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Der Trupp ist von vorne bestens einsehbar. Keine natürlichen Hindernisse. Nach hinten ein Hügel mit Sicht von oben auf die Gruppe. Buddy sitzt wie auf einem Präsentierteller an einen Stein gelehnt. Ein Wunder, dass er bisher unentdeckt blieb.
Das Kommando liegt flach am Boden und sichert, während Thomas Buddy versorgt. Er begutachtet die tiefe Wunde an Buddys Oberschenkel, legt ihm einen Druckverband an und bedeckt ihn mit einer wärmenden Folie. Buddy hat viel Blut verloren, er droht zu kollabieren. Thomas ist Medic, aber Buddy braucht mehr, als Thomas im Gepäck dabei hat.
»Sein Kreislauf ist völlig im Keller, George.«
»Buddy, nicht einschlafen. Wie ist der Name deiner Frau?«, fragt George.
Buddys Augen öffnen sich langsam. Zum ersten Mal.
»… Linda … girlfriend …«
»Wo wohnt Linda, Buddy?«
»… New Jersey …«
George leuchtet über sein Gesicht. Buddy ist weiß, stöhnt und atmet schwer.
»… sag‘ ihr, dass ich sie liebe …«, flüstert er.
»Das wirst du ihr in Bagram gefälligst selber sagen, Buddy, hörst du! Was hältst du davon, Buddy? Buddy, sprich!«
Buddy schaut George aus leeren Augen an. Seine Lippen formen etwas. George legt das Ohr an seinen Mund.
»Les … is Les okay?«
George winkt den Backseater Les heran.
»Halt ihn wach, Les, mach‘ ihm Mut!«
Der dicke Les beugt sich über seinen Piloten.
»Buddy, alter Junge, nicht aufgeben, Linda braucht dich. Ich brauche dich in unserer fucking F-15. Du willst mich doch wohl in dieser alten Krähe nicht im Stich lassen? Wie willst du deinen Hamburger in Bagram, Buddy? Was hältst du von einem Texas-Burger mit Käse, Paprika, schönen Beilagen aus Mexico, mit Senf oder lieber mit Thomy Ketchup?«
Buddy hat die Augen wieder etwas geöffnet und reagiert mit einem leisen Lächeln. Schließlich hat Les, mit dem er hier seit sechs Monaten fliegt, gerade sein eigenes Lieblingsgericht beschrieben.
Dann fallen seine Augen wieder zu.
Thomas und Marc nicken sich zu. Zustand kritisch. Buddy muss in den nächsten dreißig Minuten an einen Tropf, sonst war’s das.
Tims grüne Gläser wandern über den Horizont von rechts nach links, links nach rechts.
»Wir liegen hier nicht gut, gar nicht gut …«
»Wir können nicht verlegen«, flüstert Marc, »die Charlie Force erwartet uns hier an diesen Koordinaten«, während er selbst die Gegend absucht, die in der Infrarotrestlichtverstärkung wirkt, wie die hässliche Landschaft eines anderen Sterns. Marc interessiert nicht das normale Grün. Er sucht das gleißende Grün, das Weiße von Kleidungsstücken und das Schwarze im Nachtsichtgerät. Menschen.
»Oh Mann, wir liegen hier überhaupt nicht gut, gar nicht gut, wie auf dem Präsentierteller«, wiederholt Tim.
Marc zuckt zusammen.
»Taliban in zehn Uhr!«
Im Fernglas wachsen die Umrisse mehrerer Männer heran. Fünf, sechs? Sie scheinen zu suchen, kommen langsam näher. Durch die diffuse Morgendämmerung erste Stimmen.
»Charlie Force – Tangos in area«, gibt George leise an die anfliegende Force durch.
»Roger – Five minutes to go – bleibt wo ihr seid!«
Die Echo Force liegt so flach am Boden wie möglich, nur wenig geschützt von kleinen Felsbrocken. Thomas zieht Buddy runter, der stöhnt laut. Jeden Augenblick kann es losgehen. Die Amerikaner mit individuell gestalteten Schnellfeuergewehren aus der geheimen Waffenkammer der Seals, die Deutschen mit G 36KA2. Feindkontakt ist tausendmal geübt. Und doch rast das Blut durch die Adern, der Puls geht hoch, das Adrenalin rauscht.
George sieht einen Afghanen den Arm hochreißen. Ein Zeichen? Jetzt lautes Rufen. Weitere Afghanen!
George überlegt kurz, wann der richtige Zeitpunkt ist.
»Feuer nur auf mein Kommando!«
Er mag den Kampf auf lange Entfernungen nicht. Die Männer auch nicht, nicken ihrem Leader zu.
»Zwei Tangos in drei, hinter dem Felsen, dreißig Meter«, gibt Seal Two durch.
»Okay, habe ich.«
»Vier Tangos in zehn …«, kommt von Seal Three.
Auf einmal kracht das Geschoss einer Panzerfaust ein, heftig und brutal. Sie verfehlt das Echo Team nur um wenige Meter.
George checkt die Lage. Das war knapp. Verdammt knapp! Im nächsten Moment springen die Taliban aus ihren Deckungen heraus und stürmen heran.
»Feuer frei!«
Gezielt nehmen sich die Elitesoldaten jeden Einzelnen vor. Treffer, Patsch!
Dunkle schwarze Flecken zwanzig Meter vor Marc im Nachtsichtglas.
Blut. Blut wird schwarz.
Zielen, patsch!
Tango drei Uhr! Absprache mit Handzeichen und Kopfbewegung.
Präzisionsschüsse.
Nur kurze Salven. Die Hülsen rasseln wie ein Rinnsal nach rechts raus.
Ziele von vorn, von der Seite, stehend, gebückt, im Sprung. Wie im Trainingsraum. Aber hier mit kurzen Schreien.
Das Team arbeitet präzise wie ein Uhrwerk.
Die Distanz zu den Angreifern wird kürzer. Es sind zu viele, viel zu viele …
»Gentlemen, sie wollen, dass wir uns leerschießen«, gibt Marc durch. Doch einen Marc wird man nicht leerschießen. Er zählt mit Tim und Thomas in Calw, am Heimatstandort der Spezialkräfte, zu den besten Scharfschützen. Und er vermeidet es, die Patronen aus dem Stangenmagazin im Dauerfeuer zu vergeuden. Selbst, wenn sie mit dreißig Mann auf ihn zustürmen. Danach wäre sein G 36 heiß und damit ungenau. Marc mag keine Ungenauigkeiten.
Einer der Taliban kniet seitlich an einem Felsen. Er sucht sein Ziel. Marc sieht durch den Nachtsichtaufsatz 80 nur den Sprengkopf der Panzerfaust. Eine hässliche, spitze, grüne Röhre. Entfernung hundert Meter.
Kurzer Feuerstoß aus dem Stangenmagazin. Direkt in den Kopf. Der Afghane wirbelt durch die Luft. Im grünen Glas schwarze Flecken. Kein Kopf mehr.
George nickt rüber. Er weiß, Menschen zu töten ist für die Germans ein verdammtes Rechtsproblem. Verdächtige totschießen gibt’s bei denen nicht. Das hier ist aber Kampf ums Überleben! Rules of Engagement, die genehmigten Einsatzregeln, erfüllt … und man ist unter sich …
Buddy stöhnt, versucht sich aufzurichten. Thomas drückt ihn runter.
»Er braucht dringend eine Infusion, sonst war’s das, George!«
»Sag ihm, in fünf Minuten ist er auf dem Weg nach Hause, zu Linda.«
Über ihnen pfeifen die Geschosse vorbei.
»Hast du gehört Buddy, wir sind gleich unterwegs, halte durch. Linda wartet auf dich.«
George und seine beiden Seals feuern nach vorn, die Deutschen nach hinten den Hügel hinauf.
Sie sind eingekreist. Jetzt wird es verdammt eng!
George spürt, wie erste Angst in ihm hochkriecht, dass sein Trupp es auf diesem verdammten Präsentierteller hier nicht schafft. Er hat keine Lösung. Die Hilfe muss sofort kommen.
»Charlie Force – Echo Team unter schwerem Beschuss!
»Roger Echo Team – wir sind …«
Der Spruch geht im Krach unter. Hubschrauberlärm! Der schönste Lärm, den Elitesoldaten sich in aussichtsloser Lage wünschen. Wie von Geisterhand stehen plötzlich zwei aus dem Tal kommende AH-64 Apache-Kampfhubschrauber vor ihnen in der Luft. Man hört sie mehr, als dass man sie sieht. Aus den Raketenbehältern rechts und links zischen Luft-Bodenraketen in die kleinen Gruppen der Taliban, gefolgt von Garben aus der dreißig Millimeter Bordkanone. George‘s aufgekommene Angst ist verflogen. Seine Feuer speienden Drachen sind da!
Spezialnachtvisier, Zielzuweisung, nicht hinschauen, sonst wirst du blind!
Neuer, tosender Lärm.
Die lange Silhouette eines Monsters taucht auf, kommt näher. Der Chinook-Transporthubschrauber hängt schwerfällig wenige Meter über dem Boden. Ratternde Salven aus dem Ungetüm. Fünfzig lebensrettende Meter vor den Elitesoldaten. Jeder Meter einer zu viel! Denn es sind noch zu viele Taliban. Die beiden Rotoren wirbeln Steine und Dreck durch die Luft.
Warum immer wieder dieses Monstergerät?, denkt Marc, hoffentlich geht das gut.
Das Monster bewegt sich auf den Boden zu, setzt erst hinten auf, dann vorne. Krach, Nachwippen, steht endlich auf dem leicht abfallenden, felsigen Boden. Sofort springen Charlie Force Fighter mit ihren bereits angelegten Nachtsichtgeräten aus dem Chinook.
Niederknien, zielen.
Die Apaches drehen sich wie computergesteuerte Wesen auf die Ziele zu, geben Feuerschutz für die Echo Force.
Marc wirft sich um die eigene Achse auf den Rücken, checkt die Lage für den Trupp. Jetzt kommt der gefährlichste Moment in diesem Hexenkessel. Für sie und die Hubschrauber, denn das ist eine perfekte Situation für einen grandiosen Feuerball mit nur einer einzigen Panzerfaust. Drei Seals schleppen unter dem Feuer der Apache-Hubschrauber Les und den mittlerweile bewusstlosen Buddy zum Hubschrauber.
Geschafft!
Der Medic nimmt Buddy in Empfang, er hat den Infusionsbehälter und die Sauerstoffmaske bereits in der Hand. Buddy hat jetzt eine Chance. Vielleicht.
Ein verkabelter Amerikaner an der Tür des Chinook winkt hektisch.
»Get in, get in!«
»Tim, Tango hinter dir!« Marc kann ihm nicht helfen, sein Bruder steht genau in der Schusslinie.
Der kleine Tim schnellt katzengleich herum, schießt aus der Hüfte. Der Taliban spreizt im Fallen die Arme. Seine Kalaschnikow wirbelt durch die Luft wie eine groteske Zirkusnummer.
»Danke, Marc.«
Tangos jetzt von allen Seiten. Die Echo Force rennt gebückt Richtung Hubschrauber.
Gucken, erkennen, Salve, neues Magazin, weiter!
Jeder sichert sechzig Grad.
Sechs mal sechzig. Kein Sektor darf offen bleiben. Einer für alle, alle für einen.
Noch zehn Meter bis zum Chinook!
Die Charlie Force und die Navy Seals One und Two sind drin, geben Feuerschutz für George und die drei Deutschen, unterstützt von den zwei Höllenmaschinen, die noch in der Luft warten.
Thomas kniet sich in der Deckung des Hubschraubers nieder und aktiviert die Fernzündung. In der Ferne gibt es eine gewaltige Explosion, die das Tal beben lässt. Das Echo will nicht aufhören. Es ist, als würde der Hindukusch zerbersten. Erledigt. Was geheim war, musste zerstört werden. Der US-Kampfjet dürfte nur noch aus kleinen Metallteilen bestehen.
»Hurry up, hurry up!«, kommt von dem Amerikaner in der Tür des Chinook. Er fuchtelt jetzt hektisch mit dem Arm herum. Das Monster ist in Gefahr. Es wäre nicht das erste Mal, dass Soldaten zurückbleiben müssen.
Tim und Thomas sind mit einem gewaltigen Sprung drin, hinter ihnen George, Seal One.
Marc ist der Letzte am Boden. Wie immer. Erst sein Trupp, dann er.
Das Monster hebt bereits ab. George winkt ihm hektisch zu. Marc wirft das Gewehr um die Schulter, dann ein Riesensatz zur Tür, George hält ihn fest, zieht ihn hinein. Halb hängend feuert Marc seine letzten Salven in Richtung der Mündungsfeuer am Boden.
Die drei Hubschrauber mit der Echo Force und der geretteten F-15-Crew tauchen ab in das dunstige Tal.
Seal One klopft seinem deutschen Freund von hinten anerkennend auf die Schulter.
Marc Anderson befindet sich auf dem Zenit seiner Karriere, nicht wissend, dass er seine eigentliche Prüfung noch vor sich und sein Glück als Elitesoldat heute für immer verbraucht hat.
2.
Berlin
Auch an diesem 17. Dezember röhrt der nicht ganz legale Auspuff der Harley Road King etwas zu laut bei der Einfahrt in die Garage des Auswärtigen Amtes in Berlin. Die Polizeiposten vom Amt wissen: Rudi fährt vor, Dr. Rudolf Kürten, der Mann für alle Fälle, wenn deutsche Staatsbürger irgendwo in der Welt ein gravierendes Problem haben.
»Guten Morgen, Herr Doktor Kürten!«
Rudi klappt das Helmvisier hoch: »Ich hab‘ doch gesagt, lasst endlich den Doktor weg!«
»Jawohl, Herr Doktor!«
Es ist in der Tat ein etwas untypischer Ministerialdirigent, mit Biker-Lederjacke, einem dezenten Ohrring, einem spitzen Kinnbärtchen und zum Zopf zusammengebundenen Haar, der da sein Reich betritt.
Sein Reich im Hochsicherheitstrakt unter Tage, eine 24-Stunden-Krisenmanagementmaschine, ist das Beste, was es in Deutschland gibt. Seine Leute sind Spezialisten vom Auswärtigen Amt, der Bundeswehr und aus den Nachrichtendiensten, Menschen, deren Vita er selbst nicht immer kennt. Doch Rudi muss sich vollkommen auf sie verlassen können. Jede falsche Koordinate, jede falsche Uhrzeit, jeder falsche Name, jede falsche Wetteranalyse oder jede falsche politische Einschätzung kann Leben gefährden. Rudis Job aber ist es, Leben zu retten. Am liebsten würde er das selbst tun.
Aber er ist nicht Frontsoldat, sondern am Schreibtisch so etwas wie der oberste Krisenmanager der Nation. Oft genug am finalen Hebel der Verantwortung, wenn die Leitung oder sogar die Regierungschefin nicht entscheiden will.
Rudolf betritt das Krisenreaktionszentrum durch die Tür aus Tresorstahl, einem Erbe aus früheren Tagen, als hier noch die Reichsbank untergebracht war. Der Ort war eine kluge Wahl. Die abhörsicheren, einhundertzwanzig Zentimeter dicken Stahlbetonwände und achtzig Zentimeter dicken Fensterläden aus Stahl leisten beste Dienste gegen das Abhören von außen. Da aber der Feind auch innen sitzen kann, legt jeder Teilnehmer einer Krisensitzung sein Handy vor der Tür in den kleinen Schrank mit den achtzehn verschließbaren Fächern ab, Minister eingeschlossen.
Rudolf schaut kurz in den Lombardraum hinein, in seine Schaltzentrale.
»Guten Morgen allerseits, irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«
Alberne Nachfrage, denkt er, denn hier ist jede Nacht etwas los und wird routinemäßig von der Nachtschicht unter Leitung des Beamten vom Dienst abgearbeitet: Entführte werden zurückgeholt, Angehörige telefonisch beruhigt, Sanitäter und Seelsorger geordert, und es wird ständig nach verschollenen Deutschen gesucht. Oft tauchen die dann irgendwann von selbst wieder auf. Nichts Besonderes. Es gibt im Fachjargon die Unterscheidung zwischen Vorkommnissen und den Besonderen Vorkommnissen, den BV, bei denen ihn die Nachtwache der Nation aus dem Bett holen würde.
Vor dem Beamten vom Dienst stehen vier Telefone, eines mit der Aufschrift Vorsicht Abhörgefahr! An sich nicht notwendig, denkt Rudi, meine Leute sind von Haus aus verschwiegen. Sie reden auch über die verschlüsselten Geräte nur das absolut Notwendige. Am liebsten: Verstanden – Roger – Over – Out.
Die Welt draußen ist hier in einen einzigen Raum gepackt. Neun Normaluhren mit den Namen der Hauptstädte, austauschbar mit dem aktuellen Krisenort in der zugehörigen Zeitzone. An der Wand Karten und die Privat- und Handynummern der Minister und Staatssekretäre. Sensible Daten, die abgedeckt werden, wenn Fremde das Allerheiligste betreten. Rund um die Uhr gehen die Ticker-Meldungen der Agenturen über Bild und Text ein, ebenso die BND- und BKA-Berichte und die der zweihundertvierzig deutschen Botschaften, so genannte Drahtberichte, die immer noch so heißen, obwohl sie längst elektronisch sind. Überall flimmert es, zehn Bildschirme allein für die Nachrichtensender. Für fast jedes Land gibt es einen Länderordner. Es gibt kaum etwas, was hier planerisch nicht schon vorgedacht ist.
Jeden Morgen wundert sich Rudi darüber, dass es hier bei dem Rund-um-die-Uhr-Betrieb in drei Schichten nicht muffig riecht. Wenn es richtig heiß hergeht, hat er im Amt eine Reserve von über zweihundertfünfzig geschulten Beamten für den Telefondienst. Bei Rudi läuft alles zusammen. Er ist ein Kellerkind der besonderen Klasse.
Allerdings ist sein Dienstzimmer kein Kellerverließ, es ist wie alle Dienstzimmer der Ebene Abteilungsleiter/Ministerialdirigent/Besoldungsgruppe B 6 nach besonderen Standards ausgerichtet. Großer Mahagoni-Schreibtisch, schwerer Teppich, Besprechungsecke mit feinen, schwarzen Sesseln, das Bild des Außenministers in Öl.
Dieser, der Leiter des Amtes, Georg von Rüdesheim, hat ein nettes, freundliches Gesicht.
Minister kommen und gehen. Mit ihnen die Ölgemälde. Nur der kleine schwarze Nagel an der Wand bleibt. Jahrzehntelang. Er hat inzwischen quasi einen ministeriellen Status bekommen. Ein Nagel wie der ideale Beamte dieses Hauses. Unauffällig und leistungsstark.
Ein Schild in Rudis Zimmer wird jedoch nie bewegt:
Failure is not an option.
Rudi lebt konsequent nach diesem Prinzip. Es stammt von der NASA, und galt der zu rettenden Apollo 13-Crew im All. Katastrophen verhindern durch Vermeiden von Fehlern. Auf dem Motorrad wie auch im Krisenkeller. Da gibt es für Rudi keinen Spielraum.
Er mag seine achtunddreißig Frauen und Männer von der Abteilung 04 im geheimnisumwitterten Krisenkeller – und sie ihn. Denn Dr. Rudolf Kürten ist nicht der amtstypische, aalglatte Beamte, sondern stets locker, mit viel Herz, und dabei hoch kompetent. Er hat seine Krisenweihen als Botschafter in Kenia, und damit auch zuständig für Somalia und Burundi, bekommen. Niemand im Amt kennt das leidige Thema Piraterie so gut wie er. Mit zweiundfünfzig Jahren weiß er auch, dass ein lockeres Arbeitsklima die besten Erfolge garantiert.
Doch Fronterfahrung und kooperativer Führungsstil sind nur eine Sache. Rudi ist keineswegs naiv. Hier im Krisenmanagementzentrum der Republik ist analytischer und emotionsfreier Sachverstand gefragt. Ohne Wenn und Aber.
Für die Lösung komplexer Lagen hat Rudolf ein bestimmtes Konzept geradezu verinnerlicht.
Es war vor vier Jahren, bei einer Einweisung für Spitzen-Führungskräfte der Wirtschaft an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg Blankenese. Er sieht den Oberst noch vor sich: Linker Arm in einem Tragetuch, Narbe oberhalb des rechten Auges, ganz scharfer Blick. Ein Typ wie Graf von Stauffenberg, hingerichtet am 20. Juli 1944.
»Bevor Sie eine Entscheidung treffen, meine Damen und Herren, verfahren Sie nach diesen vier Schritten:
1. Situation Analysis:
Alle Faktoren der Situation, bitte ohne jegliche Bewertung. Wir Soldaten nennen das Eigene Lage und Feindlage. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Wirtschaft, können das z.B. die Produktpalette und der Wettbewerb sein. Bei den Damen und Herren vom Auswärtigen Amt der eigene rechtliche Rahmen und die politische Situation im Problemland. Verstanden? Okay, weiter geht’s!
2. Assessment:
Bewerten Sie jetzt aus der Situation Analysis Ihre Lage und die des Gegners. Aber keine Emotionen, sachlich bitte! Sie fahren gut, wenn Sie nach Faktoren bewerten. Ich sehe, Sie schauen mich fragend an, was Faktoren sind. Sehr einfach. Zum Beispiel die Fähigkeit der eigenen und der gegnerischen Ressourcen, die Marktsituation, die politische Lage, je nachdem, wo immer Sie arbeiten. Bei uns Militärs kann zum Beispiel das Wetter der entscheidende Faktor sein. Je umfassender Sie bewerten, umso besser wird die Entscheidungsgrundlage. Ist das auch verstanden? Nun, dann komme ich zu:
3. Objectives:
Sie glauben, dass Sie jetzt entscheidungsreif sind? Falsch, meine Damen und Herren. An dieser Stelle werden leider zu oft zu frühe, und damit auch falsche Entscheidungen getroffen. Entschleunigen Sie einen Augenblick. Schauen Sie in sich und fragen Sie sich: Was ist die Zielsetzung meines Handelns in dieser Lage? Was will ich erreichen? Ihre Antwort wird den Kurs bestimmen. Wollen Sie vielleicht den ganz großen Krieg gewinnen oder in dieser Phase vielmehr nur die Medien beruhigen? Im letzteren Fall ist Ihr Handeln auf Krisenkommunikationsoptionen ausgerichtet. Sie sehen, wie schnell man sich hier verlaufen kann. Damit zum letzten Punkt.
4. Conclusions:
Jetzt dürfen Sie Ihre Entscheidung treffen. Vielleicht hatten Sie die schon in der Hosentasche. Gut, dann ist sie jetzt immerhin bestmöglich abgesichert. Vielleicht sind Sie aber nach dieser Analyse mit einer ganz anderen Entscheidung unterwegs. Aber Vorsicht meine Damen und Herren – meistens gibt es mehrere Optionen! Listen Sie diese auf und wählen Sie die Entscheidung aus, die Ihre Zielsetzungen, Ihre Objectives, am besten erfüllen. Machen Sie Gewichtungen. Aber behalten Sie immer Ihre Mittel und Möglichkeiten im Auge, bleiben Sie in der Realität.«
Der Oberst zeichnet vier Buchstaben.
»Wir nennen diesen Führungsprozess SAOC«, er zeigt dabei auf die Anfangsbuchstaben von Situation Analysis, Assessment, Objectives und Conclusions.
»Es ist das klassische Führungsinstrument von Streitkräften. Damit wurden Kriege gewonnen oder zumindest vermieden. Viele meiner Kameraden sind heute Kollegen von Ihnen in der Wirtschaft und fahren mit diesem System auch dort bestens. Trimmen Sie Ihren Stab auf diesen Prozess. Und wenn sich die Lage ändert, dann lassen Sie SAOC neu anlaufen.
Last but not least: Vergessen Sie nie die Kontrolle. Fragen? Ich danke Ihnen.«
Danach hätte Rudi eigentlich nach Hause fahren können. Das war doch mal etwas! Es gibt eben Klicks im Leben.
Und manches Mal braucht man dazu einen sympathischen und garantiert authentischen Uniformträger.
Seitdem nistet SAOC in Rudis Großhirn wie die Schaltungen vom ersten zum fünften Gang, wenn er aus dem Spreewald ins Amt fährt. Allerdings hat er es längst aufgegeben, SAOC seinem Leiter des Krisenreaktionszentrums, Ministerialrat Dr. Hartwig Bloedorn, beizubringen. Irgendwie kann er diesen Mann nicht erreichen oder die Chemie zwischen beiden stimmt einfach nicht.
Rudolf schaut auf die Wandtafel. Zwölf Entführungslagen mit verschiedenen, maßgeschneiderten Krisenstäben je nach Land des Geschehens. Er kennt jeden Fall. Jede Dramatik. Jede Person. Jede Familie.
Aber ein Fall ist anders. Ein Entführungsfall, der bereits über zwei Jahre läuft, ohne sichtbare Bewegung. Zwei Männer werden als Schutzschild gegen die permanente militärische Bedrohung missbraucht. Das Bundeskriminalamt hat inzwischen ein Team für die Betreuung der beiden Familien in Deutschland abgestellt. Doch eigentlich brauchen diese Familien vor allem psychologische Betreuung. Rudi hat dafür rund um die Uhr Zugriff auf eine Hotline, die ihm in fast jeder deutschen Stadt ein Kriseninterventionsteam garantiert.
Und seit acht Wochen ist man in Sorge um die beiden deutschen Mitarbeiter eines Unternehmens, Helmut Weier und Josef Fischer, die entgegen der Reisewarnung des Amtes im Nordirak tätig wurden. Immerhin hatten sich beide in ELEFAND, die kostenlose, elektronische Liste der Erfassung von Auslandsdeutschen, eingetragen. Der Bundesnachrichtendienst vermutet sie in den Händen des Islamischen Staates, der schnell wachsenden muslimisch-militanten Terrorgruppe, die längst al-Qaida weltweit den Rang abgelaufen hat. Bisher gab es überhaupt kein Signal von irgendeiner Seite. Der Krisenstab Weier/Fischer, mit dem hausinternen Kürzel WEFI, ist auf Erkenntnisse der Nachrichtendienste angewiesen. Und in der Tat gibt es einen ersten Hinweis von der CIA, dass zwei deutsche Geiseln vermutlich im Nordirak festgehalten werden. In diese Richtung laufen jetzt alle Bemühungen von WEFI.
Rudolf weiß, dass die vergleichsweise komfortablen Zeiten vorbei sind, als es bei Entführungen nur um Lösegeld ging. Seitdem Deutschland sich zunehmend im Kampf gegen den internationalen Terror engagiert, nehmen die politischen Erpressungen zu und die Chancen für die Geiseln dramatisch ab.
Während er auf dem Weg zum Lagezentrum ist, stürzt Dr. Bloedorn hektisch auf ihn zu.
»Herr Dr. Kürten, gut, dass Sie da sind! Wir haben gerade über YouTube eine Videodrohung vom Islamischen Staat mit Ultimatum bekommen. Die Geiseln Weier und Fischer sollen am 25. Dezember enthauptet werden, wenn Deutschland sich nicht aus den Unterstützungsaktivitäten im Kampf gegen den IS heraushält!«
Rudolf vergisst einen Moment, dass er diesen aalglatten Bloedorn nicht mag. Der Mann kann geschlagene zwanzig Minuten bedeutungsvoll reden, ohne etwas zu sagen. Hohe Diplomatenschule. Hier im Krisenkeller hat das Amt ihn eigentlich auch nur geparkt. In Krisensituationen hyperventiliert er geradezu in so einer Art Krisenorgasmus. Leider ausschließlich um des blinden Aktionismus willen, weniger aus echter Sorge um die betroffenen Menschen.






