- -
- 100%
- +
Und an die denkt Rudolf jetzt, als sein Blick die Computer, Faxgeräte und Chiffriermaschinen im Lagezentrum streift, und dann wie so oft an den neun, leise im Gleichtakt tickenden Bahnhofsuhren hängen bleibt. Im Nordirak ist es bereits zwei Stunden weiter.
Wann soll enthauptet werden? 25. Dezember, also in neun Tagen! Das gibt wenigstens etwas Luft. Jede Stunde ist jetzt wertvoll. Sie müssen auf Vollgas-Modus umschalten.
»Herr Bloedorn, Krisenstab WEFI für 16:00 Uhr lokal einberufen! Leitungsebene informieren!«
Rudi eilt in sein Büro, das unbarmherzige Ticken der Uhren noch im Ohr.
»Sandra, ruf‘ Silberlocke zu mir und bitte meinen Blazer!«
Seine Sekretärin Sandra weiß, wenn die Harley-Jacke gegen den Blazer getauscht wird, ist der Ernstfall eingetreten. Und sie weiß natürlich auch, dass BKA-Direktor Harry Busch, genannt Silberlocke, der beste Kenner der islamistischen Terrorszene ist und ein ausgebuffter Verhandlungsfuchs dazu.
»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass die Ehefrauen von Herrn Weier und Herrn Fischer eben angerufen haben. Chef, die sind am Ende ihrer Kräfte!«
»Haben wir die Erreichbarkeit?«
»Haben wir!«
»Sagen Sie beiden, ich rufe sie nach der Sitzung an.«
Er weiß, wie entsetzlich es für die Familien ist, die Enthauptungsdrohungen in den Nachrichten und die Enthauptungen selbst später wohlmöglich im Internet zu sehen.
Dann vertieft er sich in den Lagevortrag. Was wissen wir? Wie wird die Bewertung sein?
Doch schon jetzt ist ihm klar, es könnte die erste Enthauptung von Deutschen in diesem Jahr sein. Irgendwie war die RAF kalkulierbarer, geht es ihm durch den Kopf, da kannte man seinen Feind …
»Ich denke, Sandra, wir bekommen heute noch hohen Besuch.«
»Meinen Sie wirklich? Sie war in den zwei Jahren doch bisher nur ein einziges Mal hier, und das war zu ihrem Antrittsbesuch.«
Bundeskanzleramt
Als Susanne Ehrlich, die Leiterin des Kanzlerbüros, am Telefon die seltsam belegte Stimme des Bundesaußenministers Georg von Rüdesheim hört, ist ihr klar, dass es jetzt brennt. Sie ahnt nichts Gutes für den Dienstplan ihrer Chefin.
»Ist die Bundeskanzlerin erreichbar, sie antwortet nicht auf Ihrem Krypto-Handy?«, fragt von Rüdesheim.
»Das kann sein, Herr Minister, wenn sie das andere Telefon benutzt.«
»Diese Krypto-Dinger sind extrem unpraktisch«, entgegnet er etwas unwirsch.
»Darf ich die Chefin in Berlin vermuten? Ich muss sie dringend sprechen.«
»Darf ich erfahren, worum es geht?«
»Sie dürfen«, antwortet Georg von Rüdesheim nun etwas spitz. Es nervt ihn, dass in allen Vorzimmern dieser Welt die Büroleiter die Macht haben, wie bei ihm selbst …
»Der IS hat offensichtlich die beiden deutschen Geiseln Weier und Fischer in seiner Gewalt. Es gibt die klare Drohung, sie zu enthaupten, wenn wir uns nicht zurückziehen.«
»Ich darf Sie durchstellen Herr Minister, haben Sie Ihr Krypto-Handy aktiviert?«
»Ich rufe selbstverständlich bereits damit an.«
Bundeskanzlerin Dr. Henriette Behrens ist auf dem Weg von ihrer Wohnung im Süden Berlins zum Bundeskanzleramt. Vor und hinter ihr je ein Wagen mit Personenschutz.
Henriette ist gern Kanzlerin. Sie kommt aus einer bekannten Diplomatenfamilie, wohnte lange in Rom, studierte politische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie und promovierte über den römischen Kaiser Marc Aurel. Sie ist bei vielen Menschen im Land wegen ihrer menschlichen Art und sachlichen Politik beliebt. Ihre Politik wirkt durchschaubar, so wie sie selbst erscheint, transparent und authentisch. Sie kann knallhart sein, aber sie ist berechenbar. Die Bundeskanzlerin sagt, was sie will und hält es ein. Man kann sich auf sie verlassen, national wie international. Den Parteivorsitz hasst sie eigentlich, braucht ihn aber zum Erhalt ihrer Macht wie ein notwendiges Übel. Und sie muss diese Macht festigen, denn sie regiert seit kurzem in einer komplizierten Dreierkoalition umgeben von politischen Gegnern, die nur darauf lauern, dass die Kanzlerin einen Fehler macht. Gemäß dem Auftrag jeder Opposition: Sturz der Herrschenden.
Henriette hat sich heute für eine ihrer weißen Seidenblusen entschlossen, darüber trägt sie ein dunkelblaues Kostüm. Eine dezente Perlenkette, zwei kleine diamantene Ohrstecker. Noch mehr Schmuck mag sie nicht. An dem leichten YPSILON-Parfümgeruch konnte man die heute Neunundvierzigjährige bereits seit zwei Jahrzehnten leicht identifizieren. Inzwischen ist es schwer, das Parfüm noch auf dem Markt zu bekommen.
Die Kanzlerin wird von ihren Ministerinnen überwiegend kritisch gesehen, von den männlichen Kollegen hingegen geradezu verehrt, besonders von ihrem italienischen Amtskollegen. Nicht nur wegen ihrer Affinität zu Italien, sondern wohl auch, weil sie jung, Single und außerordentlich hübsch ist. Das Bild von Signora Henrietta steht in Rom auf seinem Schreibtisch, seitdem die eigene Frau ihn verlassen hatte.
Ihre in Stufen geschnittenen, halblangen, schwarzen Haare wurden im ganzen Land zur Henriette-Frisur. Handtaschen und Schuhe bekamen ihren Markennamen. Ihre Kleidung ist ständig Thema in der Boulevardpresse. Die Times schrieb in der Titelgeschichte Germany‘s best Brand über den überwältigenden Charme und Verstand einer »einzigartigen Ausnahmeerscheinung« unter den Regierungschefs in Europa.
Was um alles in der Welt trage ich heute beim Empfang des Emirs von Katar?, fährt ihr durch den Kopf. Von Rüdesheim hatte betont, dass das reiche Katar für Deutschland immer wichtiger werde, und es Zeit wäre, die politische Zusammenarbeit zu verstärken.
Sie schaut in den Spiegel, fährt mit dem Stift über ihre Lippen, presst sie zusammen und betrachtet dabei kritisch ihren Mund.
Bei dem Emir liefe sie wenigstens nicht Gefahr, umarmt zu werden.
Henriette hasst es, wenn Männer sie in aller Welt in den Arm nehmen. Es macht sich gut auf Bildern, die schöne erste Frau im mächtigsten Staat Europas zu umarmen. Fast jeder giert danach. Körperliche Umarmung heißt auch, politisch Macht dort zu demonstrieren, wo das Wort nicht reicht. Selbst kleine Männer scheuen nicht davor zurück, die 1,76 Meter große, schlanke Henriette an sich zu ziehen.
Es gibt bei öffentlichen Umarmungen alle Sorten von Männern. Souveräne Beschützertypen, andere sind einfach nur gockelhaft. Wenn sie aus Brüssel zurückkommt, hat sie ein Bombardement von Küsschen links, Küsschen rechts hinter sich. Sie hat inzwischen ihre eigenen Abwehrstrategien entwickelt, indem sie früh abblockt. Nicht immer gelingt es.
Am liebsten würde ich mich vor dem Mittagstermin mit dem Emir noch frisch machen und umziehen, denkt sie.
Wie ist der Plan? Jetzt gleich noch ein einstündiges Treffen mit Vertretern von Banken und ein zweistündiges mit Gewerkschaften und den Repräsentanten der Kirchen …
Sie schaut auf die Notizen, die sie neben sich auf dem Rücksitz des Wagens ausgebreitet hat. Henriette mag keine Gittermappen. Die Papiere müssen, wenn möglich, immer greifbar um sie herum sein, wie die Zutaten in der Küche, dann kann sie am besten kochen.
Sie zählt. Sechzehn wichtige Telefontermine am Nachmittag. Auch der Bundespräsident möchte mit ihr über eine schwierige Gesetzesvorlage sprechen.
Ein gemeinsamer, dringender Brief einer Frau Weier und Frau Fischer ist dabei. Die Ehefrauen der zwei verschleppten deutschen Geiseln flehen sie verzweifelt um Hilfe an.
Beide Ehemänner hatten sich nach langem Drängen ihrer Baufirma aus Hanau bereit erklärt, in den gefährlichen Irak zu fahren, um dort Geschäftschancen wahrzunehmen. Beide Frauen sind in Todesangst um ihre Lieben und verzweifelt, dass sie ihre Männer trotz aller Warnungen von Kollegen und auch des Auswärtigen Amtes nicht zurückgehalten haben. Der Brief ist anrührend geschrieben. Henriette spürt die große Not. Sie wird sich noch genauer informieren, bevor sie heute Abend nach zwanzig Uhr endlich die Füße hochlegen kann.
Henriette Behrens hat ein diskretes Treffen, und das kennt nur ihre Büroleiterin und langjährige Freundin Susanne Ehrlich.
Auf dem Krypto-Handy erscheint die Nummer vom Außenminister von Rüdesheim. Die Bundeskanzlerin ist ihm gegenüber mehr als vorsichtig. Der Koalitionspartner hatte ihn bei der Regierungsbildung gnadenlos durchgeboxt, und nun ist er traditionsgemäß in dieser Funktion leider auch Vizekanzler. Was hinter den Kulissen läuft, kann selbst sie nur ahnen. Gelegentlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn zurückzupfeifen, was in der Presse sofort als Konflikt in der Außenpolitik zwischen ihr und dem Außenminister ausgelegt wird. Rüdesheim beobachtet sie argwöhnisch, auch in ihrem offensichtlich auffällig guten Verhältnis zum Verteidigungsminister.
»Herr von Rüdesheim, haben wir ein Problem?«
»In der Tat, Frau Bundeskanzlerin.«
Er berichtet von dem Erpressungsvideo.
»Das müssen Sie noch wissen: Die Drohung wird von einem sehr gut Deutsch sprechenden Terroristen vorgetragen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, werden namentlich adressiert und massiv bedroht. Das Thema läuft bereits allen Medien mit den üblichen Spekulationen über unsere Reaktion. Ministerialdirigent Dr. Kürten bereitet für heute eine Sitzung des Krisenstabes WEFI bei uns im Lageraum vor.«
Henriette überlegt kurz.
Option eins, ich delegiere das Ganze wie so Vieles. Option zwei, ich mache den Fall zur Chefsache und greife aktiv in das Geschehen ein. In beiden Fällen: Ausgang offen. Option zwei kann ich zeitlich überhaupt nicht gebrauchen, und sie ist auch politisch gefährlicher …«
Sie weiß, dass sie in dieser brisanten Lage auf einem Feuerstuhl sitzt. Zwei deutsche Geiseln könnten erstmals von dieser Terrororganisation hingerichtet werden. Es ist nicht ihr Ding, heiße Themen auszusitzen. Sie wurde gewählt, um zu handeln. Sie handelt im Kabinett, in Brüssel, und sie muss jetzt auch einmal im Krisenkeller handeln! Henriette entschließt sich für die Option zwei.
»Um wie viel Uhr tagt der Krisenstab?«
»Um 16:00 Uhr.«
»Ich werde dazukommen. Bitten Sie auch Innenminister Dr. Bauer und Verteidigungsminister Voss dazu – und natürlich alle Ebenen, die wir für die Entscheidungsfindung benötigen.«
»Wird erledigt, Frau Bundeskanzlerin.«
So ein Blödmann, denkt Henriette. Wann begreift der endlich, dass ich kabinettsintern nur mit Namen angesprochen werden möchte?
Dann ruft sie ihr Leitungsbüro an, lässt die anstehenden Besprechungstermine mit Banken, Kirchen und Gewerkschaften kürzen. So wird sie noch einige Telefontermine schaffen. Das Umziehen kann ich vergessen, denkt sie und greift sich ein paar Akten.
»Zum AA Krisenreaktionszentrum!«
»Normal oder mit Blaulicht?«
»Normal, ich möchte vor Kriegsausbruch noch in Ruhe ein Nachmittagsschläfchen machen.«
Ihr Lieblingsfahrer gibt dem ersten Wagen die Einzelheiten durch und schmunzelt. Er ist stolz darauf, diese Chefin fahren zu dürfen. Sie sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern hat es richtig drauf, und wie immer die Ruhe weg.
Im Lageraum sind alle versammelt. Noch ist der zentrale Bildschirm dunkel. Gespannte Ruhe. Zum ersten Mal wird die Chefin selbst bei einer Krise anwesend sein.
Seit 15:30 Uhr fahren gepanzerte Limousinen vor. Die Fahrer springen heraus und öffnen den Ministern die Türen. Raumschutz ist hier nachrangig, man ist im Innenhof bereits im gesicherten Bereich. Verteidigungsminister Paul Voss wird von einem Heeresgeneral begleitet, Innenminister Dr. Siegfried Bauer von einem hohen Beamten der GSG 9 Bundespolizei, der Hausherr, Außenminister Georg von Rüdesheim, kommt allein.
Dr. Rudolf Kürten begrüßt jeden Einzelnen seiner Gäste per Handschlag. Großes Kino heute. Doch in Krisen wie dieser wird Rudi ganz ruhig, noch ruhiger als sonst.
Die Herren werden höflich, aber bestimmt gebeten, ihre Handys vor Eintritt in den Lageraum abzugeben. Das dient nicht nur der Sicherheit, sondern folgt Rudis Prinzip. Das Prinzip heißt: Kopf vor Technik.
Rudi überblickt den Raum. Der ist so, wie er ihn immer haben wollte. Leere Tische, aneinandergereiht in einem langen ovalen Block, am Ende über Eck. Schreibblock, Stift, sonst nichts. Diese ungewöhnliche Logistik hatte ihm ebenfalls jener Oberst aus Blankenese empfohlen. Seitdem gibt es im Lageraum keine Informationsüberflutung mehr. Es wird konzentriert und kurz vorgetragen, zugehört und diskutiert. Krisenrelevante Informationen werden während der Sitzung aus den Fachbereichen außerhalb des Lageraumes abgerufen, aus allen Ressorts und den Geheimdienstquellen. Bei Bedarf wird alles, was wichtig ist, auf einen großen Schirm projiziert. Doch nur bei Bedarf.
Rudi ist zufrieden. Hier befindet er sich direkt auf der strategischen Ebene. Trotzdem ist er froh, dass heute die letzte Entscheidung nicht auf seinen Schultern ruht.
Um exakt 15:58 Uhr wird es plötzlich ruhig im Lageraum.
»Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin!«
Alles erhebt sich.
Strahlend betritt sie in ihrem dezenten, blauen Kostüm den nüchternen, unpersönlich großen Raum. Henriette gibt dem Hausherrn die Hand. Georg von Rüdesheim weiß, dass sie auf einen Handkuss keinen Wert legt.
»Guten Tag zusammen, ich freue mich, hier im Krisenkeller zu sein! Mein Handy hat man mir abgenommen. Wäre auch sinnlos gewesen, wenn ich die Wände hier sehe.«
Lachen im Raum. Vorschrift ist Vorschrift auch für die Nummer Eins.
»Frau Bundeskanzlerin, ich stelle vor, Ministerialdirigent Dr. Kürten, Ministerialrat Dr. Bloedorn, BKA-Direktor Busch und der Kommandeur KSK, Brigadegeneral Wolf.«
Es folgen Ressortleiter und eine Reihe von Mitarbeitern. Die Crème de la Crème im Krisenkeller.
Henriette legt Wert darauf, jedem Einzelnen die Hand zu schütteln. Wertschätzung durch persönliche Begrüßung, wann immer möglich, ist ihre Devise. Sie ist sich ihrer Premiere in diesem Kreise bewusst, und ihr Charme erfasst schnell den gesamten Lageraum.
»Ich möchte zuerst das Video sehen.«
»Selbstverständlich, Frau Bundeskanzler«, erwidert Bloedorn, grammatikalisch völlig korrekt.
»Ich bin bekanntlich eine Frau«, sagt sie gewinnend, »also können Sie ruhig Frau Bundeskanzlerin zu mir sagen, selbst, wenn das einem weißen Schimmel gleich kommt. Die Tautologie nehme ich zugunsten der Emanzipation gerne in Kauf!« Wieder Erheiterung. Sie hat schon jetzt den Schlüssel umgedreht, denkt Rudi. Señora Henrietta hat ein Gespür dafür, dass auch im Worst Case gelacht werden darf … die Spannung muss raus … denn gleich wird es ernst, verdammt ernst.
Das projizierte Video ist erschreckend. Eine Gruppe maskierter Terroristen. Aber irgendetwas ist anders als sonst, denkt Henriette. Die gesamte Inszenierung. Das ist wie Hollywood …
Der Mann im Vordergrund will gerade sprechen.
»Bitte Stopp!«, sagt die Kanzlerin.
Sie erträgt das nicht, denkt Bloedorn.
Stimmt nicht. Die Kanzlerin will sich das stehende Bild erst einmal genau ansehen, bevor die Sprache kommt. Für sie ist der Gesamteindruck, die Körpersprache mindestens so wichtig wie das gesprochene Wort. Und hier erst recht. Was ist Show, was ist echt?
Sie schaut sich die Figuren genau an. Beide Geiseln in der inzwischen typischen, orangefarbenen Häftlingskleidung, identisch mit der Kleidung im Gefangenenlager Guantanamo. Kleider als Unterdrückungssymbol. Ihr habt unsere Brüder, wir eure. Wir sind auf Augenhöhe – Gottlose!
Weier und Fischer knien gefesselt auf dem Wüstenboden mit einem Schild um den Hals:
Ich will nicht sterben, Frau Bundeskanzlerin. Bitte helfen Sie!
Eine Gruppe fünf maskierter Terroristen in schwarzer IS-Kampfkleidung, Maschinengewehre und Panzerabwehrraketen hochhaltend. Neben jedem Gefangenen steht ein Terrorist mit einem Messer in der Hand – am Hals der Geisel.
Jetzt steht die Bundeskanzlerin auf, geht näher an den Bildschirm heran, sie studiert die Augen hinter den Masken, alles junge Männer, nein, eindeutig eine Frau dabei! Die Uniformen sauber, perfekt. Geschnürte Kampfstiefel. Am Gürtel etliche Ausrüstungsteile. Bodyguards aus dem Vorhof der Hölle.
Im Hintergrund eine Fahne: Tod den Feinden der Gotteskrieger.
Die brauchen gar nicht mehr zu sprechen, denkt sie, die perfekte Inszenierung zum Angst machen.
Sie sagt kein Wort. Im Raum ist es mucksmäuschenstill, als sie sich wieder setzt. Ihr Gesicht ist ernst, aber nicht fassungslos.
»Bitte weiter!«
Der Krieger in der Frontreihe spricht frei, in tadellosem, fast akzentfreiem Deutsch:
»Wegen der Entscheidung der deutschen Bundesregierung, dem Islamischen Staat zu schaden, werden diese beiden deutschen Geiseln sterben. Wir werden Sie, Henriette Behrens, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, wo immer Sie sind, jagen, finden und schänden. Von nun an sind Sie nicht mehr allein. Noch haben Sie Zeit zum Überlegen. Wenn Deutschland unsere Forderung nicht erfüllt, werden Weier und Fischer an eurem Weihnachtstag, dem 25. Dezember, zwölf Uhr, enthauptet. Ein weiteres Ultimatum wird es nicht geben. Allahu Akbar!«
Im Hintergrund wird geschossen. Die Geiseln sind vor Angst erstarrt.
Dann dreht sich der Sprecher herum. Offensichtlich ist die Vorführung vorbei.
Doch dem ist nicht so.
Auf seinem Rücken sehen die Menschen im Krisenkeller ein großflächiges Foto von der Bundeskanzlerin. Henriette Behrens – verzerrt zu einer hämischen Fratze.
Um Gottes Willen, denkt sie, auch das noch …
Das Bild ist unerträglich, und doch kann sie den Blick nicht abwenden. Was sind das plötzlich für dunkle Flecken, die jetzt auf dem Orange der Gefangenenhemden zu erkennen sind? Wasser …?
Dann sieht sie einen Strahl.
Mein Gott … nein … er uriniert sie an … er uriniert Weier und Fischer an … ins Gesicht … mit meinem Bild auf dem Rücken …
Auf dem Bildschirm flimmert es. Der Spuk ist vorbei.
Es ist jetzt sehr still im Raum. Nur die Normuhren ticken in der Stille, leise und erbarmungslos, erinnern daran, dass die Zeit drängt.
Henriette trinkt einen Schluck Wasser. Sie wirkt äußerlich wenig beeindruckt. Aber in ihr lodert urplötzlich eine unglaubliche Wut. Es fehlen ihr die Worte.
Ein offensichtlich deutscher Terrorist, der auf zwei dem Tode geweihte deutsche Staatsbürger uriniert, und die Bundeskanzlerin und damit Deutschland in übelster Weise beschmutzt!
Sie weiß, dass sie nur mittelbar gemeint ist. Es ist primär eine Botschaft der IS-Terrormiliz an die Welt. Aber es ist auch eine höchst persönliche Drohung. Sie könnte tatsächlich jetzt hoch gefährdet sein. Die Sicherheitsstufe muss wohl auf 1+ hochgefahren werden, denkt sie als Erstes, nachdem sie sich gefangen hat.
»Wie ist ihre Bewertung, meine Herren?«
»Ministerialdirigent Dr. Kürten wird Ihnen die Lagebeurteilung vortragen«, sagt der Außenminister.
»Zunächst, Frau Bundeskanzlerin, das Video wurde nach fünf Minuten aus dem Netz genommen.«
»Zu lange. Damit ist es im Netz unterwegs«, bemerkt von Rüdesheim.
Rudi wendet sich direkt an die Kanzlerin. Er nimmt in Kauf, dass sein Chef ihn dafür nur von der Seite sieht.
Der oberste Krisenmanager der Nation ist rhetorisch perfekt und heute in Höchstform. Er braucht keinen Beamer. Sein Beamer ist er selbst, seine sichere Gestik und das Spiel mit den Augen. Er schaut nach rechts und links, als lese er von einem Teleprompter. Dabei wirkt er völlig unprätentiös, ohne jede Eitelkeit oder Überheblichkeit. Sobald er Quellen erwähnt, spricht er die betroffenen Experten direkt an.
Rudi entführt die Zuhörer für eine Zeit in den Abgrund des Dschihad. Die Zuhörer merken nicht, dass hinter dieser perfekten Präsentation eine komplexe Strategie steht, durch die alle Leitungsebenen, und die Kanzlerin insbesondere, zu bestimmten Entscheidungsoptionen geführt werden sollen. Der ungewöhnliche Ministerialdirigent mit kleinem Zopf und Kinnbärtchen hätte Turnschuhe anhaben können, an seiner Klasse würde dieses nichts ändern. Und die zählt hier.
Die Kanzlerin hört aufmerksam zu. Zwischendurch macht sie Notizen.
»Wie viel Lösegeld fließt jährlich in die Hände der Terroristen, Herr Kürten?«
Sie hat über die Arbeit dieses Krisenmanagers bisher nur das Beste gehört.
»Allein im letzten Jahr hat al-Qaida fünfzig Millionen Euro Lösegeld einkassiert.«
Rudi lässt die Zahl für einen kurzen Moment im Raum stehen.
Millionen für Geiseln, Millionen für neue Waffen. Neue Entführungen, neue Millionen … neue Waffen. Der Kreislauf des Terrors …, denkt Henriette.
»Wer ist unser Gegner in dieser Lage?«, fragt sie.
»Keiner von uns kennt die Lage so gut wie Direktor Harry Busch, Frau Bundeskanzlerin.«
Harry erfüllt ganz und gar nicht das Klischee eines BKA-Beamten. Gewinnend, groß, schlank, stattlich mit vollem, silberfarbenem Haar. Seit vielen Jahren leitet er die Verhandlungen der Bundesregierung mit kriminellen Gruppen und Einzeltätern im Ausland. Wenn er nicht direkt vor Ort ist, gibt er wenigstens für jede Phase die Verhandlungsstrategie vor. Sobald die Forderung auf dem Tisch liegt und der Fall einigermaßen klar ist, empfiehlt er der Leitung, ob und wie viel geboten werden sollte.
Lösegeldzahlungen sind eine heikle Sache im Amt. Natürlich geschehen sie, aber man spricht nicht darüber. Das Agreement in der Verhandlung macht er erst, nachdem er alles über seine Gegner weiß. Man muss den Gegner kennen, bevor man ihn füttert.
»Schießen Sie los! Herr Busch! Ich bin gespannt auf Ihr Wissen!«
Harry Busch verbeugt sich kurz, ist äußerlich unbeeindruckt.
Was hat der, was ich nicht habe, fragt sich Bloedorn. Dass die Bundeskanzlerin seinen Ohrring-Chef offensichtlich kennt und mag, gefällt ihm gar nicht. Nun auch noch dieser Harry! Er überlegt, wie er die Aufmerksamkeit der Kanzlerin auf sich ziehen kann.
Doch Harry startet.
»Die Geiseln befinden sich im Nordirak in Kalak Chyah, wie Sie hier sehen, nordöstlich von Mossul, etwa achtzig Kilometer Luftlinie hinter der türkischen Grenze. Die Gegend wird überwiegend von Sunniten bewohnt und wurde von den Dschihadisten eingenommen. Für die entflohenen Bewohner sind nicht die ebenfalls sunnitischen IS-Kämpfer die Schuldigen, sondern der schiitische Ministerpräsident in Bagdad. Beide Geiseln wurden vor vier Tagen durch amerikanische Drohnen identifiziert. Danach haben wir gebeten, die Drohnenflüge einzustellen.«
Es folgen sechs Luftaufnahmen von einem einsam gelegenen Haus. Flachbau, zwei sitzende Männer an einem Tisch davor. Ein Bild zeigt in einiger Unschärfe, wie zwei Menschen gefesselt vor das Haus geführt werden.
»Sind wir denn sicher, dass das unsere Geiseln sind? Ich erkenne das nicht«, fragt Henriette.
»Die beiden Figuren auf dem Hof wurden mit den besten Methoden der Bildauswertung als unsere beiden gekidnappten Deutschen identifiziert, Frau Bundeskanzlerin. Der linke ist Helmut Weier, der rechte Josef Fischer. Wir sind da sehr sicher, denn einer unserer eigenen Leute«, er schaut zu Brigadegeneral Wolf hinüber, »operiert seit Einstellung der Drohnenflüge in dem Gebiet. Er ist zurück und meldete, dass die Geiseln leben, und vermutlich nur von zwei bis vier Kämpfern bewacht werden. Vorher waren mehr da, aber die sind in die umliegenden Kämpfe am Staudamm verwickelt. Das Gebiet ist komplett in der Hand des IS. Man fühlt sich augenscheinlich sicher.«
»Haben wir weitere Erkenntnisse über die Gruppe und deren wahre Motive?«
»Der Bundesnachrichtendienst hat zweifelsfrei den Deutsch sprechenden Terroristen auf dem Video identifiziert. Es ist ein Wilfried Peschtl aus Hannover, seit elf Monaten verschwunden. Er hat derzeit die Rolle eines Vorzeigeterroristen.«
»Was wissen wir über die Vita dieses Mannes?«
»Peschtl ist ein Deutsch-Ägypter. Er steht bei uns auf der Liste radikaler Islamisten, weil er in Indonesien Kontakt mit al-Qaida hatte, und das auch nicht verheimlichte. Er hat lange Jahre in Köln gelebt und ist mit seiner Familie in Richtung Türkei verschwunden. Peschtl heißt beim IS Djehad Ardeshir. Er hält es für seine Pflicht, Ungläubige umzubringen.“






