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»Ist mir klar, Ganter«, sagte sie leise, immer noch unter dem Eindruck des katastrophalen Ereignisses, »es gibt nur ganz wenige Menschen, die seine Nummer kennen. Seit seinem Coup vor einem Jahr ist er auf Tauchstation.«
»Ich erinnere mich vage«, meinte Holms.
Durch die Tür eilte ein Kollege herein: »Unterlagen zu eurem Fall!«
Holms blätterte kurz durch und strich zufrieden durch seinen Bart.
»Ich denke, Jelke, das ist er … schau’ hier.«
Jelke sah das Foto auf einem Personendatenblatt und nickte. »Ja, das ist Marc. Mein Gott, wir müssen sofort zu ihm!«
»Meinst du wirklich, dass du das schaffst? Notfallseelsorgerin für den Mann deiner ermordeten Freundin?«
Er hoffte insgeheim, dass sie sich das zutraute, zumal es schwierig sein dürfte, auf die Schnelle einen geeigneten Ersatz für sie zu bekommen. Da wäre noch Daniela Becker-Dubois, eine Psychotherapeutin, die eng mit dem Landeskriminalamt zusammenarbeitete. Aber die war für heute abgemeldet.
Jelke schloss einen kurzen Augenblick die Augen. Sie hatte gelernt, sich durch Atmung und Konzentration herunterzubringen. Was für eine Tragödie! Ihre Freundin ermordet, das Kind verschwunden, der Vater vermutlich unvorbereitet. Welche Krisenintervention würde für ihn die beste sein? Eine fremde Person, die ihn bei der Überbringung der Todesnachricht psychologisch auffängt? Oder eine vertraute Person, die die Familie durch und durch kennt?
Wahrscheinlich die letztere Option. Falls er damit einverstanden wäre, müsste sie sich zusammenreißen, um die seelsorgerische Professionalität nicht mit der privaten Beziehung zu vermengen. Sie fragte sich, ob sie das schaffen würde, nicht nur in den ersten Stunden, sondern auch in der Folgezeit.
Sie schaute Holms fest und bestimmt an. »Ich werde Marc Anderson zur Seite stehen, wenn er das möchte. Ich bin bereit!«

Marc war auf dem Weg vom Marinestützpunkt Eckernförde zurück nach Hamburg. Es waren anstrengende zwei Tage bei den Kampfschwimmern der Marine gewesen. Wochenlang war an dem Szenario gefeilt worden, und dann war alles schiefgegangen. Er hatte mit seinem Team, der Maritime Security Services (MSS), seinen Auftrag nicht erfüllt. Allerdings hatten sich die Kampfschwimmer aus Eckernförde etwas einfallen lassen, womit nun wirklich nicht zu rechnen gewesen war.
Marcs Männer waren – so das Übungsszenario – im Rahmen der Feinddarstellung in die Rolle von Piraten geschlüpft. Mit modernster Waffentechnik ausgestattet, hatten sie ein Schiff geentert und dessen Besatzung in ihre Gewalt genommen. Nun liefen die Lösegeldverhandlungen mit der Reederei. Die Aufgabe der Piraten war es, das Schiff gegen Befreier zu verteidigen, wobei nicht klar war, ob die Angreifer wasserseitig oder aus der Luft kommen würden.
Marc hatte mit Tom, Hermy, Ale, Thunder und Mike, alles ehemalige Elitesoldaten, jede denkbare Option durchgespielt. Sie rechneten mit einer Annäherung von Hubschraubern und einem Abseilen aus der Luft, mit einer Annäherung über oder unter Wasser, vielleicht sogar mit einem Unterwasser-Scooter abgesetzt aus einem U-Boot.
Die Marine hatte sich viel vorgenommen, denn der Respekt vor den zivilen Kollegen war enorm. Schließlich hatte Marcs Team in einer waghalsigen Aktion die Passagiere der Luxusyacht SUNDOWNER befreit, auf der seine schwangere Frau, die Hotelmanagerin Karina Marie, und die Familie des US-Präsidenten George F. Summerhill von Terroristen gefangen gehalten wurden. Die Kaperung wurde nicht zuletzt durch das Eingreifen von Navy SEALs ein voller Erfolg. Das deutsche Team wurde vom US-Präsidenten im Weißen Haus ausgezeichnet, und obwohl Marc jeden Pressekontakt ausgeschlagen hatte, konnte nicht verhindert werden, dass über ihn und Karina Marie über Wochen berichtet wurde.
Bei einem großen Streaming-Dienst wurde überlegt, über den inzwischen legendären Marc Anderson eine Serie zu drehen. Zwei Staffeln waren praktisch gewährleistet, denn vor dem spektakulären Entern der SUNDOWNER hatte er Karina Marie, damals Lebensgefährtin eines deutschen Unternehmers, bereits ebenfalls einmal befreit und dabei lieben gelernt. Action, Liebe und Politik könnte man gut vermarkten, einschließlich der Geburt des Babys Pia, so die Einschätzung der Manager. Doch Marc hatte abgelehnt. Sein Erfolg lag auch in der professionellen Diskretion seines Sicherheitsunternehmens begründet.
Der Tag auf dem Übungsschiff in der Rolle der Piraten verging, ohne dass etwas geschah. Offensichtlich spielte die Gegenseite mit der Zeit. Also Sichern nach allen Seiten, Wasseroberfläche prüfen, auf Geräusche achten. Es blieb still.
Eine stockfinstere Nacht bei bewegter See brach ein. Kein Problem mit den Nachtsichtgeräten, nur anstrengender, vor allem nach fünfzehn Stunden Wache ohne Pause. Marc stand auf der Brücke, hinter ihm der Übungsleiter mit dem Clipboard in der Hand, als die Meldung von Tom kam: »Taucher Backboard, Entfernung fünfzig!«
Marc sah die Köpfe unter ihren Tauchermasken in den Wellen hoch- und hinunterschaukeln. Er schaute genauer, es waren mindestens vier.
Wie vorher eingeübt, feuerten Marc, Ale und Thunder, das ALPHA 1-Team, gezielt über das elektronische Erfassungssystem auf die wippenden Köpfe. ALPHA 2 – Mike, Hermy und Tom – teilten sich auf und sicherten die anderen Seiten des Schiffes. Doch merkwürdigerweise zeigte die elektronische Zielerfassung nicht einen einzigen Treffer. Ale setzte das Fadenkreuz noch einmal genau auf einen Kopf in den Wellen. Schuss!
Keine Trefferbestätigung.
Inzwischen waren die Angreifer fast am Schiff.
Plötzlich erkannte Marc, was hier geschah. Unter den Taucher-Köpfen war überhaupt kein Körper. Aber eine Leine, und die wurde von je einem kleinen Scooter zum Schiff dirigiert. Er wollte gerade an sein Team den Befehl zur Neupositionierung durchgeben, als sehr lebendige und martialisch aussehende Kampfschwimmer in die Brücke eindrangen, zusammen mit dem überwältigten ALPHA 2-Team, während unten an Backboard die Dummys dümpelten und an Bord gezogen wurden.
Marc nahm resignierend die Hände hoch.
»Übungsende!«, befahl der Leitungsoffizier und griente Marc an. Marc lachte anerkennend zurück. Die Männer der Maritime Security Services waren mit einem einfachen Trick reingelegt worden.
Er war so alt wie die Militärtaktik schlechthin: Tarnen, Täuschen, überraschender Angriff an unerwarteter Stelle. Die Kampfschwimmer der Marine waren mit zwanzig Mann auf der Steuerbordseite und am Heck aufgeentert. Das Überwältigen der drei verteilten Piraten war geradezu ein Kinderspiel.
Trotzdem war die Übung von großem Wert. MSS hatte wieder viel über die neuesten Waffen und Techniken gelernt, und man musste auch einmal verlieren können.
»Besser im Training als live«, tröstete Ale seinen Berliner Kumpel Thunder.
Am Montag wartete bereits ein neuer Auftrag auf das Team. Das Schiff einer Hamburger Reederei sollte in Indonesien Marcs Security an Bord haben. Bis dahin wollte sich Marc intensiv seiner Familie widmen.
Marc bog in die Elbchaussee ein. Noch zweimal abbiegen, dann würde er bei seinen beiden Mädels sein und das Wochenende einläuten.
Er wunderte sich, dass so viel Polizei unterwegs war. Seine Verwunderung nahm spürbar zu, als er durch das offene Schiebedach über Blankenese einen kreisenden Polizeihubschrauber erblickte. Nach Verkehrsstau sah das nicht aus, eher nach einer großangelegten Polizeiaktion. Zu Hause würde er aus den News erfahren, was hier gerade passierte.
Im NDR lief Take It Easy von den Eagles. Marc liebte diesen Song, durch den er eine unglaublich positive Energie verspürte. Er kannte den Text, sang ihn laut mit und wippte, so gut das beim Fahren möglich war, im Rhythmus des Songs mit den Händen mit.
Klar, die Übung war nicht so gelaufen, wie er es für MSS gehofft hatte, aber … take it easy. Er hatte so viel Glück in seinem Leben am Limit erfahren dürfen, dass einige sehr schmerzhafte Erfahrungen, besonders in den Einsätzen beim Kommando Spezialkräfte, längst in den Hintergrund getreten waren. »Glück«, dachte er, »ist eigentlich etwas Momentanes, bei mir offensichtlich nicht.«
Er war glücklich, seitdem er, Karina Marie und Pia eine Familie waren. Dieses Lebensglück sollte noch größer werden, denn Karina Marie war zum zweiten Mal schwanger. Sie wollten mindestens zwei Kinder haben. Mit Anfang dreißig und finanziell bestens ausgestattet, blickten beide hoffnungsvoll nach vorne in eine Zukunft auf der Sonnenseite des Lebens.
Er stutzte. Auf der Höhe seines Hauses ein einziges Blaulichtgewitter. Streifenwagen, Feuerwehr, Notarzt, Absperrung. Davor ein Medienübertragungswagen. Ein kalter, grässlicher Schauer kroch wie in Zeitlupe von seinem Kopf über den Nacken direkt in sein Herz hinein. Er wollte es nicht wahrhaben. Es ging nicht um irgendein Haus, es ging um sein Haus, das aber dort stand wie immer. Nicht abgebrannt oder in Trümmern, nur von vielen Menschen in Uniformen und Einsatzjacken umgeben.
»Bitte umkehren!«, sagte der Beamte freundlich durch die offene Scheibe. »Die Straße ist gesperrt.«
»Ich wohne in dem Haus! Was ist passiert?«
Der Beamte wollte ihn gerade zurechtweisen, dann schaute er ihn prüfend an.
»Wie ist Ihr Name?«
»Marc Anderson, und dort wohne ich mit meiner Familie!« Der Beamte sprach kurz mit der Einsatzleitung. Er beugte sich mit einem Gesicht, das Schlimmes ahnen ließ, zu Marc. Aber er sagte nichts, und Marc fragte nicht. Solange es nicht ausgesprochen ist, ist es nicht wahr. Eine schlimme Wahrheit muss man nicht suchen. Sie kommt, wann und wie sie will. Kalt, herzlos und mit gnadenloser Brutalität ohne jegliche Rücksicht auf den Betroffenen.
»Sie können durchfahren, Herr Anderson, Sie werden erwartet.« Beinahe hätte er noch ein »mein herzliches Beileid« und »ich wünsche Ihnen viel Kraft« nachgeschoben, aber im selben Augenblick eilten zwei Menschen auf den Wagen zu, ein Reporter mit Kameramann.
»Sie sind doch Marc Anderson! Was sagen Sie zu …«
Der Polizist drängte sie energisch weg und Marc fuhr mit versteinertem Gesicht zu seinem Haus, während die Einsatzkräfte zur Seite wichen, um ihm Platz zu machen.
Am Türeingang erkannte er einen Polizeibeamten und die Freundin der Familie, Jelke Lorberg, in der lilafarbenen Einsatzjacke der Notfallseelsorge.
Die Katastrophe bekam zunehmend ihr grausiges Gesicht.
Bitte lass’ es nicht wahr sein … Bitte nicht meine Familie …
Er öffnete ruckartig die Wagentür und sprang heraus. Jelke und der Polizist standen bereits bei ihm.
»Was ist passiert? Wo ist Marie?«
»Herr Anderson, ich bin Hauptkommissar Holms. Bitte lassen Sie uns ins Haus gehen.«
Marc wollte nicht akzeptieren. Die Wahrheit jetzt! Aber der liebevoll weisende Blick von Jelke, dann die Menschen in der Nähe wie auch seine eigene verinnerlichte Professionalität sagten ihm, dass er jetzt ohne weitere Fragen ins Haus gehen sollte.
Sie standen vor der Eingangstür. Er wollte wie immer klingeln, bis ihm an den Blicken der beiden klar wurde, dass niemand im Haus war. Einen kurzen Augenblick war er erleichtert. Wenigstens kein Überfall im Haus …
Er öffnete mit dem Code die Tür, deaktivierte dadurch das Einbruchmeldesystem, das, in Verbindung mit Videokameras und Strahlern, das Haus wie einen Hochsicherheitstrakt schützte. Dieser Rundumschutz war ihm nach all den Erfahrungen immer wichtig gewesen.
»Bitte kommen Sie herein.«
Er schloss die Tür hinter den beiden.
Im Haus war es still.
Totenstill.
Er führte sie zur Sitzgarnitur. Doch er setzte sich an Maries kleinen Schreibtisch so, als solle die entsetzliche Realität nicht zu ihm kommen.
»Jelke, was ist passiert? Sag’ es mir ohne Umschweife. Ist etwas mit Marie?«
Holms überlegte kurz, ob er, wie in der Dienstvorschrift klar geregelt, die schreckliche Nachricht amtlich überbringen sollte oder sie ausnahmsweise durch Jelke auszuführen sei. Er entschied sich für die Beibehaltung der Rollen und damit für den formalen, offiziellen Weg.
»Herr Anderson, wir haben eine sehr schlimme Nachricht für Sie. Ihre Frau ist tot.«
Er saß an ihrem Lieblingsplatz, Augen geschlossen, Arme auf der Lehne, fahles Gesicht. Um ihn herum drehte sich alles. Kurze, heftige Atemstöße, viel zu viele mit der Gefahr der akuten Hyperventilation.
Jelke erkannte das, aber wartete ab. Holms wollte fortfahren, doch Jelke schüttelte fast unbemerkt mit dem Kopf. »Noch nicht«, signalisierte sie.
Von der Elbe drang ein Sirenenton herauf. Die Abendsonne warf ein warmes Licht durch die Sprossenfenster auf den gedeckten Esstisch. Nebenan schlug eine Glasenuhr viermal an.
Marc presste die Lippen und seine Hände zusammen, er stoppte die Atmung für lange zehn Sekunden und atmete dann tief langsam ein und aus. Sein Blick streifte den Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch und erfasste unter seinem Foto einen Zettel:
Falls du schon da bist, bin mit Pia noch schnell zum Einkaufen und zur Bank. Ich liebe dich von hier bis ins Universum. Marie

Der Raum begann sich wieder zu drehen. Er ließ es nicht zu. Handeln!
»Jetzt bitte die ganze Wahrheit …«
»Ihre Frau wurde vor etwa zwei Stunden unten im Park mit einem Schnitt durch den Hals tödlich verletzt. Passanten haben sie aufgefunden. Der Kinderwagen war leer.«
Marc blickte den Beamten mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen an.
»Marie … mit einem Schnitt durch den Hals …«
»Es tut mir so leid«, sagte Holms.
»Wo ist mein Kind?«
»Wir wissen es nicht, Herr Anderson, die Großfahndung läuft. Wir haben von der Bank eine sehr kurze Videosequenz, die den mutmaßlichen Täter zeigt, wie er in den Park geht. Von dem Attentat selbst gibt es kein Bildmaterial. Im Kinderwagen lag dann noch ein Zettel.«
»Was steht da drauf?«
Holms versuchte, es schonend zu sagen:
»Allahu Akbar! Ali Naz!«
Der Name war kaum gefallen, da sprang Marc auf. Ein einziger markerschütternder Schrei erscholl durch das Haus:
N E I N … !!!
All die im Auto aufgestaute Angst, die Angst vor dem Undenkbaren, brach heraus.
Er weinte hemmungslos. Sein Herz raste, sein Körper zitterte. Kalter Schweiß.
Anzeichen einer schweren Kreislaufstörung mit Schock.
Jelke hoffte, dass es nur eine vagotone Schockphase war, aus der er wieder herauskommen würde. Ganter sah sie besorgt an. Sie dachten beide kurz daran, den Rettungswagen anzufordern. Doch Jelke wollte noch abwarten. Vor ihr stand ein Elitesoldat, der seinen besten Freund im Kampf verloren hatte und damals handeln musste, um nicht selbst getötet zu werden. Sie hoffte auf seine bewährte Stressbewältigungstechnik. Immer war er für alle ein Fels in der Brandung. Aber jetzt war er so stark am Boden zerstört, dass seine Erschütterung auch sie erfasste, so sehr, dass sie für einen kurzen Augenblick Gefahr lief, ihre Beherrschung zu verlieren. Sie hätte so gern mit ihm geweint, aber es war genau der falsche Moment, Entsetzen und Trauer zu teilen. Denn hier bei diesem Einsatz ging es allein um sein Entsetzen. Trotzdem war sie jetzt gerade alles andere als eine stabile Notfallseelsorgerin.
Holms erkannte Jelkes Wanken und sagte:
»Herr Anderson, es tut mir unendlich leid. Ich fühle von Herzen mit Ihnen. Sagt Ihnen der Name Ali Naz etwas?«
Marc blickte Holms fassungslos an und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Worte kamen leise und stockend:
»Ali Naz? Sie kennen den nicht? Das ist der iranische Terrorist, der die SUNDOWNER gekapert hatte … Ich verstehe das nicht … Den gibt es doch nicht mehr … Er wurde doch bei einem Vergeltungsschlag der Amerikaner im Iran getötet …«
Und dann brach es weinend aus ihm heraus:
»Aber er ist nicht tot! Er ist überhaupt nicht tot! Er hat Rache an mir genommen. Es ist meine Schuld!«
Jelke hockte sich vor ihn.
»Warum ist es deine Schuld, Marc?«
»Ein paar Minuten früher, und ich hätte ihren Tod verhindert! Nur ein paar verdammte Minuten früher!«
Holms wollte das entkräften, aber Jelke winkte ab.
Marc starrte sie an: »Jelke, sag’ mir, dass es nicht stimmt. Karina Marie darf nicht tot sein …«

Polizeipräsident Hendrik Mann hatte nach Kenntnis des Bekennerschreibens von Ali Naz sofort die Brisanz des Falles für seine Behörde erkannt. Die Befreiungsaktion der Geiseln durch Marc Anderson aus den Händen der von Ali Naz gekauften Terrorgruppe berührte auch Hamburg, spätestens als der Bürgermeister der Hansestadt das gesamte Befreiungsteam ins Rathaus gebeten hatte. Hendrik Mann bewunderte insgeheim Anderson, obwohl der, wie er dem Bürgermeister zugesteckt hatte, »mehr Glück als Verstand bei seiner Befreiungsaktion hatte.«
»Helden ohne Glück gibt es nur selten,« hatte der Bürgermeister wiederum kommentiert und »diese Stadt liebt ihre Helden, vor allem, wenn sie nach hanseatischer Manier so unprätentiös auftreten wie dieser junge Mann.«
Der Polizeipräsident sah durch die Runde der fünfzehn schnell aber sorgfältig ausgesuchten Beamtinnen und Beamten aus den Abteilungen LKA 1 bis 7. Die Stelle des Leiters des Landeskriminalamtes war vakant, so übernahm der Polizeipräsident die Einführung selbst.
»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie in der SoKo KILO MIKE. Warum gerade KILO MIKE? Die Bezeichnung steht nach dem internationalen Buchstabieralphabet für Karina Marie, den Vornamen der getöteten Frau Anderson.
Dieses Tötungsdelikt zeichnet sich durch zweierlei aus. Erstens durch einen möglicherweise internationalen Hintergrund und zweitens durch ein enormes Medieninteresse. Joe Weber, Leiter des LKA 4 aus der Abteilung Kapitaldelikte, wird Sie jetzt über den Stand der Erkenntnisse informieren.«
Kriminaloberrat Weber, ein äußerst erfahrener, aber in den eigenen Reihen wegen seiner knallharten Art nicht immer geschätzter Kriminalbeamter, trat nach vorne. Er hatte nur sechzig Minuten Zeit gehabt, sich einzuarbeiten und die SoKo zusammenzustellen. Und ständig trafen neue Meldungen ein.
Auf dem Bildschirm erschienen eine Karte von Blankenese und diverse Fotos.
»Karina Marie Anderson wurde gegen 16.00 Uhr an dieser Stelle umgebracht. Wir können davon ausgehen, dass sich in dem Kinderwagen zuvor ein kleines Kind, Name Pia Anderson, Tochter von Karina Marie und Marc Anderson, befunden hat. Das Opfer wurde mit einem Schnitt durch den Hals getötet. Der Hals wurde vorderseitig durchtrennt und der Kopf im Wesentlichen nur noch durch die Wirbelsäule und die umliegenden Muskeln gehalten. Das erinnert stark an Tötungsrituale islamistischer Terroristen. Im Kinderwagen das Bekennerschreiben mit dem Text, den Sie hier sehen. Glücklicherweise liegt uns das Video der Bank am Rande des Parks vor, die die mutmaßliche Täterperson aufgezeichnet hat.«
Das Video zeigte, wie Karina Marie mit dem Kinderwagen den Vorraum der Bank betrat, Geld abhob und die Bank über den kleinen angrenzenden Park in Richtung Wohnhaus verließ.
»Wie Sie sehen, ist die verdächtige, vermummte Person nur ganz kurz und so ungünstig aufgezeichnet worden, dass wir kaum Anhaltspunkte haben. Wir nehmen an, dass diese Person das Opfer durch den Park verfolgt und die Tat am Ende des Parks begangen hat. Wir wissen nicht, wie die Person den Tatort verlassen hat. Es gibt derzeit keine Zeugen.«
»Gehen wir denn davon aus, dass dieser Ali Naz der Täter sein könnte? Und überhaupt, der soll doch tot sein«, wollte jemand wissen.
»Das Erstere wissen wir nicht«, sagte Weber, »die Fahndung hat bisher keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Doch zunächst zu Ali Naz. Wer es noch nicht weiß, er stand als Kommandeur den iranischen Revolutionsgarden vor und – soweit uns bekannt ist – hat er in einem Terrorakt zusammen mit seinen Kommandeuren seinen obersten Religionsführer Mohammed Husseini ermordet. Er hat Terroranschläge gegen die USA mit Mittelsmännern der Hisbollah aus dem Libanon geführt und versucht, den US-Präsidenten politisch zu erpressen. Als Faustpfand nahm er sich bekanntlich die Hamburger Luxusyacht SUNDOWNER, auf der sich Sohn und Tochter des Präsidenten, die Enkelkinder und ein Gästeehepaar befanden sowie Karina Marie Anderson als Hotelmanagerin. Den Rest darf ich als hinlänglich bekannt voraussetzen. Sehen Sie hier.« Er zeigte Bilder von etlichen Pressemeldungen und einen TV-Ausschnitt aus einem Bericht des Norddeutschen Rundfunks.
»Nun zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Die Amerikaner flogen einen Vergeltungsangriff auf Ali Naz und seine versammelten Kommandeure bei der jährlichen großen Militärparade im iranischen Ahvaz. Angeblich wurden alle getötet, auch Ali Naz. Zumindest lassen das zuverlässige US-Quellen verlauten.«
»Dann gibt es doch nur diese Möglichkeiten«, antwortete ein Mann aus Webers LKA 4, »entweder der Mann ist tot, dann agiert hier einer seiner Getreuen in seinem Namen, oder der General hat tatsächlich überlebt und nimmt jetzt Rache.«
»Oder …«, ergänzte jemand aus der Runde, »er musste gar nicht überleben, weil er von dem Angriff wusste, und auf der Tribüne saß ein Doppelgänger. Jetzt taucht das Original auf, und Ali Naz macht öffentlich, dass er wieder im Spiel ist.«
Der Leiter LKA nickte bestätigend.
»Interessanter Aspekt. Danke, weitere erste Einschätzungen?«
»Vielleicht setzen wir zu hoch an«, meinte jemand, »und es handelt sich um einen, der mit dem Geschehen überhaupt nichts zu tun hat und hier einfach aufspringt.«
»Auch möglich« meinte Weber, »aber eher unwahrscheinlich. Dagegen spricht die Entführung des Kindes. Natürlich wollen wir brennend gern wissen, ob Ali Naz lebt. Eine Anfrage zur Klärung geht in diesem Augenblick über den Staatsschutz an unsere amerikanischen Freunde, die über das Attentat bereits informiert sind. Aber wir hier in Hamburg haben einen anderen Job. Wir müssen unbedingt den Zusammenhang zum Täterbekenntnis Ali Naz aufklären. Noch suchen wir ein Phantom.«
Allgemeines Nicken in der Runde.
»Unabhängig von der Beantwortung dieser wichtigen Frage deuten die bisherigen Erkenntnisse klar darauf hin, dass es sich um ein Tötungsdelikt mit terroristischem Hintergrund handelt, egal durch wen ausgeführt. Sei es durch Ali Naz, einer Auftragsperson oder einen sogenannten Einsamen Wolf. In allen Optionen scheint es eine Beziehungstat mit Zielrichtung Marc Anderson zu sein.«
»Oder«, sagte der junge Beamte mit Schulterholster und der Sonnenbrille im Haar aus dem Bereich LKA 2-Einsatz, »das ist erst der Anfang einer Attentat-Serie.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Weber nachdenklich, »sehr gut erkannt. Auf dem Radar des oder der Täter könnten in der Tat theoretisch alle Beteiligten stehen, die etwas mit dem Scheitern der terroristischen Aktion gegen das Schiff zu tun haben.«
»Richtig, und zwar alle Deutschen, zum Beispiel die Leute von der Maritime Security Services, das Personal der Reederei und auch US-Amerikaner«, sagte der junge Mann.
»Die Frage ist«, meinte jemand aus Webers Abteilung, »warum nimmt sich der Täter nicht gleich Marc Anderson vor, sondern seine Frau?«
»Ist doch klar, Kollege« erwiderte eine Kommissarin, ebenfalls aus der Abteilung Einsatz, »er trifft Anderson dort, wo er am verletzbarsten ist. Die Täterseite weiß natürlich aus den Medien, dass Anderson diese Frau zweimal gerettet hat und macht sich jetzt zum Zerstörer seines Lebens. Aber sie lässt ihn leben, noch. Hier kommt das acht Monate alte Kind ins Spiel. Der oder die Täter haben noch etwas vor. Keine Entführung ohne Forderung.«
»Vielleicht wird es nie eine Forderung geben«, sagte jemand von ganz hinten, »vielleicht wurde das Kind verschleppt, oder es ist bereits tot.«
»Das glaube ich nicht«, meinte die Kommissarin, »das Baby musste überleben. Der oder die Täter haben einen Plan.«
»Okay«, sagte Weber, »Sie sehen, das wird hier ganz großes Kino. Mord, Kindesentführung, islamistischer Hintergrund, internationale Verflechtungen. Es gibt also viel zu tun. Aber fangen wir ganz unten an, so wie wir es gelernt haben. Ein Kleinkind unbemerkt zu versorgen, das geschieht nicht einfach mal so. Also Spurenauswertung, ermitteln in alle Richtungen, auf Täterkontakt bei Anderson einstellen, präventive Gespräche mit allen Betroffenen und bitte alles, was wir über Ali Naz und seine Komplizen in unserer Stadt herausfinden können. Hat noch jemand eine Frage?«






