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Ausländische Ehepartner und Familienangehörige
Außerhalb der bisher erörterten verfassungsrechtlichen Problematiken ist der verfassungsmäßige Schutz von Ehe und Familie vor allem noch im Aufenthaltsrecht für Zuwanderer nicht deutscher Staatsangehörigkeit von Bedeutung. Dort nämlich ist die Frage zu beantworten, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Familiennachzug verweigert werden darf oder durch die Abschiebung eines Ehepartners oder eines Mitgliedes des Familienverbandes das Zerreißen einer Ehe oder Familie mit dem Schutzgebot von Art 6 Abs. 1 GG vereinbar sein soll. Praktisch bedeutsam wird diese Frage allerdings wegen der bestehenden Sonderregelungen nicht für EU- und entsprechend gleichgestellte Bürger, sondern nur für sog. Drittstaatsangehörige. Zwar betonen BVerfG und BVerwG in ihrer Rechtsprechung hierzu, dass Art. 6 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Aufenthalt oder Nachzug begründet (BVerfGE 76, 47 f.; 80, 93; BVerwGE 102, 19; 106, 17). Dennoch ist jede Ausweisung ausländischer Ehepartner bzw. Familienangehöriger, jede Nichterteilung und jede Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung für alle betroffenen Familienangehörigen zunächst ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 6 GG. An die Rechtfertigung derartiger Maßnahmen sind dementsprechende Anforderungen zu stellen. Deshalb soll es bei der Beurteilung, ob es sich bei verweigertem Familiennachzug, der Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis oder der Ausweisung eines Ehepartners bzw. Familienangehörigen im Konkreten um einen unzulässigen Grundrechtseingriff handelt, darauf ankommen, ob es dem Ehepartner oder Familienangehörigen zumutbar oder möglich ist, dem Ausländer ins Ausland zu folgen (BVerfG 2 BvR 1542 / 94 – 10.08.1994). Allerdings wird es wohl grds. für nicht zumutbar gehalten werden, dass ein Deutscher dem ausgewiesenen Ehepartner ins Ausland folgt (Jarass / Pieroth 2016, Art. 6 GG, Rz. 35 ff.). In jedem Fall kommt es aber gerade hier darauf an, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (s. 2.1.2.2) gewahrt und zwischen den Rechtsgütern der Ehe und der Familie sowie den durch das Zuwanderungsrecht zu schützenden Rechtsgütern sorgfältig abgewogen wird (BVerwGE 56, 249 f.; 75, 179 f.). Einfachgesetzlich findet sich in § 55 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3 und 4 AufenthG ein besonderer Ausweisungsschutz für Familienangehörige, Ehepartner und auch für Partner, die in lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft leben.

BPB 2013a und 2013b; Epping 2017; Pieroth et al. 2015

1. Was versteht man unter einem doppelten Mandat der Sozialarbeit? (2.1.1)
2. Warum hat der Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes gerade im Sozialrecht eine besondere Bedeutung, und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Soziale Arbeit? (2.1.2.1)
3. Woran sind die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer staatlichen Intervention zu messen? (2.1.2.2)
4. Wann ist das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG verletzt? (2.1.2.4)
5. Was für eine Bedeutung hat das Subsidiaritätsprinzip für das Verhältnis öffentlicher und freier Sozialleistungsträger? (2.1.3)
6. Worin besteht die Funktion von Grundrechten und inwieweit sind diese für die Soziale Arbeit von Bedeutung? (2.2.3, 2.2.6)
7. Woraus folgt die Geltung von Grundrechten, die das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern betreffen, in der Sozialen Arbeit? (2.2.4)
8. Worin besteht der Wesensgehalt des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG, und wo verlaufen seine Schranken? Worin bestehen seine Besonderheiten im Vergleich zu anderen Grundrechten? (2.2.6)
9. Gibt es ein Recht des Staates auf Erziehung bzw. ein Recht, in die Erziehung der Eltern einzugreifen? (2.2.6)
10. In welchem Verhältnis stehen die Grundrechte der Eltern und ihrer Kinder zueinander? (2.2.6)
3 Grundlagen der Rechtsanwendung (Trenczek)
3.1 Rechtsanwendung als mehrstufiger normenbezogener Entscheidungsprozess
3.2 Struktur der Rechtsnormen
3.2.1 Tatbestands- und Rechtsfolgenseite
3.2.2 Rechtsfolge und Charakter der Rechtsnorm
3.3 Bestimmte und unbestimmte Rechtsbegriffe
3.3.1 Begriff, Arten und Funktionen
3.3.2 Auslegung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen
3.3.3 Beurteilungsspielraum
3.4 Rechtsfolgenentscheidung
3.4.1 Gebundene Verwaltung und Ermessensspielräume
3.4.2 Die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung
3.5 Rechtsanwendung zwischen Logik und Interessenabwägung
3.6 Subsumtion und Stufen der Rechtskonkretisierung
Bei der Rechtsanwendung geht es darum, „Fälle“ und damit die dahinterstehenden Konflikte rechtlich zu entscheiden bzw. im Vorfeld gutachtlich die Konsequenzen menschlichen Verhaltens rechtlich zu würdigen. Die Rechtsanwendung und Rechtsdogmatik (Lehre vom geltenden Recht) ist nicht nur durch eine spezifische, als Subsumtion (hierzu im Einzelnen unten 3.6) bezeichnete Methode, sondern auch durch eine spezifische Sprache mit einer hohen Abstraktion sowie einer z. T. spezifischen Begriffsfindung gekennzeichnet.
Juristendeutsch
Die Sprache, vor allem die Schriftsprache, hat für das Recht eine besondere Bedeutung, sie ist für das Recht mittlerweile konstitutiv und bleibt es auch noch im Zeitalter des Internets (vgl. Boehme-Neßler 2005, 161 ff.). Damit einher geht ein im Vergleich zur Alltagssprache unverständlicher Stil (viele Substantive, schwierige Satzkonstruktionen mit vielen Verschachtelungen, echte Fachbegriffe und Professionalismen, vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende fachliche Bedeutungsinhalte). Die Sprache der öffentlichen Verwaltung und Justiz ist die Rechtssprache und erfolgt überwiegend schriftlich. Das macht es für die Bürger oft schwer, einen Zugang zum Recht zu finden. Andererseits richten sich Rechtsnormen als generelle Regelungen grds. an alle Bürger und nicht nur an einen kleinen Kreis von Experten. Anwälte, Sozialarbeiter, Betreuer und Mediatoren müssen deshalb hier sehr häufig eine Dolmetscherfunktion übernehmen. Voraussetzung für das inhaltliche Verstehen von Rechtsnormen ist das Erkennen der Struktur der Rechtssätze, die Auflösung ggf. vorhandener begrifflicher Mehrdeutigkeiten und das referenzielle Anwenden des Inhalts auf die Realität des Lebensalltags. Hierzu bedarf es zunächst eines grundlegenden Verständnisses über den Ablauf normativer Entscheidungsprozesse, die Struktur der Rechtsnormen, einer Einführung in die Technik der normativen Begriffsklärung (sog. Auslegung) und Entscheidungsfindung (Abwägung). Dies ist nicht nur notwendig, um Hilfe suchende Bürger in rechtlichen Fragen beraten zu können. Soziale Arbeit selbst äußert sich in vielen Fällen zunächst einmal als rechtsgebundene Verwaltungsentscheidung.
3.1 Rechtsanwendung als mehrstufiger normenbezogener Entscheidungsprozess
Soziale Arbeit als Bestandteil der staatlichen Daseinsvorsorge ist in ihren Voraussetzungen und Grenzen rechtlich geregelt. Der konkrete sozialrechtliche Anspruch des Berechtigten wird aber in aller Regel nicht unmittelbar durch die Sozialleistungsgesetze begründet. Es gibt kein Gesetz, nach dem Frau Gerda Schneider aus Mühlhausen einen Anspruch auf Sozialhilfe in Höhe von 382 €/mtl. hat oder nach dem Herr Frank Mustermann aus Stuttgart Anspruch auf Betreuung und Versorgung seiner Kinder im eigenen Haushalt während des Krankenhausaufenthaltes seiner Frau hat. Die Sozialleistungsgesetze regeln nur abstrakt die Leistungsvoraussetzungen. Zur Konkretisierung der Rechte und Pflichten des Einzelnen bedarf es einer besonderen Einzelfallentscheidung, in der die unmittelbaren Rechtswirkungen im Sozialrechtsverhältnis geregelt werden.
Übersicht 11: Soziale Arbeit als mehrstufiger rechtsbezogener Entscheidungsprozess

Die entscheidungsbezogene Soziale Arbeit (zur Rechtsberatung s. u. 4.2) läuft in einem mehrstufigen normbezogenen Entscheidungsprozess (s. Übersicht 11) ab (Maas 1996, 21 ff.). Der Zugang erfolgt oft durch die Betroffenen, indem sie um Hilfe nachsuchen, sich informieren oder sogar einen „Antrag“ (vgl. § 16 SGB I, § 18 SGB X; hierzu III-1.2.2) stellen. Häufig ist die Sozialverwaltung aber auch verpflichtet, von sich aus tätig zu werden. In beiden Fällen muss sie die zu treffende Entscheidung vorbereiten.
Informationsgewinnung
Diese besteht im Wesentlichen aus der Gewinnung von Informationen als Entscheidungsgrundlage (Sachverhaltsermittlung) und aus der fachlichen Bewertung des Sachverhalts. Die Informationsgewinnung wirft zwei Fragen auf:
■ nach dem Inhalt der Sachverhaltsermittlung: Welche Daten sind entscheidungsrelevant? Insoweit geht es zunächst um die Auswahl der Rechtsgrundlage, auf der die Entscheidung beruhen soll (vgl. Gesetzesvorbehalt, s. o. 2.1.2.1), und damit der einzelnen entscheidungsrelevanten Bedingungen, die nach dem Gesetz erfüllt sein müssen, damit eine entsprechende Entscheidung gefällt werden kann, z. B. die Leistungsvoraussetzungen für eine erzieherische Hilfe nach § 27 SGB VIII oder für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 19 SGB XII.
■ nach dem Verfahren der Sachverhaltsermittlung. Wie müssen die Informationsermittlung und das Entscheidungsverfahren ablaufen? Welche Verfahrensschritte, welche Schutzrechte und insb. Mitwirkungspflichten der Betroffenen müssen im Rahmen der Entscheidungsfindung beachtet werden (z. B. Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X; Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I; Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII; Datenschutzrecht nach § 35 SGB I, §§ 67 ff. SGB X, §§ 61 ff. SGB VIII; zum Verwaltungsverfahren vgl. III-1.2)?
Beweislast
In der Praxis ist die Informations- und Sachverhaltsermittlung am schwierigsten, während man sich in der Studienphase darauf verlassen kann, dass in der Übung und Prüfung in einer Art Trockenschwimmen nur feststehende Sachverhalte vorgegeben werden. Während im öffentlichen Verwaltungsrecht und im Strafrecht der Sachverhalt grds. von Amts wegen zu ermitteln ist (sog. Offizialprinzip, Untersuchungsgrundsatz) besteht im Privatrecht der sog. Beibringungsgrundsatz, d. h. die an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien sind für die „Beibringung“ (Einführung) der dem Streit zugrunde liegenden Fakten verantwortlich. Hier wie dort versucht die Verwaltungs- und Rechtspraxis, umstrittene Tatsachen zu klären bzw. den „wahren“ Sachverhalt ggf. durch die Erhebung von Beweisen als Grundlage ihrer Entscheidungsfindung zu ermitteln. Grds. trägt immer derjenige die sog. Beweislast, der sich auf einen für ihn vorteilhaften Umstand beruft. In diesem Zusammenhang sollte allerdings beachtet werden, dass die Wahrnehmung bei jedem Menschen begrenzt ist. Sie ist auch kein passiver, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten (vgl. Maturana / Varela 1987). Es ist deshalb ganz normal, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen an ein und denselben Vorgang haben. Nicht zuletzt deshalb ist die Suche nach der „objektiven“ Wahrheit oft vergeblich. Die Soziale Arbeit, deren Aufgabe es vornehmlich ist, die Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu stärken, stützt sich deshalb methodisch eher auf konstruktivistische Ansätze (vgl. hierzu auch die Mediation, 6.3). Dort, wo ein Dritter entscheiden muss (sei es im Rahmen eines Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahrens), lässt sich aber auf die Sachverhaltsermittlung und ggf. Beweisführung nicht verzichten.
Informationsbewertung
In der „theoretischen“ Ausbildungssituation erhalten die Studierenden einen als wahr unterstellten (unstrittigen) und abschließenden Sachverhalt. Hier darf nichts angezweifelt oder dazuspekuliert werden. Ausbildungsgegenstand ist zunächst das Erlernen der juristischen Arbeitsmethodik, die Methode der Rechtsanwendung, der Umgang mit Rechtsnormen im Rahmen der Informationsbewertung. Das entspricht auch dem korrekten Vorgehen der Rechtspraxis, insb. der Gerichte, in strittigen Sachverhalten. Die sachgemäße rechtliche Bearbeitung eines Falles (insb. der Frage: Was ist für die Entscheidungsfindung rechtlich überhaupt relevant?) erspart die u. U. aufwendige Beweiserhebung umstrittener Tatsachen, die für die abschließende Entscheidung letztlich rechtlich überflüssig sind. Auch die Informationsbewertung umfasst zwei Aspekte:
■ stets die Bewertung in rechtlicher Hinsicht (Subsumtion)
■ sehr häufig die Bewertung in fachlich-sozialpädagogischer Hinsicht, insb. die Diagnose und Prognose, z. B.: Was ist eine erzieherische Mangelsituation im Sinne der Leistungsvoraussetzungen der Erziehungshilfen nach § 27 SGBVIII? Welche Hilfe ist die „richtige“ (= geeignet und erforderlich) i. S. d. § 27 SGB VIII?
Fachkräfteprivileg
Beide Ebenen, sozialpädagogische Bewertung und rechtliche Subsumtion, sind oftmals untrennbar miteinander verknüpft (z. B. abstrakt-definitorische Ausfüllung des Begriffs „erzieherischer Bedarf“ in § 27 Abs. 2 SGB VIII sowie die Anwendung der Definition im konkret zu entscheidenden Einzelfall). Die rechtliche Bewertung baut einerseits auf der fachlich-diagnostischen Bewertung auf; andererseits darf sich jene in diesem justiziablen Zusammenhang nur auf die rechtlich vorgegebenen, relevanten Kriterien beziehen (im Hinblick auf § 27 SGB VIII z. B. Relevanz der Begriffe „erzieherischer Bedarf“ und „Kindeswohl“, nicht aber andere denkbare Maßstäbe, z. B. Einkommen, Kinderzahl). Im Rahmen der Subsumtion werden die rechtlich relevanten Kriterien und der Sachverhalt aufeinander bezogen, der Sachverhalt wird im Hinblick auf seine rechtliche Relevanz überprüft. Auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung und Durchführung der konkreten Leistung wirken rechtliche Kriterien weit in den Hilfeprozess hinein. Hilfe als Rechtsverhältnis führt allerdings nicht zu einer Verdrängung der außerrechtlichen, insb. der sozialpädagogischen Aspekte Sozialer Arbeit. Es ist gerade ein Element der Fachlichkeit, die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls sozialarbeiterisch-methodisch zu erfassen, diese bewusst in den Beratungs- und juristischnormativen Entscheidungsprozess einzubringen und dabei insb. Entscheidungsalternativen zu erkennen. Hingewiesen sei hier auf das sog. Fachkräfteprivileg gemäß § 72 SGB VIII und § 6 SGB XII, nach dem die Sozialleistungsgesetze von Fachkräften durchzuführen sind, um zu gewährleisten, dass die nach fachlicher Prüfung im Einzelfall als notwendig festgestellte Jugendhilfe bzw. Sozialhilfe geleistet wird. Es sind also die sozialpädagogischen Fachkräfte, die die Umsetzung des Gesetzeswillens, insb. die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. u. 3.3.2) und Ermessensspielräumen (s. u. 3.4.1) vornehmen müssen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Entscheidungen der Sozialbehörden, sondern auch für die fachlichen Stellungnahmen im Rahmen gerichtlicher Verfahren (z. B. §§ 50 – 52 SGB VIII).
3.2 Struktur der Rechtsnormen
3.2.1 Tatbestands- und Rechtsfolgenseite
Tatbestandsmerkmale
Eine sog. vollständige Rechtsnorm ist zweigliedrig aufgebaut: Sie besteht aus einer Tatbestands- und einer Rechtsfolgenseite.Auf der Tatbestandsseite der Rechtsnorm werden die einzelnen Bedingungen (die sog. Tatbestandselemente, -voraussetzungen oder -merkmale) aufgezählt, die erfüllt sein müssen, damit die in der Vorschrift genannte Konsequenz (Rechtsfolge) eintritt. Nicht selten werden nicht die Tatbestandsvoraussetzungen, sondern die Rechtsfolge zuerst genannt (z. B. § 42 SGB VIII: Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, wenn …). Auch wenn die zweigliedrige Struktur der gesetzlichen Tatbestände nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennbar ist, so lässt sich doch jede vollständige Rechtsnorm auf die geschilderte Weise in eine Tatbestands- und Rechtsfolgenseite (Wenndann-Relation) zerlegen. Art. 16a Abs. 1 GG: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ beispielsweise lässt sich als Wenn-dann-Relation formulieren: Wenn jemand politisch verfolgt ist (= Tatbestandselement), dann wird ihm Asyl gewährt (= Rechtsfolge). In Anlehnung an logisch-systematische Denkprozesse wird die Struktur von Rechtsnormen häufig mit Gleichungen dargestellt (x1 + x2 + x3 => R1), die mitunter komplexe Verschachtelungen und „Ketten“ beinhalten (s. Übersicht 12).
ungeschriebene Tatbestandsmerkmale
Teilweise werden einzelne Tatbestandsbedingungen nicht ausdrücklich genannt, sondern als sog. ungeschriebene Tatbestandsmerkmale aus rechtssystemdogmatischen Gründen mitgedacht. Die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht setzt z. B. stets eine in § 823 BGB nicht selbst noch einmal besonders erwähnte Ursachenkette zwischen der Verletzungshandlung und dem Schadenseintritt voraus (sog. Kausalität oder objektive Zurechnung).
Die Gesetze enthalten nicht nur vollständige Rechtsnormen. Der Gesetzgeber hat vielfach wichtige Tatbestandselemente von Normen selbst in gesonderten Paragrafen definiert oder Einzelheiten einer Rechtsfolge in mehreren Vorschriften zusammenhängend geregelt. Man spricht dann – je nach der speziellen Funktion dieser „unvollständigen“ Rechtsnormen, die aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Entlastung des gesetzlichen Tatbestands ausgegliedert worden sind – von einer:
■ Definitionsnorm, z. B.:
– § 276 Abs. 2 BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
– § 7 Abs. 1 Nr.2 SGB VIII: Jugendlicher ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.
– § 27a SGB XII: Der notwendige Lebensunterhalt umfasst insb. … [Definition des notwendigen Lebensunterhalts]
■ Verweisungsnorm, z. B.:
– § 7 Abs. 1 Nr.5 SGB VIII: Personensorgeberechtigter ist, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht.
Übersicht 12: Struktur von Rechtsnormen

– § 62 SGB X: Verweis auf die Rechtschutzmöglichkeiten gegen Verwaltungsakte, die im SGG, in der VwGO oder einem anderen Bundesgesetz geregelt sind.
■ Gegennorm, z. B.:
– § 49 Abs. 1 SGB X: § 45 Abs. 1 – 4, §§ 47 und 48 gelten nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, …
Häufig ergibt sich daraus dann eine sog. Paragrafenkette, z. B. § 27 SGB VIII: Anspruch des Personensorgeberechtigten ➝ § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII ➝ §§ 1626 ff. BGB: Normierung der Personensorgeberechtigung. Unvollständige Rechtsnormen können sich auch auf eine Verweisung auf andere Rechtsvorschriften beschränken. Hierbei handelt es sich um bloße Rechtsfolgenverweisungen, wenn lediglich die Rechtsfolge der genannten Vorschrift für anwendbar erklärt wird, ohne dass deren Voraussetzungen erfüllt sein müssen (z. B. § 292 BGB: verschärfte Haftung bei Herausgabepflichten). Dagegen spricht man von Rechtsgrundverweisung (oder „Tatbestandsverweisung“), wenn nicht nur auf die Rechtsfolge, sondern (auch) auf den Tatbestand, also den Grund der anderen Norm verwiesen wird. Die in der Verweisung genannte Vorschrift ist nur dann anwendbar, wenn ihre tatbestandsmäßigen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies kommt im Privatrecht häufig im Hinblick auf Gewährleistungsansprüche (z. B. §§ 437, 634 BGB; zu den Ansprüchen bei Leistungsstörungen s. II-1.4.2) oder die Herausgabe einer sog. ungerechtfertigten Bereicherung vor (z. B. §§ 516 Abs. 2, 531 Abs. 2, 547, 951 BGB). Im Sozialrecht findet man eine solche Verweisung z. B. in § 26 Abs. 1 SGB X im Hinblick auf Anwendung der Fristenvorschriften der §§ 187 – 193 BGB oder in §§ 8a Abs. 1, 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII im Hinblick auf die sich an § 1666 BGB orientierende Definition der Kindeswohlgefährdung.
3.2.2 Rechtsfolge und Charakter der Rechtsnorm
Rechtsnatur
Die Art der vorgesehenen Rechtsfolge ist charakteristisch für das Rechtsgebiet, dem die Norm angehört; ob eine Vorschrift zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen (oder sogar strafrechtlichen) Charakter hat (man spricht hier auch von der „Rechtsnatur“), bestimmt sich in erster Linie nach der in ihr ausgesprochenen Rechtsfolge (vgl. § 823 BGB: Schadensersatz = zivilrechtlich; § 44 Abs. 1 SGB X und § 48 VwVfG: Rücknahme eines Verwaltungsaktes durch die Behörde = öffentlich-rechtlich; § 242 StGB: Geld- oder Freiheitsstrafe = strafrechtlich). Eine Norm wird als öffentlich-rechtlich angesehen, wenn aus ihr zwingend ein Träger öffentlicher Verwaltung berechtigt oder verpflichtet ist. Privatrechtlich ist eine Norm, wenn der betreffende Rechtssatz für jedermann gilt (sog. moderne Subjektstheorie, s. 1.1.4). In diesem Sinne regeln verwaltungsrechtliche Normen meist Befugnisse einer Behörde oder Rechte und Pflichten des Bürgers gegenüber einem öffentlichen Träger. Es ist aber durchaus möglich, dass in einem Gesetz Vorschriften enthalten sind, die verschiedenen Rechtsgebieten angehören: So sind z. B. im Straßenverkehrsgesetz (StVG) neben rein verwaltungsrechtlichen Normen (§§ 1 – 6e) und Straf- und Bußgeldvorschriften (§§ 21 – 27) sogar auch rein zivilrechtliche Regelungen über die Kfz-Haftpflicht (§§ 7 – 20) enthalten.
3.3 Bestimmte und unbestimmte Rechtsbegriffe
3.3.1 Begriff, Arten und Funktionen
Es ist das Kennzeichen von Rechtsnormen, dass sie abstrakt-generelle Regeln aufstellen und deshalb nicht nur für einen konkreten Einzelfall gelten (s. 1.1.3). Die in den Rechtsnormen enthaltenen Begriffe sind deshalb in allgemeiner Form definiert und daher mehr oder weniger (un)bestimmt (s. Übersicht 13). Sind sie eindeutig und klar abgrenzbar, so spricht man von bestimmten (deskriptiven oder normativ definierten) Rechtsbegriffen. Aber auch durch einen noch so genauen Gesetzestext ist es kaum möglich, alle künftigen Situationen durch entsprechende Begrifflichkeiten zu erfassen.
unbestimmte Rechtsbegriffe
Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse kann der Gesetzgeber daher nur durch Verwendung sog. unbestimmter Rechtsbegriffe gerecht werden, wenn er umfangreiche und letzten Endes doch lückenhafte Aufzählungen von Fallkonstellationen vermeiden will (vgl. die heute z. T. antiquiert wirkenden Beispiele in § 98 BGB oder die Kasuistik der Verjährungshemmung in § 204 BGB). Je allgemeiner und umfassender eine rechtliche Regelung sein soll, desto höher werden ihr Abstraktionsgrad und desto geringer die Bestimmtheit und Eindeutigkeit der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Eine feste Abgrenzung zwischen bestimmten und unbestimmten Rechtsbegriffen ist allerdings nicht immer möglich, da der Übergang zwischen beiden Arten von Tatbestandselementen fließend ist. Rechtbegriffe können normativ, d. h. durch eine Rechtsnorm bestimmt sein (z. B. Volljährigkeit, § 2 BGB; Jugendlicher, § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII), unbestimmte Rechtsbegriffe können sowohl deskriptiv (z. B. Nachtzeit, § 12 VwZG) als auch wertausfüllungsbedürftig sein (z. B. Würde, Wohl, sog. normativer Rechtsbegriff). Häufig erkennt der Laie nicht, ob er es mit einem bestimmten (die kostenpflichtige Miete in Abgrenzung zur kostenlosen Leihe; vgl. § 556b BGB vs. § 598 BGB) oder unbestimmten Rechtsbegriff zu tun hat (z. B. „wohnen“ – unbestimmt; „gewöhnlicher Aufenthalt“ – rechtlich bestimmt in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I). Im Übrigen lassen sich zahlreiche Rechtsfragen überhaupt erst bearbeiten, wenn man die Unbestimmtheit eines Begriffs erkannt hat. Nicht zuletzt deshalb verlangt die sog. Garantiefunktion des Strafrechts ein Mindestmaß an Bestimmtheit der Rechtsnorm (vgl. IV-1.3).
Übersicht 13: Arten von Rechtsbegriffen
bestimmte Rechtsbegriffeunbestimmte Rechtsbegriffebeschreibendnormativ definiertbeschreibend (deskriptiv)wertausfüllend (normativ)Orts-, Zahlenund Zeitangaben, z. B. Lebensalter;technische Angaben (Phon, Lux, km/h)Person, Sache, Geschäfts- und Volljährigkeit, Eigentum, Besitz, Miete, Vorsatz, FahrlässigkeitKurze Dauer in § 38 Abs. 1 SGB XIINachtzeit (§ 12 VwZG),Speisen, Getränke (§ 1 GaststG),Kraftfahrzeug (§ 1 StVG),Sonstiges Recht (§ 823 Abs. 1 BGB)„Würde des Menschen“ (Art. 1 GG; § 1 SGB XII)„Wohl des Kindes“ (§ 1666 BGB, §§ 27 Abs. 1, 44 Abs. 2 SGB VIII)„Nichtgewährleistung einer kindeswohlgemäßen Erziehung“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII)Für Entwicklung „geeignete und notwendige Hilfe“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII)„Erforderliche Kosten einer Bestattung“ (§ 74 SGB XII)„Angemessener Barbetrag“ (§ 35 Abs. 2 SGB XII)Beeinträchtigung „sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ (§ 55 Abs. 1 AufenthG)Unbestimmte Rechtsbegriffe können sowohl auf der Tatbestandsseite (z. B. der Begriff „erforderlich“ als Voraussetzung für eine Sozialleistung, z. B. §§ 2 Abs. 1, 12 S. 2, 27 Abs. 3 SGB XII) als auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen („erforderlich“ als Beschreibung der Leistung, z. B. § 33 Abs. 1 SGB X), wobei derselbe Begriff selbst innerhalb einer Rechtsnorm in der konkreten Anwendung nicht immer die gleiche Konsequenz hat (z. B. bedeutet „unverzüglich“ in § 42 SGB VIII zwar stets „ohne schuldhaftes Verzögern“, deshalb im Hinblick auf die Benachrichtigung der Vertrauensperson gem. Abs. 2 S. 2 oder des FamG nach Abs. 3 nichts anderes als „sofort“, während im Hinblick auf die Information der Eltern gem. Abs. 2 mitunter eine kurze Frist verstreichen kann, damit vorweg eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden kann; vgl. Münder et al. 2013b, § 42 Rz. 33 u. 38).






