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Bestimmte wie unbestimmte Rechtsbegriffe können sich beziehen auf:
■ innere Tatsachen (z. B.Vorsatz, Kenntnis, Absicht) oder
■ äußere Umstände (z. B. Lebensalter, Einkommen, Vermögensverhältnisse, Staatsangehörigkeit, Eigentum). Zu den äußeren Umständen gehören nicht nur tatsächliche Verhältnisse (z. B. Sache, Schaden, Vermögen), sondern auch rechtliche Umstände (sog. Rechtstatsachen, z. B. Geschäftsunfähigkeit, Staatsangehörigkeit, Anerkennung der Gemeinnützigkeit, Schwerbehinderteneigenschaft).
3.3.2 Auslegung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen
Normen können nur dann richtig angewandt werden, wenn man sich über die genaue Definition eines Rechtsbegriffs klar wird. Sprache ist aber nicht mathematisch exakt, Begriffe werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet, wobei ihnen verschiedene Inhalte und Bedeutungen beigemessen werden. Schon deshalb basiert die Rechtsanwendung nicht auf einer reinen inhaltsunabhängigen Logik, sondern es geht um ein hermeneutisches Vorgehen, um ein verstehendes Bemühen, den Inhalt des Rechts richtig zu deuten. Im konkreten Fall kann die Anwendung einer Rechtsnorm vor allem deshalb sehr schwer sein, weil der Sinngehalt eines Begriffs nicht eindeutig, sondern mehrdeutig ist. Darüber kann es zu Streit, ja zu einem Rechtsstreit kommen. Der genaue Inhalt eines normativen und unbestimmten Rechtsbegriffs ist deshalb zu definieren. Rechtsmethodisch nennt man diesen Klärungsprozess Auslegung. Hierunter versteht man eine fachlich-verstehende Deutung des relevanten Inhalts eines Rechtsbegriffs (im Hinblick auf Rechtsnormen) bzw. einer Willensäußerung (im Hinblick auf den Rechtsverkehr). Es handelt sich mithin um eine hermeneutische Methode, um eine normativ-bezogene Definition von Begriffsinhalten. Für die Methode der Auslegung sind verschiedene Argumentationsweisen entwickelt worden, von denen zwei eher „objektiv-systematischer“ und zwei eher „subjektiv-interessensbezogener“ Natur sind.

An einem häufig verwendeten, wohl auf Uwe Wesel (1984, 177 ff.) zurückgehenden Beispiel, möchten wir dies erläutern. Nehmen wir an, eine kommunale Satzung enthält im Hinblick auf die Eintrittspreise zu einer städtischen Einrichtung folgende Regelung: „Schüler zahlen nur den halben Eintrittspreis“. Wer ist Schüler? Nur die Schüler der allgemeinbildenden Schulen oder auch Berufsschüler, die über eine Ausbildungsvergütung verfügen? Gilt die Regelung auch für Studenten, Teilnehmer an Volkshochschulkursen oder nur für Personen in einem bestimmten Alter? Gilt sie gar für alle Personen mit niedrigem Einkommen?
wörtliche Auslegung
Ausgangspunkt jeder rechtlichen Begriffsklärung ist zunächst die wörtliche (philologisch-grammatikalische) Auslegung, die sich am natürlichen Sprachsinn, der Syntax und den sonstigen Regeln der Grammatik orientiert. Die Auslegungsmethode ist deklaratorisch, sie darf nicht gegen den „klaren“ Wortlaut eines Begriffs vorgenommen werden. Die Grenze der Auslegung liegt im noch möglichen Wortsinn. Zum Beispiel ist der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ in § 1666 Abs. 1 BGB sicht- und hörbar etwas anderes als die Formulierung „Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung“ in § 27 Abs. 1 SGB VIII.Man kann davon ausgehen, dass der Gesetzgeber des Kindes- und Jugendhilferechts statt der umständlichen Formulierung den kurzen Begriff „Kindeswohlgefährdung“ verwendet hätte, wenn er dasselbe wie bei den Voraussetzungen des bürgerlich-rechtlichen Eingriffs in die Personensorge nach § 1666 BGB hätte ausdrücken wollen. In unserem Beispielsfall der kommunalen Satzung umfasst im gewöhnlichen Sprachgebrauch der Begriff „Schüler“ zwar Schüler aller allgemeinbildenden ebenso wie Berufs- und Abendschulen, nicht aber die in aller Regel nicht als Schüler bezeichneten Teilnehmer von Volkshochschulkursen oder Studenten. Eine enge („restriktive“) Auslegung wird die Privilegierung nur auf noch schulpflichtige Kinder und Jugendliche anwenden, eine weite („extensive“) Auslegung auf alle Personen, die eine Schule, welcher Art auch immer, besuchen.
systematische Auslegungsmethode
Die systematische Auslegungsmethode geht von einem widerspruchsfreien Gesamtgefüge der Gesetze aus und stellt die einzelne Norm in den Zusammenhang mit den anderen Vorschriften des entsprechenden Gesetzes sowie in Beziehung zur gesamten Rechts- und Verfassungsordnung. Ein Prototyp systematischer Auslegung erfolgt durch gesetzliche Verweisungs- und Definitionsnormen (Legaldefinitionen). Beispielsweise ist zwar ein Tier im deutschen Rechtsverständnis mittlerweile keine Sache mehr, damit aber noch keine „Person“ im Rechtssinne. Vielmehr werden auf Tiere die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend angewandt, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist (vgl. § 90a BGB). Der vielfach genutzte Begriff „unverzüglich“ (s. 3.3.1) ist in § 121 Abs. 1 BGB im Zusammenhang mit der Anfechtung von Willenserklärungen definiert als „ohne schuldhaftes Verzögern“. Hieran knüpft wegen der Einheit der Rechtsordnung auch die Auslegung im Sozialrecht an (vgl. z. B. § 42 Abs. 2 und 3 SGB VIII), mit der Folge differenter Konsequenzen (vgl. III-3.4.1.1). Im Konfliktfall widersprechender Normenbezüge gehen höherrangige Vorschriften den nachrangigen vor (vgl. 1.1.3.7). Mit Blick auf das Grundgesetz spricht man von einer verfassungskonformen Auslegung, d. h. keine Vorschrift darf im Widerspruch zum Grundgesetz stehen und jede muss „in seinem Geiste ausgelegt werden“ (BVerfG NJW 1958, 257). Bei Gleichrangigkeit gehen neuere Rechtsnormen im Konfliktfall den älteren Gesetzen vor, speziellere verdrängen die allgemeinen Regelungen.

In dem Schülerbeispiel fehlen für eine systematische Überlegung weitere Informationen. Das Auslegungsproblem stellt sich z. B. im Hinblick auf die Studenten nur dann, wenn diese nicht an anderer Stelle besonders erwähnt werden. Gäbe es in der kommunalen Satzung in einem anderen Zusammenhang (z. B. Zuschuss für den öffentlichen Nahverkehr) eine Regelung, die ausdrücklich auch Studierende oder Arbeitslose berücksichtigt, so läge systematisch der („Umkehr“)Schluss (s. u.) nahe, dass diese im Hinblick auf die Eintrittspreise nicht gleichzeitig auch mit dem Begriff Schüler gemeint sein sollen.

Umstritten ist die Reichweite der Berichts- und Aufsichtspflichten eines Betreuungshelfers gegenüber dem Jugendgericht nach § 38 Abs. 2 JGG, auf den § 52 Abs. 1 SGB VIII im Rahmen der Aufgabenbeschreibung des JA verweist: Mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung (Justiz vs. Verwaltung, s. 2.1) und die vom Staat unabhängige kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) kommt die h. M. zu der Auffassung, dass die Betreuungshelfer der Jugendhilfe gegenüber der Justiz nur insoweit berichts- und aufsichtspflichtig sind, wie sich dies mit ihren im SGB VIII rechtlich normierten fachlichen Handlungsmaximen vereinbaren lässt.
historische Auslegung
Die historisch-genetische Interpretation berücksichtigt die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Rechtsnorm. Hierzu werden etwa die Sitzungsberichte des Parlaments und Begründungen zu Gesetzesentwürfen herangezogen, um den Willen des (historischen) Gesetzgebers zu ermitteln. Es ist dabei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch unter der Bedingung gewandelter Verhältnisse eine zweckmäßige und vernünftige Regelung getroffen hätte.

Die Begründung zum KJHG (BT-Ds 11 / 5948) ist z. B. eine inhaltsreiche und gewichtige Stütze für den besonderen sozialleistungsorientierten Charakter des Jugendhilferechts. Sie weist auf den besonderen Charakter des Kinder- und Jugendhilferechts als pädagogisch intendiertes Sozialleistungsrecht hin. Es müsse vermieden werden, straf- und ordnungsrechtliche Gesichtspunkte in das Kinder- und Jugendhilferecht hineinzutragen, die dessen Charakter zwangsläufig verändern müssten (BT-Ds 11 / 5948, 117). Diese Aussage ist auch für die Auslegung des Umfangs der Berichtspflicht der Jugendhilfe von erheblicher Bedeutung und stützt die oben vorgenommene Interpretation zum Verhältnis von § 52 SGB VIII und 38 JGG.
class="marginalie">teleologische Auslegung
Normen haben stets eine Funktion, sie sind Verhaltensregeln, die das gegenwärtige oder das zukünftige Handeln der Menschen in bestimmten Situationen verbindlich bestimmen sollen (vgl. 1.1.1). Die teleologische Auslegung (telos = Sinn, Zweck) bestimmt die Rechtsbegriffe nach Ziel und Zweck (ratio legis) der Norm. Anders als bei der historischen Auslegung geht es hier nicht darum, welchen Sinn der „damalige“ Gesetzgeber ursprünglich mit der Norm bezweckt hatte, sondern welchen aktuellen Zweck die Norm erfüllen soll. Dies setzt voraus, dass der Zweck der Norm erkannt bzw. ermittelt wird, was nicht immer ganz einfach ist, zumal es dazu durchaus widersprechende Ansichten gibt. In modernen Gesetzen wird der Gesetzeszweck deshalb oft an zentraler Stelle genannt, im Kinder- und Jugendhilferecht z. B. in § 1 SGB VIII. Unter mehreren möglichen Auslegungen einer Rechtsnorm ist dann diejenige vorzuziehen, die den Gesetzeszweck optimal verwirklicht.

Welche Personen in der kommunalen Satzung mit dem Begriff „Schüler“ gemeint und durch die Preisregelung privilegiert sind, hängt maßgeblich von dem Zweck der Regelung ab. Es ging dem Satzungsgeber aber erkennbar nicht darum, nur Personen einer bestimmten Altersgruppe zu privilegieren, denn das hätte man klar mit einer Altersangabe oder durch gesetzlich definierte Begriffe wie „Kinder und Jugendliche“ (vgl. z. B. § 7 Abs. 1 SGB VIII; § 1 Abs. 1 JSchuG) regeln können. Sollen durch die Regelung alle Personen begünstigt werden, die sich in einer Ausbildungssituation befinden und deshalb kein Einkommen erhalten, dann träfe dies auf Studierende ebenso zu, nicht aber auf Berufsschüler, die eine Ausbildungsvergütung erhalten. Im Hinblick auf die Studenten könnte aber der natürliche Wortsinn einer solchen Auslegung entgegenstehen, da Schüler und Student im normalen Sprachgebrauch voneinander verschieden sind. Sollte der Satzungsgeber diesen Fall, „die Studierenden“, tatsächlich versehentlich nicht bedacht und geregelt haben, so kann man eine planwidrige Gesetzeslücke feststellen.

Hier möchten wir wieder an die Auslegung von § 38 JGG i. V. m. § 52 SGB VIII anknüpfen: Um überhaupt mit jungen Menschen und ihren Familien im Sinne des §§ 1 f. SGB VIII arbeiten zu können, muss die Jugendhilfe von Weisungen der Justiz unabhängig sein und ein Vertrauensverhältnis zu ihren Klienten aufbauen. Mit diesem sozialanwaltlichen Handlungsauftrag (hierzu III-3.2.1) verträgt es sich nicht, wenn Betreuungshelfer Überwachungs- und Sanktionsaufgaben der Jugendgerichte übernehmen.
Abwägung
Das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es, dass der Normadressat weiß, was von ihm erwartet wird. Deshalb muss nach der funktionalen Logik der Rechtsnorm am Ende des Auslegungsprozesses nur ein Ergebnis als rechtlich relevant und verbindlich, also als „richtig“ anerkannt werden. Natürlich wird es häufig unterschiedliche Auffassungen darüber geben, welches nun die richtige Auslegung in einem konkreten Fall ist. Entscheidend ist die angemessene Abwägung aller Auslegungsgesichtspunkte, wobei Sinn und Zweck der Rechtsnorm am gewichtigsten sind. Abwägung bedeutet, die Argumente und Gegenargumente aufeinander zu beziehen, die Vor- und Nachteile jeder Entscheidung im Hinblick auf die zugrunde liegenden Interessen sorgfältig zu prüfen und zu wiegen. Für den Konfliktfall widerstreitender Auslegungsergebnisse hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik auf folgende Grundregeln hingewiesen. Die Entstehungsgeschichte einer Norm und damit die „subjektiv-historische“ Auslegung der „damals“ am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe ist letztlich nicht maßgebend, da sich der Inhalt einer Norm aufgrund der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern kann. Wesentlich ist der aktuell relevante im Wortlaut der Rechtsnorm und in dem Sinnzusammenhang zum Ausdruck kommende „objektivierte“ Sinn und Zweck einer Regelung (vgl. BVerfGE 1, 299 ff.). Dessen Erfassung ist freilich ebenso wenig „objektiv“ wie die historische Interpretation. Andererseits müssen die „historische“ und teleologische Auslegung bei allen neueren, aktuellen Gesetzen zu den gleichen Ergebnissen führen, da nach dem Demokratieprinzip der Gesetzgeber und nicht die Rechtsprechung für die Normsetzung verantwortlich ist. Allerdings wendet die Rechtsprechung die Rechtsnormen nicht nur an, sondern wird auch rechtsfortbildend tätig, nämlich dann, wenn Inhalt und Grenzen von Rechtsnormen nicht durch Auslegung bestimmt werden können, sondern planwidrige Lücken des Gesetzes festgestellt wurden und geschlossen werden müssen.
Analogie
Eine Analogie ist eine Rechtsfortbildung. Sie wird gebildet, wenn festgestellt wird, dass eine Rechtsnorm im konkreten Fall nicht passt, eine andere, passende Rechtsnorm aber ebenso wenig vorhanden ist und damit offenkundig wird, dass der Gesetzgeber diesen Fall nicht bedacht hat. Bei der Analogie geht es also um die Schließung einer planwidrigen Gesetzeslücke durch die entsprechende Anwendung einer Norm. Eine Analogie ist nicht leichtfertig bei jeder auf den ersten Blick nicht geregelten Sachfrage zu formulieren. Vielmehr muss genau geprüft werden, welche Fälle der Gesetzgeber geregelt haben wollte und welche er versehentlich nicht geregelt hat. Nur im letzten Fall dürfen (planwidrige) Gesetzeslücken durch eine Analogie ausgefüllt werden. Im Fall der kommunalen Satzung, nach der Schüler nur einen ermäßigten Eintritt bezahlen müssen, spricht viel dafür, die nicht genannten Studenten, die ebenso wie Schüler aufgrund ihrer Ausbildung i. d. R. über kein Einkommen verfügen, wie diese zu behandeln und deshalb die Norm auf sie analog anzuwenden.
Unzulässig ist eine Analogie im Strafrecht (s. IV.1.3) zur Strafbegründung oder Strafverschärfung aufgrund der Garantiefunktion des Strafgesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG). Wie schwierig die Abgrenzung von noch zulässiger Auslegung und nicht mehr zulässiger Strafbarkeitsbegründung durch die Rspr. z. T. ist, zeigt sich z. B. bei der strafrechtlichen Definition des Gewaltbegriffs im Rahmen der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB (vgl. Schönke / Schröder et al. 2010, § 240 Rz. 4 ff.).
Juristische Logik
Bei der teleologischen Reduktion geht es um den entgegengesetzten Fall, d. h. eine Norm wird nicht angewendet, obwohl sie nach dem reinen Wortsinn passen würde (z. B. eine versuchte Selbsttötung ist kein versuchter Mord i. S. d. § 211 StGB). Auch beim Umkehrschluss (argumentum e contrario) soll eine Regelung gerade nicht angewendet werden, weil der Normzweck einer „entsprechenden“ Rechtsanwendung entgegensteht (z. B. folgt aus § 248b StGB, dass der unbefugte Gebrauch einer Kutsche straflos ist, weil es sich nicht um ein Kraftfahrzeug oder Fahrrad handelt; damit ist aber nichts gesagt über die zivilrechtliche Haftung!). Darüber hinaus spielen in der juristischen Logik eine Reihe weiterer Schlussfolgerungen eine Rolle (z. B. „a majore ad minus“ – vom Größeren auf das Kleinere: bspw. wenn ein Verbot zulässig ist, dann ist auch die Genehmigung unter angemessenen Bedingungen zulässig), wobei sich freilich manche Anwender verheddern (z. B. Zirkelschluss) und / oder Logik vortäuschen, wo keine ist (vgl. hierzu 3.5).
3.3.3 Beurteilungsspielraum
Die Rechtsprechung ist Aufgabe der Gerichte (Art. 92 GG; hierzu I-5). Ihnen obliegt es, die richtige Anwendung der Gesetze durch die Verwaltung zu überprüfen. Deshalb wird von den (Verwaltungs-)Gerichten auch überprüft, ob die von der Verwaltung vorgenommene Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe mit dem Gesetz im Einklang steht, also „richtig“ ist. Diese Überprüfung ist grds. allumfassend, nur ausnahmsweise wird der Verwaltung von der Rechtsprechung bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer „Beurteilungsspielraum“ oder eine sog. Einschätzungsprärogative im Rahmen der Abwägung zuerkannt. Den Ausnahmefällen ist gemeinsam, dass es sich um Wertentscheidungen der Verwaltung handelt, die das Gericht aufgrund der besonderen, einmaligen Konstellation der Entscheidungsfindung oder aus sonstigen Gründen nicht nachholen kann, z. B.:
■ von pädagogisch-wissenschaftlichen Wertungen gekennzeichnete Prüfungsentscheidungen im Schul- und Hochschulbereich (Versetzung, Abitur, Abschlussprüfung im Studium), da sie auf der vom Gericht nicht nachvollziehbaren längeren Beobachtung des Schülers / Studenten bzw. auf der Einmaligkeit der nicht rekonstruierbaren Prüfungssituation beruhen (BVerwGE 57, 130).
■ der dienstlichen Beurteilung von Beamten, Richtern und Soldaten, da es sich hier um sog. unvertretbare persönlichkeitsbezogene Werturteile handelt (z. B. dienstliche Eignung, Bewährung, Verfassungstreue eines Beamten; vgl. BVerfG DVBl. 1981, 1053 f.; BVerwG NVwZ–RR 1989, 420 f.).
■ bei planerischen und prognostischen Entscheidungen (BVerwGE 64, 238 ff.; 80, 270 ff.).
■ Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse, z. B. Personalgutachterausschuss (BVerwGE 12, 20 ff.), im Bereich des Jugendschutzes die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BVerfG NJW 1991, 1471; BVerwG NJW 1993, 1491; vgl. III-6.2.7).
In diesen Fällen beschränkt sich das VG darauf zu überprüfen, ob bei der Rechtsanwendung im konkreten Fall
■ die Verwaltung von falschen Tatsachen oder einem unvollständigen Sachverhalt (z. B. wenn im Rahmen einer schriftlichen Prüfung nicht alle Seiten der Lösung bewertet worden sind, vgl. BVerwG DVBl 1998, 474) ausgegangen ist,
■ die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind (beachte z. B. die besonderen Verfahrensvorschriften im Rahmen der Risikoabschätzung und der Hilfeplanung im Jugendhilferecht, insb. §§ 8a, 36 f. SGB VIII),
■ sachfremde Erwägungen maßgebend waren oder der Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde,
■ allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe (insb. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, s. 2.1.2.2) oder Beurteilungsrichtlinien nicht beachtet worden sind.
Beurteilungen und Stellungnahmen in der Sozialen Arbeit
In der Sozialen Arbeit sind häufig auf einer Anamnese und Diagnose bzw. Prognose beruhende Entscheidungen zu treffen, die ihrer Art nach auf einer besonders sorgfältigen Abwägung beruhen, z. B. welche Leistungen oder Maßnahmen im Hinblick auf das Kindeswohl geeignet und erforderlich sind und ihm am besten gerecht werden. Insoweit war es umstritten, ob der Jugendhilfe bei psychosozialen Diagnosen und Bewertungen ein Beurteilungsspielraum zusteht oder nicht. Teilweise wurde dies bejaht (VGH Mannheim NDV-RD 1997, 133 ff.; BVerwG ZfJ 2000, 31, 35 f.; OVG Koblenz ZfJ 2001, 23 ff.) mit Hinweis auf den Prognosecharakter der Entscheidung des JA. Zudem könne eine gerichtliche Entscheidung dem in § 36 SGB VIII verankerten kooperativen Interaktionsprozess zur Entscheidungsfindung unter Beteiligung aller Betroffenen und dem Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte nicht Rechnung tragen (VGH BW NDV-RD 1997, 133, 134).
Die Einräumung von – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren – Beurteilungsspielräumen ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber auf Ausnahmefälle beschränkt worden. Nicht jede diagnostische, prognostische oder aus anderen Gründen spezifisch-fachliche Kompetenzen erfordernde Entscheidung führt zu einem Beurteilungsspielraum. Eine zu weitgehende Gewährung gerichtsfreier Beurteilungsspielräume wäre rechtsstaatlich bedenklich, da sie die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unterliefe. Die Rechtsprechung des BVerfG (E 84, 34 ff.; 84, 59 ff.; 88, 40 ff.; BVerfG NVwZ 1992, 55; NJW 1993, 917) hat die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen erheblich eingeschränkt und klargemacht, dass der Verwaltung auch bei besonderer fachlicher Kompetenz und bei komplexen fachlichen Einschätzungen grds. kein Beurteilungsspielraum zusteht (das sieht auch der EGMR – 13.07.2000 – 25735 / 94 – NJW 2001, 2315 nicht anders, vielmehr verweist auch dieser auf eine genaue Überprüfung durch das Gericht). Das BVerfG stellt den Grundrechtsschutz über die Erfordernisse der Verwaltungspraxis und gesteht der Fachverwaltung aufgrund ihrer Sachkunde keine Letztentscheidungskompetenz zu. Auch ein Gericht kann sich ggf. durch einen Sachverständigen die erforderliche Sachkunde aneignen. Für die Anerkennung eines Bewertungsvorrechts wäre Voraussetzung, dass es sich um eine derart komplexe Einschätzung handelt und eine gerichtliche Überprüfung an ihre Funktionsgrenzen stoßen würde (BVerfGE 84, 34 ff., 59 ff.). Dies ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 27 SGB VIII nicht der Fall. Zudem würde es dem Sinn des Verfahrens nach § 36 SGB VIII, den Beteiligten möglichst umfangreiche Rechte einzuräumen, zuwiderlaufen, ihnen unter Berufung auf eben diese Verfahrensvorschriften den effektiven Rechtsschutz zu verkürzen. Das bedeutet im Ergebnis, dass auch bei den Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII nicht von einem Beurteilungsspielraum des JA ausgegangen werden kann, sondern dessen Auslegung von den VG voll überprüft wird (s. III-3.3.4.1; ausführlich Münder et al. 2013b, § 27 Rz. 56 f.; a. A. OVG NW 11.10.2013 – 12 A 1590 – JAmt 2014, 90).
Die Überprüfung bezieht sich sowohl auf den erzieherischen Bedarf als auch auf die geeignete und erforderliche Hilfe. Das Gleiche gilt für die Definition und Feststellung der Kindeswohlgefahr, z. B. im Hinblick auf die Interventionen nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII oder die Voraussetzungen und damit Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. Etwas anderes ist die dem JA in § 8a Abs. 1 S. 3 SGB VIII ausdrücklich zugewiesene Einschätzungsbefugnis (Beurteilungsspielraum), ob es bei Vorliegen einer kindeswohlgefährdenden Situation erforderlich ist, das FamG anzurufen. Aufgrund der Überlegenheit des dialogischen Prozesses unter Einbeziehung insb. der Eltern für einen nachhaltigen Schutz von Kindern hat der Gesetzgeber es den Fachkräften (§ 72 SGB VIII) des JA übertragen, zunächst mit ihren Mitteln die Bereitschaft und / oder Fähigkeit der Eltern zur Abwendung der kindeswohlgefährdenden Situation zu wecken und zu fördern. Nur wenn dies nicht ausreicht, das JA keinen Zugang zu den Eltern gewinnen kann, diese keine Bereitschaft oder Fähigkeit zur Mitwirkung erkennen lassen und sämtliche geeigneten und erforderlichen Angebote ablehnen, so dass die kindeswohlgefährdende Situation des Kindes nicht abgewendet werden kann, muss das JA das FamG anrufen, damit dieses die ggf. notwendigen personenrechtlichen Entscheidungen treffen kann. Diese Klarstellung ist wegen der den Mitarbeitern des JA drohenden zivil- wie strafrechtlichen Haftung (vgl. I-4 u. IV-2.2.2) bei einer fehlerhaften Einschätzung erforderlich. Im Übrigen ist zu beachten, dass es sich bei der Anrufung des FamG wie auch bei den sonstigen Stellungnahmen des JA im Rahmen seiner Mitwirkung im gerichtlichen Verfahren nicht um einen Antrag (z. B. auf Entzug der elterlichen Sorge oder auf Verhängung einer Maßnahme) oder um eine selbstständig anfechtbare Entscheidung (Verwaltungsakt; hierzu III-1.3.1) handelt (s. III-3.2.2). Diese nimmt erst das FamG aufgrund einer von ihm selbst vorgenommenen Prüfung der Voraussetzungen, z. B. des § 1666 BGB, vor. Die uneingeschränkte Überprüfung der (ggf. fehlerhaften) Auslegung des JA findet aber im Rahmen der verwaltungsinternen Kontrolle durch Vorgesetzte bzw. übergeordnete Verwaltungsinstanzen (z. B. im Rahmen des Widerspruchverfahrens, s. u. 5.2.1) statt (BVerwG DVBI 1979, 424 ff.; DÖV 1979, 791 ff.).
3.4 Rechtsfolgenentscheidung
3.4.1 Gebundene Verwaltung und Ermessensspielräume
gebundene Verwaltung
Sind die Voraussetzungen der Rechtsnorm auf der Tatbestandsseite erfüllt („Wenn …“), so sehen sog. vollständige Rechtsnormen eine Rechtsfolge („dann …“) vor. In manchen Fällen wird der Verwaltung die Rechtsfolge konkret vorgeschrieben. In diesen Fällen spricht man von gebundener Verwaltung:






