beschrieb, finden wir heute Tien-Shan Travel auf Anhieb. Hinter einem verriegelten, eisernen Einfahrtstor ohne Firmenschild (so eines sei zu gefährlich, wie man mir später erklärten wird) verbirgt sich so manches: kläffende Hunde, die leidige Abkommen mit den zahllosen, hier ansässigen Katzen geschlossen haben müssen, ein abenteuerlich genutzter Geländewagen, ein Bus, der als jemandes Schlafgelegenheit herhalten muss, und ein Haus mit einem überraschend netten Büro und einer ebensolchen Katja. Endlich jemand, der mich vor nichts und niemandem warnt. Sie ist tatsächlich die Erste, die versteht, dass ich das alles machen muss und so gesehen nicht zu halten bin.
Diese Abenteuerlust, die zur Sucht ausarten kann, woher kommt sie nur? Vermutlich auf gemeinsame Anregung von linker und rechter Gehirnhälfte aus einem diffusen Raum irgendwo dazwischen. Manchmal orte ich sie als ein kugeliges Brennen zwischen Bauch und Brust, dem Graubereich zwischen Empfindlichkeit und Stolz. Obendrein muss sie herhalten als Kompensation eines daheim ins Stocken und Einfrieren geratenen Selbst-Managements in Sachen Lebenskrisen und derer Nachwehen. Unterwegs an der frischen Luft gerät der ganze Seelenkrimskrams wieder in Aufruhr, holt mich oft genug ein, verschanzt sich irgendwo weit vor mir, um mich abzupassen, und wirft sich mir mit herausgestreckter Zunge schonungslos vor die Räder. Und das gibt Komplikationen mit Beulen nach innen. Ich fürchte auch, die Abenteuerlust entsteht unweit der Bastard-Geburtenstation der Kriegslust (die Gedenkstätte des Heldenfriedhofs ist auch nicht weit), jener Lust also, der man anno dazumal ungeniert und offenherzig frönte, solange das Morden, entkeimt und desinfiziert von Angst und Schrecken, in den Köpfen der dummen Kriegsfreiwillen stattfand; Krieg – fiktiv und blutleer. Wo also auch immer dieser Erlebnishunger herkommt, noch viel weniger weiß ich, wo er eines Tages hinführt; wobei ein kirgisischer Straßengraben oder eine pakistanische Gefängniszelle sicherlich zu den behebbaren Übeln zählen dürften.
Ich bekomme mein provisorisches Permit ausgehändigt, das ich für die Durchfahrung der abgelegenen kasachischen Grenzregionen benötige. In Karakol wartet eine Kontaktperson auf mich, die die Behördengänge erledigen und mir den offiziellen Erlaubnisschein übergeben wird.
Das alles nimmt viel Zeit in Anspruch, und vor allem, der Morgen schlendert allzu gemächlich aus der Obhut der Nacht und wird im Nu vom Mittag überrumpelt. Ich beschließe, erst am nächsten Tag loszufahren. Denn, dass es einfach nur blöd ist, um zwölf Uhr aufzubrechen und dabei Gefahr zu laufen, gleich in der Mittagshitze umzukommen oder später in der Dunkelheit in irgendeinem Straßengraben, weiß ich auch ohne mir zugetragener Warnungen. Jasina freut sich sehr, ich mich im Grunde auch, trotz des verloren gegangenen Tages. Andererseits gewinne ich ein bisschen Zeit, die ich für Gisi verwenden kann.
Im Innenhof der Pension kontrolliere ich sorgfältig ihre Schrauben und Befestigungen, diverse Bestandteile vertragen eine Feinjustierung. Dann radle ich auf ein paar Metern Probe und – upsala-aditraa – Gisi macht sich selbstständig, wir machen einen kleinen Ausritt der mit Abwurf endet – ich habe tatsächlich vergessen, den Lenker zu fixieren. Gut, dass mir das nicht im halsbrecherischen Straßenverkehr passiert ist – wenngleich; ob Selbstmord durch technisches Eigenverschulden, oder irgendwann von einem Autofahrer niedergemetzelt zu werden ist für das praktische Ergebnis wirklich einerlei.
Danach sitze ich mit Jasina am großen Esstisch auf der Terrasse und schreibe mein … dieses … Tagebuch, während sie ihre Englischaufsätze verfasst. Zwischendurch versuche ich mich im Korrigieren. Die Situation hat einen Touch ‚Vater-Tochter-Alltag‘, beide genießen wir’s, und beide haben wir wohl auch einen Grund dafür. Kam mir doch zeit meines Lebens die Tochter und ihr, so wie es scheint, der Vater abhanden. Es passiert nicht von ungefähr, dass sich Ereignisse und Begegnungen dergestalt fügen müssen, dass sie stimmig zueinander passen. All das wird mir nun doch ein bisschen eng, und ich muss raus.
Ich mache einen Spaziergang in Richtung Stadtzentrum. Mit all den Werten an Leib und Haupt komme ich mir in der kirgisischen Öffentlichkeit nun doch etwas provokativ vor.
Wenige Meter vor mir, am Rande der Schwarzkrähen-Allee steht ein gebückter Mann mittleren Alters. In sein grünliches Gesicht ist Armut und Bürde gezeichnet, die roten, halb zugekniffenen Augen nesteln unverblümt an meiner Umhängtasche. Als ich ihn beinahe erreiche, versuche ich einen mächtigen Luftbogen zu machen, stoße dabei fast an das Gerippe eines hageren Burschen, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Ich nehme keine Gesichter mehr wahr, auch die Gestalten lösen sich auf, registriere nur mehr, wie mir die Tasche mit all den Wertsachen und Sachwerten entrissen wird. Ein dumpfer Stoß von hinten, begleitet von einem hellen Glockenton, lässt mich vornüber in den Wüstensand poltern. Während ich so daliege, harte Klänge einer E-Gitarre vernehme und auf die Geier warte, empfinde ich nichts als Verständnis und Mitgefühl für dieses arme Volk und bin richtig glücklich, dass mir dieses gerechte Schicksal widerfahren ist.
Derartige Phantasien gehen mir durch den Kopf, während ich in den Straßen der Innenstadt umherschlendere und mir dabei so unnötig overdressed vorkomme.
Spät am Nachmittag taucht die Mama auf und erfüllt den Innenhof mit den lebensfrohen Klängen ihres Akkordeons; dazu singt sie auch. Ihre hohe Stimme, die sie stets gewohnt ist zurückzunehmen, wächst über sich und uns hinaus, holt sich Kraft aus der ungeteilten Aufmerksamkeit unserer offenen Ohren, durchdringt das Gemäuer der Häuser und unser aller Seelen, und trägt uns ins ferne Irgendwo zwischen Frohmut und Wehklagen. Sich wiegen inmitten von Leichtigkeit und Schwere; Weinen, welches der Freude so nahe ist – russische, tatarische und kirgisische Volkslieder machen das in einem. Qualität und Fülle ihrer Darbietung sind enorm, ich bin verblüfft über diesen inneren Reichtum, der von so viel Armut umgeben ist und gerade deshalb so zu florieren scheint. Es folgt Lied auf Lied, wir Zuhörer raten die jeweilige nationale Herkunft und haben viel Spaß dabei. Noch mehr erstaunt bin ich, als sie sich für einen kurzen Moment ans Klavier setzt – es ist im Inneren des Wohnhauses verborgen – und die Pathetique (die Beethoven‘sche) zitiert.
Das alles ist wie (Zwangs-)Therapie für so einen zeitgeizigen Zivilisationskranken wie mich. In einem fort lasse ich mich in den schwebenden Raum aus Zeitlosigkeit hineinziehen.
Keine Punks in Kirgistan
Was lässt sich nicht alles über ein Handy retten! Sein eigen Seelenheil zum Beispiel, durch einen Segen vom Papst per SMS, das ist das Neueste und im Grunde auch gleich das Letzte. Auf wie viel Megaherz lässt sich so ein Segen überhaupt dezimieren, auf dass ein Segen noch ein Segen bleibt? Hielte so was einer Komprimierung auf MP3-Format stand? Ich denke, so Gott will, ja. – Aber da wäre ich mir nicht so sicher, was seinen Willen betrifft. Abgesehen davon glaube ich, es macht gar nicht der Papst, sondern da wühlt irgendein Messdiener in klerikalen Dossiers und tippt sich dann die Daumen wund.
Menschenleben kann ein Handy andererseits auch retten. So erging’s einem jungen Australier, der sich in Bischkek verlaufen hatte. Er ist Gast in der Pension. Gerade erst angereist, unternahm er einen Spaziergang durch die verwinkelte Stadt und verirrte sich dabei hoffnungslos. Verzweifelt rief er seine Reiseagentur an, um sich herausholen zu lassen. Leider hatte er ein zusätzliches Problem. Er kennt die kyrillische Schrift nicht, somit war er nicht imstande, die Straßennamen zu lesen, und kein Passant war fähig, ihm zu sagen, wo es langging, weil ihn keiner verstand. (Die Kirgisen sind ganz bestimmt nicht die Einzigen, die Australier gar nicht oder kaum verstehen.) Im Reisebüro rieten sie ihm, ein Straßenschild mit dem Handy zu fotografieren und ihnen als MMS zu schicken. Das klappte.
Der ganze Rettungseinsatz kommt gut an bei uns, und als der blasse Typ Stunden später in die Pension zurückkehrt, erntet er reichlich Gelächter von uns allen, nachdem wir in einer explosiven Phase krampfhaft bemüht waren, nicht wie angeschraubte Sektkorken loszuplatzen.
Am späten Nachmittag treffe ich mich mit Jasina und wir machen erneut einen Stadtbummel. Dabei führen wir angeregte Gespräche über so manches, was 19- und 46-Jährige so interessiert und verbindet. – Und das ist viel mehr, als man meinen möchte. Ein bisschen was von Politik und Religion ist auch dabei.
Wir gelangen zu einem schönen, mit Springbrunnen und Rasenflächen gestalteten Platz, an dessen verlängertem Ende die verschneiten Berge des Tien Shan als Schutzwall für die große Stadt thronen.
„Allah ist groß“, schwärmt Jasina und deutet auf die Gebirgskette.
„Ja! Aber Buddha ist es auch!“ – Und nicht nur sein Bauch. Aber das kann ich mir gerade noch verkneifen. So auch das: Jesus war auch kein Kleiner.
Staatstragend nähern wir uns dem Parlament; ein schmucker Bau mit Säulenvorhalle, der nicht nur an das Weiße Haus erinnert, sondern auch so heißt.
„Unser Präsident Bakiev ist ein guter Präsident. Er kommt aus dem Volke und versteht die einfachen Menschen im Lande.“
Monate später werden Proteste und Massenkundgebungen, die in gewalttätigen Ausschreitungen enden, eine andere Sprache sprechen. Der gute Präsident wird sich doch etwas zu viel herausgenommen haben. Gott sei Dank macht ein Schurke allein noch keinen Schurkenstaat, dazu gehört noch mindestens eine laute Partei oder eine ebensolche Religion, besser beides in einem. Und vergessen darf man nicht, da gibt es einen langen, behaarten Arm, der beschützt oder rempelt, je nachdem, kein Mensch weiß wie lange er das noch tut, ausgestreckt wird er jedenfalls von Moskau aus. Im Prinzip sind die Nachfolgestaaten der frühen Sowjetunion bestenfalls Deckmanteldemokratien, was zwar weicher klingt als etwa „Tarnkappendiktaturen“, aber ein und dasselbe beschreibt. Andererseits, was sind schon unsere Demokratien? Lebensbedingungen von einer Mehrheit aufgezwungen zu bekommen ist Demokratie; von einer Minderheit, Diktatur. Gut meinen tun es alle. – Mit sich selbst.
Überhaupt. Wahres und Wahrheiten sind noch nie mehrheitsfähig gewesen, die Masse folgt immer dem Verführungsgesäusel des Rattenfängers, getreu bis in den Wassertod. Und Meinungsminderheiten zu vertreten, ist oft anstrengend. Gefährlich ist es auch, ich mach so was häufig und gerate dabei für gewöhnlich leicht in einen Argumentationsdschungel.
Nehme man zum Beispiel das hohle Sinnsprüchlein „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Das meinen viele – ja fast schon Volksmeinung –, hingegen lässt es sich bedenklich weiterspinnen: Jeder Mensch verdient ihm widerfahrendes Heil und Unheil, den Partner, den er sich aussucht, seine Eltern, und, jetzt wird’s haarig, jedes Volk verdient die Regierung, die es regiert. Im Verlauf einer solchen gedanklichen Querfeldeinexpedition macht man sich immer mehr zu einer Minderheit, und am Schluss steht man mit dieser Meinung möglicherweise nicht nur alleine, sondern dazu noch ganz schön blöd da.
Ich sage zu Jasina: „Viele Europäer sind Amerika-kritisch!“
„Waaas? Wirkliiich? Wiesooo? An unserer Uni unterrichten Amerikaner, die sind sooo nett.“ Jasina ist schockiert. Es geht an die Tabuzone.
„Wegen ihrer Entschlussfreudigkeit in Bezug auf Krieg.“ Beinahe schon: Lizenz zum Krieg. „Aber das richtet sich gegen die Regierung und ihre Außenpolitik, nicht gegen das Volk.“ Wenn aber das wiederum die Regierung verdient, die es regiert? Der Dschungel wird dichter, und ich suche nach einer Liane, um abzuschwingen.
„Ganz allgemein ernten wir Menschen, was wir säen.“ Völlig unbeabsichtigt ist mir da ein Brückenschlag zum Propheten Mohammed gelungen, der findet das nämlich auch.
„Warum ich die Backstreet-Boys nicht mag, hast du mich früher gefragt?“, jetzt ergreife ich endlich die Liane. Über diese Frage war ich heute schon einmal in Argumentationsnotstand geraten. Für den Moment verhilft mir mein Notstand von eben zu einer Argumentation in dieser aufgeschobenen Backstreet-Boys-Frage: Dieses ‚Ich bin so cool, und ich liebe dich‘ Ist mir auf Dauer denn doch zu monoton. Im Leben gibt’s ja auch mehr als nur das Eine.“
„Aber sie singen doch toll, findest du nicht?“
„ …“ Und schon hab ich wieder einen Notstand.
Gegen Abend nimmt wieder Medina an unseren Kreuz- und Quergängen durch sämtliche Gesprächsthemen und durch die Viertel der Stadt teil. Dort wo einmal Lenin stand – als Denkmal natürlich – steht jetzt ein Freiheitsstatuenklon auf hoher Säule, die Erkindik-Statue. Anstatt der Fackel hält sie den Tündük, den Rauchabzug einer Jurte, deren Mittelpunkt, in der emporgestreckten Hand. Abermals ergreife ich die Gelegenheit, Jasinas verklärtes Bild vom heilen Amerika ein wenig zu beklecksen. Ich meine, ein bisschen bilaterales Gleichgewicht kann nicht schaden. Sonst kriegt die Welt auch noch Übergewicht, dort wo der Westen ist, und das schlägt sich noch auf die Erdrotation durch. Bald aber werde ich hellhörig und stutze, als Jasina mir kurzentschlossen eröffnet, sie habe soeben ihre Zukunftspläne umgekrempelt und ihren angestrebten Studienplatz von New York nach Europa verlegt, wie hieße es dort doch gleich, woher ich käme? Ach ja, Wien, und außerdem wollte sie schon immer einmal nach Australien. Diesen Eigenwerbefeldzug hat sich Europa jetzt aber wirklich nicht verdient.