- -
- 100%
- +
»Du weißt schon, Joe, dass es Gegenstimmen zu dieser neuen Möglichkeit gibt. Man fürchtet, dass durch die Nutzung von computergeneriertem Missbrauchsmaterial die Eintrittsschwelle in illegale Foren erhöht wird, mit der Folge, dass für die sogenannten Keuschheitsproben immer drastischere Darstellungen gefordert werden. Ich fürchte, es wird für die Keuschheitsprobe dann härteste Kinderpornografie gefordert, auch mit Säuglingen.«
»Noch schlimmer, Hanna, wir sehen ein neues Genre, die Hurt-Core-Filme, in denen Kindern absichtlich Schmerzen zugeführt und wenige Wochen alte Babys vor der Kamera gefesselt, missbraucht, geschlagen, gequält und gefoltert werden. Du willst das hier nicht sehen, denke ich.«
»Keinesfalls, Joe, erspare mir das! Über die Hurt-Core-Szene kann ich auch ohne Bilderkenntnis schreiben. Unseren Lesern wäre das auch nicht zuzumuten. Wir wollen informieren und Bewusstsein schaffen, aber im Rahmen des Zumutbaren, sonst geht der Schuss nach hinten los.«
Joe nickte. Das gleiche Problem hatte die Staatsanwaltschaft bei jeder öffentlichen Bekanntgabe eines Missbrauchsfalles. »Weil wir all das hier niemals akzeptieren werden, Hanna, kämpfen wir um jede einzelne IP. Allein darum geht es, um die begehrte Kinokarte.«
»Meinst du, dass die digitale Herausforderung überhaupt zu schaffen ist?«
»Welche Wahl haben wir?«
Er führte sie von einer Arbeitsstation zu anderen. Hanna sah flüchtig über die Bildschirme und war froh, dass der Ton nicht hörbar war, sondern nur die Ohren der Auswerter traf. Die Teams wechselten und wiesen sich kurz ein. Hanna blickte Joe fragend an.
»Wir tauschen nach zwei Stunden aus, dann reicht es.«
»Ich glaube, mir reicht es auch, Joe. Welche anderen Möglichkeiten hat das BKA, um einen Kinderporno-Ring auffliegen zu lassen?«
Er nickte und sah auf die Uhr. »Wenn du keine Fragen mehr zu dem Geschehen hier hast, dann lass’ uns in die Cafeteria gehen. Dort berichte ich dir gern, was unser drängendstes Problem ist.«
Während er in der Cafeteria zwei Cappuccinos organisierte, versuchte sie Abstand von dem Erlebten zu gewinnen. Die Erkenntnisse waren immens wichtig für die Story. Jedoch waren es nicht so sehr die gewonnenen Informationen, sondern, die Menschen dort oben, die versuchten mit künstlicher Intelligenz und unglaublicher Motivation die Bösen im Darknet zu fassen. Nicht für alles Geld der Welt hätte sie mit den Kommissaren im Cybergrooming-Raum tauschen mögen. So etwas konnte man wohl nur leisten, wenn man zutiefst von der Sinnhaftigkeit dieser Art der digitalen Strafverfolgung überzeugt war.
In der Cafeteria saßen die meisten Menschen allein und kommunizierten mit ihrem Handy. Wären nicht einige Bilder mit Polizeirelevanz an der Wand gewesen, hätte man glauben können, man sei in der Cafeteria eines Unternehmens. Hanna fühlte, dass sie nicht besonders wahrgenommen wurde. Vielleicht glaubte man, sie sei eine von ihnen.
Joe stellte die dampfenden Getränke auf den Tisch.
»Zu deiner Frage, Hanna. Wir haben glücklicherweise Vereinbarungen mit anderen Staaten zum Datenaustausch. Der wichtigste Partner sind die USA. Da liegen die größten Server dieser Welt, und von dort blickt die NSA in die Welt. Die US-amerikanischen Internet-Anbieter und auch große Netzwerke wie Facebook haben sich verpflichtet, kinderpornografisches Material an das National Center for Missing and Exploited Children (NCEMC) zu liefern. Stellt diese Behörde nun fest, dass ein Täter aus dem deutschen Internetraum kommt, meldet sie es an uns in Wiesbaden. Im letzten Jahr erreichten uns 62.000 Meldungen, das ist immerhin eine Verdreifachung innerhalb von drei Jahren …«
»Wobei man allerdings konzedieren muss«, warf Hanna ein, »dass inzwischen mehr Fälle digital erfasst werden, die absolute Zahl also nicht zwingend höher sein muss.«
»Vollkommen richtig, aber wie auch immer die wahren Fallzahlen sind, bis die Informationen hier verarbeitet werden können, sind die IP-Daten in der Regel gelöscht, und die Ermittlungen verlaufen im Sand. Warum? Weil wir sie nicht speichern können!«
»Womit wir bei der Vorratsdatenspeicherung wären.«
»Ja, Hanna, du kennst natürlich die aktuelle juristische Auseinandersetzung in der EU darüber. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten mit EU-Recht nicht vereinbar ist. Nach nationalem Recht könnten wir zehn Wochen speichern, aber wegen des juristischen Durcheinanders sind wir blockiert. Jeden Tag verlieren wir greifbare Chancen.«
»Wie viele, Joe?«
»Auf das Jahr gerechnet um die zehntausend. Das klingt nach banaler Statistik, aber hinter jedem Bild oder Video steht ein realer Missbrauch. Uns wird die IP aus den USA sozusagen auf dem Silbertablett präsentiert, und bevor wir dran sind, ist sie vom Netzanbieter gelöscht.«
»Das wäre nach welcher Zeit?«
»Geh‘ mal von drei Tagen aus – wenn wir Glück haben. Eine juristische Entscheidung zu diesem Thema sehen wir angesichts der vielen Klagen auf absehbare Zeit nicht mehr. In diesem Europa geht Datenschutz vor Kinderschutz. Also werden wir weiter in mühseliger Kleinarbeit selber versuchen, an eine IP heranzukommen.«
»Unglaublich, Joe, was für ein Aufwand.«
»Was Kleinarbeit heißt, das hast du heute bei uns als erste und einzige Journalistin gesehen.«
»Danke, Joe, das weiß ich zu schätzen.«
»Gern geschehen, Hanna. Die Welt dreht sich durch das unkontrollierte Internet in eine schlimme Richtung, wir kommen nicht nach. Die Provider müssen uns nicht einmal kinderpornografische Inhalte melden, es ist hoffnungslos!«
Dabei blickte er sich in der Cafeteria um. BKA-Chef Mönch war eingetreten und saß etwas weiter im Gespräch. Er zeigte Hunter diskret an, dass er keinen persönlichen Kontakt mit der Besucherin haben wolle.
»Vielleicht gelingt es dir in deiner Recherche, Hanna, die Leidensfrage der Deutschen zwischen dem Verhältnis von Grundrechten und der Sicherheit von Menschen mit einem neuen Blick zu betrachten, insbesondere, wenn es um die Schwächsten geht, um unsere Kinder.«
Hanna schwieg. Dann fragte sie unvermittelt. »Wie viel Zeit in der Vorratsdatenspeicherung braucht ihr?«
»Andere europäische Staaten speichern sechs bis zwölf Monate. Sechs Monate, Hanna, wenigstens einhundertachtzig anlassbezogene Speichertage, und wir hätten viele an der Angel.«
Als er sie zum Ausgang des Amtes führte, zog er verlegen einen Reiseführer über den Camino Francés aus der Jackentasche.
»Du willst den nicht wirklich ganz lesen«, meinte er. »Aber denk’ wenigstens an die Wandersocken. Achte auf einen Strumpf mit Fersenlasche, sie verhindert, dass die Socke im Schuh rutscht.«
Sie gab ihm die Hand.
»Natürlich werde ich ihn durcharbeiten. Du bist lieb, Joe, danke für diesen Tag.«
»Wir sehen uns in Saint-Jean-Pied-de-Port, Frau Feldmann.«
4.
SÜDLICHES SAUERLAND
– Dornenkrone –
Das Video war zu Ende. Der Internatsleiter Dr. Johannes Hartmann saß wie erstarrt vor seinem Notebook. Sein Gesicht war fahl, weniger wegen der anonymen Post, sondern wegen der tödlichen Krankheit. Der Darmkrebs schwächte seinen Körper zunehmend von Monat zu Monat. Die Ärzte hatte ihm prognostiziert, dass er sein Rentenalter in zwei Jahren kaum erreichen dürfte und ihm empfohlen, den Körper in der letzten Phase seines Lebens zu schonen. Der Amtsnachfolger, ein ehrgeiziger Pater aus dem Haus, stand bereits fest, doch Johannes wollte den Platz nicht räumen. Er hatte schon vor Jahren auf eine große Karriere in Rom verzichtet. Das Vorzeigeinternat war sein Lebenswerk. Er war vielfach ausgezeichnet worden, regelmäßig kamen Schüler zum Jahrestreffen und identifizierten sich mit dem Collegium Maria Hilf, das inzwischen sogar Salem den Rang abgelaufen hatte. Sein Haus hatte den Skandal vor zwanzig Jahren erfolgreich durchgestanden. Gott sei Dank hatte er das Projekt ROSE gerade noch rechtzeitig beenden können. Dass es offensichtlich irgendwo im Netz ohne sein Zutun weiterlief, interessierte ihn nicht mehr. Er war nach dem Skandal auf der Hut und hatte seinen pädophilen Neigungen im Internat bei sorgfältig ausgesuchten Schülern individuell und stets im gegenseitigen Einverständnis nachkommen können. Hartmann wusste, dass der einvernehmliche Sex trotzdem als sexueller Kindesmissbrauch galt oder wie es inzwischen hieß sexuelle Gewalt gegen Kinder.
»Blanker Unsinn«, dachte er. Er unterhielt sogar mit einigen betroffenen Schülern noch eine tiefe Brieffreundschaft, die ihm viel bedeutete, denn sein sexuelles Verlangen fand inzwischen nur noch im Kopf statt.
Wenn es ein Problem gegeben hatte, dann durch den schmerzlichen Verlust seines herzkranken Hausmeisters Sergey Michailow, der ein Vierteljahr zuvor nach kurzer, schwerer Krankheit in seiner Datscha einem Herztod erlegen war. Sergey war der perfekte Hausmeister und für alle Schüler ein Fels in der Schulbrandung gewesen. Seine russische Seele legte sich wie Balsam über alle Streitigkeiten, wenngleich es schien, dass er in den letzten Jahren zunehmend depressiv geworden war. Das Internat hatte ihn geliebt und entsprechend war auch die Trauerfeier in der Kapelle besucht, die Hartmann seit jenen dunklen Ereignissen nie wieder Raum der Ergebenheit genannt hatte.
Hartmann löste sich aus seinen Gedanken und sah auf die erpresserische Post mit einem Video von damals. Er erhob sich langsam und spürte zum ersten Mal, dass er wohl nicht mehr die Kraft besaß, eine Wiederauflage der Beschuldigungen durchzustehen. Dabei hätte es ihm gleichgültig sein können, denn eine juristische Wiederaufnahme war angesichts der eindeutigen Rechtslage nicht mehr zu befürchten. Doch darum ging es ihm nicht – sein Lebenswerk war in Gefahr, wer immer als Bedrohung dahinterstand. Es gab einen unsichtbaren Gegner, der ihn auf den letzten Metern zur Strecke bringen wollte.
Johannes Hartmann verspürte das dringende Bedürfnis, zu seinem Herrn zu sprechen, dem er schon so viel anvertraut hatte, der aber gleichwohl immer seine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Johannes griff seinen Gehstock und eilte zur Kapelle.
Er setzte sich in die erste Reihe, senkte seinen Kopf in beide Hände – und weinte. Dies geschah in den letzten Jahren des Öfteren. Er weinte wie der Apostel Johannes, der das – so die Überlieferung – damit begründete, dass die Brücke zwischen Hölle und Paradies nur mit Tränen überschritten werden könne.
»Warum, Herr, hast du mir erneut diese schwere Prüfung auferlegt. Ich habe doch von dem Treiben in diesem Raum abgelassen.«
Sein Herr schwieg.
»Meine Neigung, mich liebevoll zu Jungen hingezogen zu fühlen, ist ein menschlicher Teil von mir, kein bösartiger, du weißt es. Ist meine Neigung nicht vielmehr Ausdruck meiner Liebe, die mir von dir geschenkt wurde, Herr?«
Er blickte zum Kreuz auf. Aber so sehr er in sich hineinhorchte, er fand keinen Zugang zum Sohn Gottes.
»Gib mir wenigstens ein Zeichen, Herr, dass meine Schuld durch die Organisation ROSE gesühnt ist. Ich bereue zutiefst.« Johannes sah Christus flehentlich an, doch er sah nicht mehr als jene vertraute Dornenkrone über dem leidvollen Gesicht. Der Internatsleiter stutzte, blickte genauer. In der Dornenkrone erfasste er ein kleines, schwarzes Etwas. Er vermutete angehäuften Schmutz, denn dort oben wurde praktisch nie geputzt. Vielleicht ein kleines Nest?
Doch Hartmann war ein Perfektionist und wollte das geklärt wissen. Er ging zum Kreuz und stellte sich auf eine kleine Bank, nun konnte er das Objekt besser einsehen. Er rückte seine Brille zurecht und erkannte eine schwarze Kugel mit einem Loch darin.
Der Schock fuhr ihm durch alle Glieder. Unwillkürlich hielt er sein Gesicht bedeckt, als wollte er sich vor einer Kameraaufnahme verstecken. Er ließ sich entsetzt auf die Bank gleiten und weinte erneut. Johannes hatte das Gefühl, vom Paradies direkt in die Hölle zu fallen.
Die Glocke schlug an. Gleich würde der amtierende Pater die Andacht halten.
Nach wenigen Minuten hatte Hartmann sich wieder gefangen und saß an seinem Schreibtisch. Immer, wenn er ganz tief unten am Boden war, stand er auf und ging in die Offensive. Aber das wurde zunehmend schwerer.
»Christiane, komm bitte zu mir, schlechte Nachrichten, ganz schlechte Nachrichten.«
Sie betrat das Büro, las den Text, sah das Video, beugte sich über ihren Bruder und streichelte ihn.
»Diese Bilder kommen direkt aus der Dornenkrone Christi unten in der Kapelle.«
Christiane stieß entsetzt hervor: »Du hast eine Kamera gesehen?«
»Ja, gerade, per Zufall. Ich bat den Herrn um ein Zeichen, und er gab es mir.«
»Wer will dich hier fertigmachen, Johannes, hast du irgendeine Idee?«
»Ich bin ratlos, Christiane. Vielleicht ein Schüler, ein Lehrer oder mein designierter Nachfolger. Vielleicht will man mich mit Schande aus dem Amt jagen! Das werde ich nicht zulassen! Ich werde dieses Phantom finden!«
»Aber wie, Johannes? Wir haben eine Liste der damaligen Schüler und aller Lehrkräfte. Jene Besucher, die du ins Haus geholt hast, sind namentlich nicht bekannt, und selbst deren Tarnnamen sind mit der Löschung von ROSE längst vergessen, hast du mir damals gesagt.«
»Ja, das stimmt. ROSE starb mit mir als deren damaliger Kopf. Und trotzdem hat jemand Einzelheiten herausgefunden! Wie zum Teufel konnte das geschehen?«
Christiane antwortete nicht. Sie war für die Verwaltung zuständig, nicht für den damaligen Missbrauch. »Ich hole die Schüler- und Lehrerakten der letzten zwanzig Jahre, bin gleich wieder bei dir. Alles wird gut, Bruderherz!«
Hartmann schaute in seinen Park, in dem die Trauerweiden ihr erstes zartes Grün zeigten und die riesigen Rhododendronbüsche in Weiß und in allen Rottönen blühten. Durch die geöffneten Fenster hörte er das Lied der Amseln und den vertrauten Ruf der Tauben.
Der neue Hausmeister hatte gerade seine Arbeit beendet und winkte ihm zu. Hartmann erwiderte den Gruß eher mechanisch. Er konnte das machtvolle Frühjahr dort draußen, das vielleicht sein letztes war, nicht mehr an sich heranlassen. Christiane kam zurück, gemeinsam gingen sie jeden Namen durch, spekulierten, kreisten ein – und gaben schließlich auf.
»Und nun?«, fragte sie.
»Nun, der Herr will, dass ich der Einladung folge und den Jakobsweg gehe. Ich werde hoffentlich den finden, der etwas von mir will.«
»Sag’ das bitte noch mal!«
»Ich werde pilgern, Christiane!«
»Ich fasse es nicht! Hast du deinen Verstand verloren? Du weißt, dass man dich dort in der Gruppe kennt und du selbst als Verdachtsperson gesehen werden könntest?«
»Das wäre doch unlogisch, Schwester, warum sollte ich mir das eigene Grab schaufeln?«
»Vielleicht, weil du Sühne suchst und so durch die Einladung die Täter zusammenbringst, dasselbe zu tun.«
»Du weißt, dass es nicht stimmt. Ich folge allein dem Ruf des Herrn, auch wenn es all‘ meine Kraft erfordert.«
Christiane Hartmann hatte noch nicht aufgegeben, ihn von dieser absolut verrückten Idee abzubringen. Statt sich einen schönen Lebensabend zu gönnen, verspielte ihr Bruder seine vermutlich letzten Tage. Sie googelte schnell den Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Burgos.
»286 Kilometer, bergauf, bergab. Das willst du dir antun in deiner Verfassung? Weißt du, was körperlich auf dich zukommt?«
»Ja, der Herr wird mir den Weg weisen.«
»Johannes Hartmann, du bist ein Sturkopf. Nun gut. Ich lass‘ meinen Bruder nicht allein gehen, ich komme mit!«
Er hatte es gehofft und sah sie dankbar an.
Sie wandte sich zur Tür.
»Doch gemach, Johannes. Ich hole mir erst einmal den Hausmeister. Er soll die Kamera abbauen und mögliche Spuren verfolgen. Wir gehen durch alle Zimmer und in die Außenbereiche. Vielleicht ist unsere Pilgerwanderung gar nicht mehr notwendig.«
Kopfschüttelnd verließ die energische Frau den Raum.
5.
SCHAUMBURGER LAND
– Zeus –
Gottfried Stein empfing in dem Bunker grundsätzlich keine Besucher. Den ehemaligen Warnamtbunker der höchsten Schutzklasse 9, den er für den Schnäppchenpreis von achttausend Euro im Schaumburger Land erworben hatte, schützte er konsequent vor fremden Blicken, insbesondere, nachdem er auf der untersten der vier Ebenen seine Technik installiert hatte. Piotr Ruskow war die einzige Ausnahme.
Er sah ihn im Monitor vor der Tür stehen. Sie kannten sich seit den Besuchen in Maria Hilf und hatten zwei Gemeinsamkeiten: Harter Sex mit Kindern und mit Kinderpornografie Geld zu verdienen. Das Geschäft im Netz lief trotz aller Rückschläge durch die Polizeiarbeit hervorragend. Stein, der sich im Netz als ZEUS tarnte, hatte im dritten Untergeschoss seines Bunkers einen Vertrauensraum eingerichtet. Dort fanden die Kinder Computerspiele und Süßigkeiten, die allerdings Kokain oder Cannabis enthielten und sie enthemmten. Der Ukrainer Piotr Ruskow war als Bus- und Lastwagenfahrer regelmäßig zwischen Osteuropa und Deutschland unterwegs. Er schaffte ihm die „Ware“ in den Bunker und setzte sie, nachdem er sie meistens selbst im Lastwagen vergewaltigt hatte, anschließend wieder in Berlin aus, wo sie der Schleuserbande zurückgegeben wurden. Doch heute sollte Piotr ohne Ware kommen, und zwar sofort, hatte Stein gesagt, als er von ihm erfuhr, dass Piotr eine merkwürdige Einladung zum Pilgern bekommen hatte.
Gottfried Stein vergewisserte sich, dass Piotr Ruskow allein gekommen war. Die Videoüberwachung zeigte außer seinem kleinen, dicken, bärtigen und wie immer schmuddeligen Freund keine Besonderheiten.
»Uviydit’, komm herein«, sagte er und entsperrte die Sicherheitstür, bei der sich ein Einbrecher auch mit Bohrmaschine und Winkelschleifer vergeblich abgemüht hätte. Er lebte quasi in einem Tresor, der 1959 atombombensicher erbaut worden und für die mehrfache Sprengkraft der Hiroshimabombe ausgelegt worden war.
Die Türen öffneten und schlossen sich auf dem Weg in das zweite Untergeschoss automatisch. Piotr kannte den Weg in die Privaträume des Hausherrn.
Gottfried Stein saß kaum erkennbar im Halbdunkel hinter einem Schreibtisch aus Stein. Er liebte Steine und lebte gern in Mauern. Außenlicht benötigte er nicht in seinem schwarz gestrichenen Bunkerraum, der als einzige Dekoration einen riesigen Flachfernseher aufwies, von einer mannshohen, stählernen Actionfigur abgesehen. Steins Hand bewegte sich zur hohen Tischlampe. Der Schein fiel auf sein blondes, gegeltes Haar, das wie immer perfekt mit einem Linksscheitel gekämmt war. Er trug ein schwarzes Jackett über seinem offenen, weißen Hemd. Seine grazilen, ringlosen Finger glitten zum Goldkettchen um seinen Hals und spielten damit. Nichts an ihm war besonders auffallend oder gar überraschend, außer seiner vollkommen unmännlichen Fistelstimme.
Er erhob sich und umarmte seinen Gast.
»Möchtest du etwas trinken, mein lieber Piotr?«
Natürlich wusste er, dass Piotr Ruskow jetzt einen Wodka pur erwartete.
Die Flasche stand auf der hochglänzend polierten Marmorplatte des Steinschreibtisches bereit, dazu zwei Wodkagläser. Stein füllte beide Gläser einen Daumen breit.
Er trank fast nie Alkohol. Wenn er es wie heute mit Piotr tat, war das eine große Ehre.
Das war nicht uneigennützig, denn Gottfried brauchte Piotr für schmutzige Aufträge, die oft nur mit einem Schlagstock oder Schalldämpfer zu erledigen waren.
»Vitaye moho druha, Prost, mein Freund!«
»Vitaye moho druha, Gottfried!«
Sie leerten das Glas in einem Zug und Stein füllte das Glas seines Gastes unaufgefordert auf. Er selbst stieß mit Wasser an.
»Prost, mein Freund.«
Piotr kannte und verachtete diese Unsitte, aber so war der Chef, voller Prinzipien und mit einem perfekten Doppelleben. Tagsüber war er als gefragter IT-Berater unterwegs, und nachts im Darknet als der geheimnisumwitterte Zeus, der seine atombombensichere Festung als Refugium brauchte, wie er seinen Bus.
Piotr schaute fasziniert auf die Actionfigur. »So einer stand doch auch bei dem Typen in Traben-Trarbach, diesem Johann.«
»So ist es.«
»Was war das für ein Typ, Gottfried? Man hört so einiges.«
»Nun, ohne Zweifel ein genialer IT-Spezialist, so wie ich, aber anders als ich, äußerst leichtsinnig. Er verkaufte seinen Kunden ein Bulletproof-Hoster – so eine Art Festung gegen alles. Tatsächlich ist der Bunker an der Mosel das auch, autarke Energieversorgung, physisch definitiv nicht einnehmbar. Nur ein bisschen zu teuer, monatliche Stromkosten zum Betrieb der Computer und der Kühlanlagen über fünfzehntausend Euro.«
»Die muss man erst einmal verdienen«, meinte Piotr.
»Stimmt, ebenso die Entwicklung der Verschlüsselungs-Apps für Dealer im Deep Web.«
»Das konnte der auch?«
»Nicht nur das! Der clevere Johann entwickelte einen Stealth-Service, eine Art Tarnkappe, die Kunden im Netz unsichtbar werden ließ. Tja, die Geschäfte waren riesig, aber die Gewinne leider mager.«
»So etwas hinzubekommen geht ja wohl nur mit hochbegabten Leuten, oder?«
»In der Tat, er hatte junge, sehr begabte Leute, die aber unvorstellbar undiszipliniert agierten. In dem Bunker war außerdem ein Kommen und Gehen mit wechselndem Personal, die alle die Interna kannten …«
»… bis sie aufflogen, richtig?«
»Du wirst es nicht glauben, Piotr, ein Gärtner, in Wirklichkeit ein Maulwurf des LKA, ließ ihn und sein Team bei einem Abendessen in dem Städtchen Traben-Trarbach festnehmen. Die Bunkerbesatzung hatte nur den Schlüssel umgedreht und war gegangen. Der Bunker wurde mit 650 Polizisten inklusive Spezialeinheiten gestürmt. Sie fanden die Server in Betrieb, das restliche Essen noch auf den Tischen. Der Typ war ein genialer IT-Mann aber das Gegenteil von einem umsichtig handelnden Manager.«
»Was haben die Ermittler gefunden?«
»Das wüsste ich auch gern. Zwei Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt, Amtsgerichte, Staatsanwaltschaften, Sonderdezernate, Lauschangreifer, Gutachter, Datenforensiker werten den Bunker immer noch aus, das Schlimmste, was sich ein Host-Betreiber vorstellen kann. Aber der Nachweis, dass er Kenntnis von den Inhalten hatte, die er als Host-Betreiber zur Verfügung stellte, wird verdammt schwer sein. Wenn Johann Glück hat, passiert ihm gar nichts und er startet in Traben-Trarbach neu.«
»Ich würde gern mal wissen, wieso ein Gottfried Stein mit Johanns Bunker so gut vertraut ist.«
»Weil ich Soldat war.«
Piotr lachte lauthals. »Brüderchen, du Soldat? Du bist doch ein Schreibtischtäter. Weißt du überhaupt, was ein Soldat ist?«
Gottfried Stein sah ihn strafend an. »Für dich bin ich nicht Brüderchen, sondern dein Chef. Ist das klar?«
»Entschuldigung, Chef.«
»Also gut, nicht wirklich Soldat, aber ich war Geophysiker. Meine Wehrdienstzeit habe ich beim Amt für Wehrgeophysik der Bundeswehr abgeleistet, und jetzt rate mal wo.«
»… im Bunker Traben-Trarbach«, erwiderte Piotr verblüfft.
»Du weißt doch, Piotr, nachdem die Plattform ELYSIUM aufgeflogen war, brauchte ich etwas Neues, also nahm ich Kontakt zu Johann, dem neuen Hausherrn des Cyberbunkers auf, dort kannte ich jede Etage, jede Leitung.«
»Da hat sich aber der Johann gefreut.«
»Das kann man so sagen. Er bot mir spontan eine Mitarbeit im Cyberbunker und einen exklusiven Deckungsschirm für den kinderpornografischen Handel an.«
»Du hast dich hoffentlich nicht darauf eingelassen, sonst wärest du hier nicht so ruhig – oder?«
»Richtig erkannt, mein lieber Piotr«, fistelte Stein. »Als Johann mir seine geheimen Serverbereiche zeigte, solche mit Aufschriften wie Nucleus, Anubis, Predator, Interceptor oder Dragon und mir dann auch noch das Kundenaufkommen präsentierte, da war ich alarmiert. Ich stieg nach einer kurzen Testphase aus, vier Wochen bevor der Cyberbunker aufflog.«






