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■ es ergibt sich aus §§ 62, 66 EStG, dass Eltern Anspruch auf Kindergeld in Höhe von 184 € monatlich für ihr erstes Kind haben;
■ aus § 27 Abs. 1 SGB VIII folgt, dass Personensorgeberechtigte einen Anspruch auf die geeignete und erforderliche Erziehungshilfe haben;
■ nach § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII ist das JA zur Inobhutnahme verpflichtet;
■ nach § 19 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, wenn …
Man spricht in diesen Fällen davon, dass der Bürger ein subjektiv-öffentliches Recht, d. h. einen Anspruch gegen den öffentlichen Träger auf die begehrte Leistung hat. Wenn die im Tatbestand genannten Leistungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen, muss die Leistung in diesen Fällen gewährt werden. Ein Fall gebundener Verwaltungsentscheidung liegt aber auch in den Fällen vor, in denen die Behörden eine Maßnahme ggf. auch zulasten des Bürgers ergreifen müssen, z. B. muss die Führerscheinbehörde im Fall des § 4 Abs. 1 StVG die Fahrerlaubnis entziehen. Nach § 87 Abs. 1 SGB XII ist der Einsatz eigenen, über der Einkommensgrenze liegenden Einkommens im angemessenen Umfang zuzumuten.
Muss-Regelung
Im Hinblick auf den Grad der Verwaltungsbindung unterscheidet man zwischen „Muss“- und „Soll“-Bestimmungen. Bei „Muss-Bestimmungen“ hat die Verwaltung keinen Entscheidungsspielraum, die angegebene Rechtsfolge ist zwingend. Dieser Verpflichtungsgrad ergibt sich aus den Formulierungen der Rechtsnorm, wie „die Behörde muss …“, „es ist zu …“, „hat zu erfolgen“, „darf nicht“. Auch die Formulierung, dass jemand „einen Anspruch auf“ ein bestimmtes Handeln hat, ist ein Fall der zwingend-gebundenen Verwaltung. Beispiele für „Muss“-Bestimmungen: §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1, 24 Abs. 1 – 3, 27 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 SGB VIII; §§ 11 Abs. 5 S. 1, 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII.
Soll-Regelung
Bei „Soll-Bestimmungen“ (Formulierungen wie „die Behörde soll …“, „hat in der Regel“, „grds. ist“) ist die Verwaltung im Regelfall an die vorgesehene Rechtsfolge gebunden (z. B. §§ 5 Abs. 2 S. 1, 16 Abs. 1, 19 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 SGB VIII; §§ 9 Abs. 2, 12 S. 1, 15 Abs. 1 SGB XII).Abweichungen sind nur im Ausnahmefall zulässig, d. h. bei Vorliegen besonderer atypischer Umstände. Diese atypischen Umstände müssen sich auf den Zweck der Regelung beziehen. Ausgeschlossen sind hier finanzielle Überlegungen, insb. ist die Finanzknappheit der Haushalte kommunaler oder sonstiger Sozialleistungsträger kein atypischer Grund, der einem Leistungsanspruch entgegenstehen könnte.
Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen nach § 40 SGB I, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Nach § 38 SGB I besteht auf Sozialleistungen ein Anspruch, soweit nicht nach den besonderen Teilen des SGB die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über die Leistung nach ihrem Ermessen zu handeln.
Ermessen
Der Gesetzgeber kann die Verwaltung – anstatt ihr zwingend eine Rechtsfolge vorzuschreiben – auch ermächtigen (berechtigen und verpflichten), bei Erfüllung des Tatbestands innerhalb eines gewissen Handlungsspielraums die zweckmäßigste Regelung zu treffen. Diesen Entscheidungsspielraum nennt man Ermessen, das entsprechende Behördenhandeln Ermessensverwaltung. Der Grund für die Einräumung solcher Handlungsspielräume ist, dass der Gesetzgeber angesichts der Kompliziertheit und Unvorhersehbarkeit der Lebensverhältnisse nicht alle erforderlichen und angemessenen Rechtsfolgen vorherbestimmen kann und daher der Verwaltung die Möglichkeit einräumt, innerhalb bestimmter Grenzen flexibel auf die konkrete Situation zu reagieren. Zu unterscheiden ist dieses Verwaltungsermessen von den (politischen) Entscheidungsspielräumen der Exekutive beim Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen.
Das Ermessen kann sich darauf beziehen, ob die Verwaltung überhaupt tätig werden soll (Entschließungsermessen), oder auch darauf, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen sie ergreifen und wer Adressat einer Verfügung sein soll (Auswahlermessen hinsichtlich des Mittels und des Adressaten). Rücknahme und Widerruf eines Verwaltungsaktes nach §§ 45 Abs. 1, 46 SGB X sind Fälle reinen Entschließungsermessens; bei der Festsetzung von Gebühren handelt es sich häufig um Auswahlermessen hinsichtlich der Höhe des Betrages innerhalb des gesetzlich vorgesehenen Rahmens; die Erteilung von Auflagen, z. B. im Hinblick auf eine Betriebserlaubnis (§ 45 Abs. 2 SGB VIII), ist ein Fall der Ausübung von Entschließungsermessen und gleichzeitig von Auswahlermessen hinsichtlich der konkreten Auflagen.
Das der Verwaltung eingeräumte Ermessen betrifft immer nur die Rechtsfolge einer Rechtsnorm und ist daher stets nur Rechtsfolgeermessen (sog. volitives Ermessen); es kann und darf sich nie auf die Tatbestandsseite der Vorschrift beziehen. Ein Ermessen auf der Tatbestandsseite (sog. kognitives Ermessen) würde die verfassungsrechtlich gebotene Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes zerstören. Vom Ermessen zu unterscheiden ist der äußerst selten eingeräumte Beurteilungsspielraum der Verwaltung im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. 3.3.3 sowie Übersicht 14). Rechtsmethodisch folgt daraus, dass bei der Anwendung einer Vorschrift das Ermessen erst dann ausgeübt werden darf, wenn alle Tatbestandsmerkmale der betreffenden Vorschrift geprüft und bejaht worden sind. Es ist z. B. falsch, bei der Anwendung von § 42 SGB VIII zu prüfen, ob die Unterbringung eines Kindes in einer Einrichtung unverhältnismäßig ist, bevor man nicht festgestellt hat, ob überhaupt ein Rechtsgrund für eine solche Schutzmaßnahme (z. B. Gefahr für das Wohl des Kindes) vorliegt.
Kann-Bestimmung
Ob der Verwaltung Ermessen eingeräumt ist, kann man an den Formulierungen auf der Rechtsfolgenseite der Norm erkennen. Nicht immer wird der Begriff „Ermessen“ gebraucht (so aber z. B. in § 2 Abs. 2 SGB I; § 74 Abs. 3 S. 1 SGB VIII; §§ 17 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 1 S. 2 SGB XII). Ausdrücke wie „die Behörde kann …“, „darf …“, „ist befugt …“ oder „ist ermächtigt …“ sind ebenso Anzeichen für die Einräumung von Ermessen. Das Gleiche gilt, wenn Maßnahmen für „zulässig“ erklärt werden. Man spricht hier auch von sog. Kann-Bestimmungen, Beispiele: §§ 15 Abs. 2, 16 Abs. 1 S. 2 SGBII; §§ 11 Abs. 5 S. 4, 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII; §§ 13 Abs. 3 S. 1, 19 Abs. 1 S. 3, 32 S. 2 SGB VIII.
Gelegentlich werden Muss- und Kann-Regelungen innerhalb einer Vorschrift kombiniert. So regelt z. B. § 21 SGB VIII den Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung und räumt der Verwaltung im Hinblick auf die Übernahme der Kosten der Unterbringung in einer geeigneten Wohnform ein Ermessen ein.
3.4.2 Die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung
Während bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe rechtsdogmatisch nur eine Definition maßgebend sein darf (s. 3.3.2) und es in den Fällen der gebundenen Verwaltung immer nur eine zulässige Entscheidung geben kann und dies von den Gerichten unbeschränkt geprüft wird, ist das in den Fällen der Ermessensverwaltung anders. Hier können grds. mehrere im Rahmen des Ermessensspielraumes liegende Handlungsalternativen rechtmäßig sein (z. B. bei einer Gebühr im gesetzlich vorgegebenen Rahmen von 100 € bis 500 € jeder innerhalb dieser Grenze liegende Betrag). Aus diesem Kreis der rechtmäßigen Alternativen hat die Verwaltung die im Einzelfall zweckmäßigste Rechtsfolge auszuwählen. Das Ermessen darf nicht beliebig, „frei“ und willkürlich ausgeübt werden. Vielmehr muss es stets pflichtgemäß vorgenommen werden; hierauf hat der Bürger einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I).
pflichtgemäßes Ermessen
Das bedeutet zunächst im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit, dass nicht die persönliche Meinung desjenigen, der die Norm anzuwenden hat, relevant ist, sondern es allein auf den gesetzlich mit der Rechtsnorm verfolgten Zweck ankommt (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB I, § 40 VwVfG). Wie dieser gesetzliche Zweck erfüllt werden kann, darf wiederum nicht von den individuellen Kompetenzen des Einzelnen abhängen, maßgebend sind die jeweiligen fachlichen Kriterien. Fachliche Standards (vgl. Jordan, ZfJ 2001, 48 ff.; Merchel 1998) sind deshalb nicht erst im Zusammenhang von Haftungsfragen (zur sog. Garantenstellung von Sozialarbeitern s. IV-2.2) zu entwickeln, sondern Orientierung und Richtschnur bei der alltäglichen Ermessensentscheidung (vgl. auch das sog. Fachkräfteprivileg, § 72 SGB VIII, § 6 Abs. 1 SGB XII).
Im Übrigen müssen bei Ermessensentscheidungen die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Grundsätze des Verwaltungshandelns auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen beachtet werden, im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Ermessensverwaltung insb. die Grundrechte, das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG (s. 2.1.2.4), das Verhältnismäßigkeitsprinzip (s. 2.1.2.2) und das Gebot der sachgerechten Abwägung widerstreitender Interessen. Die Pflichtgebundenheit der Ermessensausübung kommt als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungshandelns ausdrücklich in § 39 SGB I, § 40 VwVfG zum Ausdruck, nach denen die Behörden nicht nur verpflichtet sind, das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung auszuüben, sondern auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Im Rahmen der Rechtskontrolle überprüfen die Gerichte nur die Einhaltung dieser Schranken (vgl. § 114 VwGO). Man unterscheidet rechtsmethodisch folgende Fehler, die zur Rechtswidrigkeit der Ermessensausübung führen:
Ermessensfehler
■ Ermessensüberschreitung: Die Ermessensentscheidung liegt nicht mehr innerhalb des gesetzlich eingeräumten Rahmens, die Grenzen des Ermessens sind überschritten.
Bsp.: Eine Verwaltung kann aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung eine Gebühr in Höhe von 30 € bis 60 € festsetzen, sie setzt aber 20 € oder 70 € fest. In beiden Fällen ist der Ermessensrahmen überschritten, einmal nach unten, einmal nach oben hin.
■ Ermessensmangel, auch Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung genannt: Hierbei findet eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Ausübung des Ermessens (überhaupt) nicht statt. Es mangelt an einer sachgemäßen Ermessensbetätigung.
Übersicht 14: Unbestimmter Rechtsbegriff, Beurteilungsspielraum und Ermessen
Die Begriffe „Ermessen“, „Beurteilungsspielraum“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“ werden häufig verwechselt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass diese Begriffe funktional zwei verschiedenen Gegensatzpaaren angehören. Zu unterscheiden sind:
■ das Gegensatzpaar „bestimmter / unbestimmter Rechtsbegriff“, dem auch die Fälle des Beurteilungsspielraums (als Sonderfälle des unbestimmten Rechtsbegriffs) zuzurechnen sind,
■ das Gegensatzpaar „gebundene Verwaltung / Ermessensverwaltung“.
Bei unbestimmten Rechtsbegriffen stellt sich die Frage nach Inhalt und Grenzen einzelner Tatbestandselemente, die durch Auslegung näher bestimmt werden müssen. Das Ermessen betrifft die Frage, ob die Verwaltung bei Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes im Hinblick auf die Rechtsfolge einen gewissen, gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren Handlungsspielraum hat.
Unbestimmter RechtsbegriffErmessen1. findet sich in fast allen Vorschriften des Öffentlichen und privaten Rechts;wird i.d.R. nur der öffentlichen Verwaltung eingeräumt; der Begriff wird i.d.R. nicht bei Privatpersonen verwendet (Ausnahme: §§ 315, 317 BGB), diese können im Rahmen der Gesetze frei entscheiden;2. findet sich häufig auf der Tatbestandsseite einer Rechtsnorm, kann aber ggf. auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen;findet sich nur auf der Rechtsfolgenseite; Ermessen auf der Tatbestandsseite wäre mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar (Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes);3. ist erkennbar an Formulierungen mit nicht eindeutigem Inhalt (z.B. Angemessenheit, erforderlich, Zuverlässigkeit, Gemeinwohl, Sicherheit und Ordnung, Gefahr);ist erkennbar an Formulierungen wie „kann“, „darf“, „ist befugt“ (sog. „Kann-Bestimmungen“ im Unterschied zu „Soll- und Muss-Bestimmungen“ bei den Fällen der gebundenen Verwaltung);4. Unbestimmte Rechtsbegriffe erlauben nur eine richtige (rechtmäßige) Auslegung, die der uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung unterliegt; wichtig: Begründung!Ausnahme sind jedoch die unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum (grundsätzlich nur bei Prüfungsentscheidungen, Beamtenbeurteilungen und wertenden Entscheidungen pluralistischer Gremien), die nur einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung auf bestimmte Beurteilungsfehler unterliegen (insbesondere wenn von falschen Tatsachen ausgegangen wurde, sachfremde Erwägungen maßgebend waren oder wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes).Die Ermessenseinräumung erlaubt grundsätzlich (unter Beachtung des Gleichheits-, Sozialstaatsund Verhältnismäßigkeitsgebot) mehrere rechtmäßige Handlungsalternativen; wobei die Verwaltung die zweckmäßigste auszuwählen hat. Die Ausübung des Ermessens durch die Verwaltung unterliegt nur der eingeschränkten richterlichen Nachprüfung (§ 114 VwGO) auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensnichtgebrauch, Ermessensmissbrauch), wohl aber der vollständigen Überprüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit durch übergeordnete Verwaltungsinstanzen (deshalb auch hier wichtig: Begründung!).5. Soweit überhaupt ein Beurteilungsspielraum anerkannt wird, ist dieser sehr eng, wenn besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) betroffen sind.Sog. „Ermessensschrumpfung“ (-reduzierung) auf Null liegt vor, wenn im Einzelfall im Hinblick auf besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) nur eine einzige Entscheidung als rechtmäßig angesehen werden kann.Bsp.: Ein Beamter wägt bei dem oben gegebenen Ermessensspielraum (30 € bis 60 €) entweder überhaupt nicht oder nur teilweise ab, weil er (ggf. aufgrund einer Verwaltungsvorschrift) fälschlicherweise meint, nur Gebühren in Höhe von 45 € auferlegen zu dürfen. Hier fehlt es an einer den Ermessensspielraum ausschöpfenden Pro- und Contra-Abwägung.
■ Ermessensmissbrauch, auch als Ermessensfehlgebrauch bezeichnet, der insb. dann gegeben ist, wenn die Behörde von dem Ermessen nicht in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht oder sonstige rechtsstaatliche Grundsätze bei der Ermessensausübung missachtet hat, z. B. sachwidrige Kriterien angewendet hat.
Bsp.: Der Beamte ermäßigt die festzulegende Gebühr um die Hälfte, weil der Betroffene Angehöriger der Regierungspartei, ein Verwandter oder Freund ist oder weil er selbst an dem Tag einfach gut gelaunt ist. Der Ermessensmissbrauch umfasst alle Fälle, in denen sachfremde, d. h. normativ irrelevante Gesichtspunkte (vgl. insb. Art. 3 Abs. 3 GG) in die Ermessensentscheidung einfließen.
Begründungspflicht
Damit der Bürger als Adressat einer Verwaltungsentscheidung überprüfen kann, wie das Ermessen ausgeübt worden ist und ob die Grenzen der Ermessensbetätigung eingehalten worden sind, verpflichten § 35 Abs.1 SGB X/§ 39 Abs. 1 VwVfG die Verwaltung im Hinblick auf Ermessensentscheidungen ausdrücklich dazu, im Rahmen der ohnehin notwendigen Begründung eines (schriftlichen) Verwaltungsaktes die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte und damit die vorgenommene Abwägung transparent darzulegen.
Ermessensschrumpfung
Vom Grundsatz, dass im Rahmen der Ermessensbetätigung mehrere rechtmäßige Alternativen möglich sind, gibt es eine Ausnahme. In besonderen Fällen kann der Ermessensspielraum der Behörde derart schrumpfen, dass nur noch eine Handlungsalternative infrage kommt. Man spricht in diesem Fall von einer „Ermessensschrumpfung auf Null“. Ein solcher Fall liegt insb. bei einer erheblichen Gefährdung wesentlicher Rechtsgüter, vor allem Leben und Gesundheit, vor.

Nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist das JA bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Minderjährigen zu einer Inobhutnahme des Minderjährigen (s. III-3.4.1) verpflichtet. Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nach § 42 Abs. 5 SGB VIII (nur) zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Kann aber die Lebensgefahr nicht anders als durch den vorläufigen Freiheitsentzug abgewendet werden, dann muss dieser vorgenommen werden. Ist die Jugendhilfe allerdings in der Lage, für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen auch in diesen außergewöhnlichen, extremen Situationen, ohne Einschließen durch „offene“ Angebote, z. B. durch eine (personal)intensive, sozialpädagogische Einzelbetreuung („Menschen statt Mauern“) zu sorgen, dann ist die geschlossene Unterbringung auch nicht erforderlich und damit unzulässig. Das JA hat differenziert und substantiiert zu begründen, warum Alternativen zur geschlossenen Unterbringung nicht ausreichen, nicht vorliegen oder geschaffen werden können.
gerichtliche Kontrolle
Von der Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung ist deren Zweckmäßig- bzw. -widrigkeit zu unterscheiden. Während die Sozial- und Verwaltungsgerichte nach § 54 Abs. 2 SGG/§ 114 VwGO nur die Einhaltung der Ermessensschranken nachprüfen, sind sie nicht zur Überprüfung befugt, ob die getroffene Ermessensentscheidung unter den gegebenen, rechtlich zulässigen Handlungsalternativen auch die zweckmäßigste war. Zur uneingeschränkten Überprüfung auch der Zweckmäßigkeit einer Entscheidung sind vielmehr die übergeordneten Verwaltungsinstanzen berufen, aufgrund ihres Aufsichts- und Weisungsrechts insb. im Rahmen eines Widerspruchverfahrens (vgl. § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO: Recht- und Zweckmäßigkeit; vgl. 5.2.1).
3.5 Rechtsanwendung zwischen Logik und Interessenabwägung
Nach der vor allem im 19. Jahrhundert praktizierten, von ihren Gegnern abwertend als Begriffsjurisprudenz bezeichneten Rechtsdogmatik war man der Überzeugung, dass man jeden Fall rein begrifflich-logisch lösen könne. Die Jurisprudenz wurde überhöht gar als „Mathematik des Rechts“ (Rudolf v. Ihring 1865) bezeichnet. Wenn allerdings eine Auslegung nicht nur streng systematisch, sondern auch nach dem Sinn und Zweck der Norm vorgenommen wird, kann das Auslegungsergebnis nicht zwingend-logisch, sondern muss notwendig intentional und interessengerichtet sein. Auch die Analogie und der Umkehrschluss sind als gedankliche Schlüsse nicht zwingend-logisch, sondern nur mit Blick auf den Sinn und Zweck der Rechtsnormen verständlich zu machen. Im Rahmen der Abwägung geht es deshalb nicht nur um rein begrifflich-logische Ableitungen (Deduktionen) und Verknüpfungen, sondern gleichzeitig um wertende Entscheidungen (sog. Wertungsjurisprudenz). Das ist freilich wieder das Einfallstor für Sitte, Moral und Ideologien sowie partikulare Interessen (deshalb spricht man auch von Interessenjurisprudenz). Die sog. Freirechtsschule löste sich nahezu völlig von dem begrifflich-rechtssystematischen Denken und wollte die Rechtsfindung dem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden des einzelnen Richters überlassen. Freilich verliert damit das Recht seine überindividuelle, gesellschaftliche Orientierungsfunktion und öffnet der Willkür Tür und Tor. „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“, eine bissige Kritik, die der Jurist Johann Wolfgang von Goethe in „Zahme Xenien II“ an die Adresse seiner Zunft richtete. Die Rechtsgeschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, welche schlimmen Interpretationen Rechtsbegriffen untergeschoben wurden und wie grobes Unrecht als Recht „im Namen des Volkes“ verkündet wurde. In der deutschen Rechtsdogmatik der Gegenwart hat die Freirechtsschule deshalb keinen Widerhall mehr, während im Case-Law-Rechtssystem angelsächsischer Prägung der einzelne Richter weitaus größere Interpretationsspielräume besitzt. Andererseits hat man erkannt, dass Rechtsbegriffe nur vermeintlich logisch-deduktiv zu klären sind, Rechtsnormen vielmehr die Aufgabe haben, typische Konflikt- und Interessenlagen zu regeln und deshalb innerhalb der Rechtsordnung einen spezifischen Zweck erfüllen sollen. Die Interessenjurisprudenz heutiger Prägung lehnt deshalb ein reines, die konkreten Folgen ignorierendes Operieren mit Begrifflichkeiten ab, ohne aber auf systematisch-logische Überlegungen völlig zu verzichten. Auch bei der Gesetzesanwendung sind die in der Rechtsnorm offenbar werdenden Interessen und Folgen zu berücksichtigen. Wenn man Recht nicht nur abstrakt versteht, sondern seine soziale Funktion erkennt, wird man dies offenlegen und damit umgehen (lernen) müssen. Um den Einfluss von Willkür so gering wie möglich zu halten und für die Bürger ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu garantieren, ist es von entscheidender Bedeutung, dass bei der Anwendung von Rechtsnormen die grundlegenden Wertentscheidungen der Verfassung, des Grundgesetzes, berücksichtigt werden, hinter die keine Auslegung zurückfallen darf.
Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung sind also keine „exakten“ oder gar „objektiven“ Wissenschaften oder Methoden. Freilich gilt das auch für andere Fachrichtungen, Objektivität ist stets vermeintlich und selbst in der Mathematik und Physik hat man von dieser Vorstellung zugunsten einer subjektiv-konstruktivistischen Betrachtungsweise Abstand genommen. Rechtsdogmatik, die „Kunst“ und Lehre der Anwendung des geltenden Rechts, insb. im Umgang mit den Rechtsbegriffen, muss aber zumindest auf intersubjektiv überprüfbaren Kriterien basieren. Rechtsanwendung benötigt – wie jede andere Fachdisziplin – spezifische „Regeln der Kunst“ und fachliche Standards, Grundsätze für den Umgang mit Rechtsbegriffen und letztlich die entsprechende Fertigkeit, diese anzuwenden. So ist z. B. bei der Auslegung zu beachten, dass sie auch im Rahmen der Fallprüfung abstrakt erfolgen muss, d. h. unabhängig vom jeweiligen Sachverhalt (unabhängig z. B. von den handelnden Personen, auf die die Rechtsnorm angewandt werden soll), da ansonsten der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt werden würde. Das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es, dass der Normadressat im Vorfeld weiß, was von ihm erwartet wird. Verhaltensgebote müssen deshalb klar und berechenbar sein. Das Rechtsstaatsgebot verlangt, dass (zumindest rechtsdogmatisch) am Ende nur ein Auslegungsergebnis rechtlich relevant, insofern also nur eines „richtig“ sein kann. Dieser Widerspruch ist letztlich nur durch ein transparentes Kontrollverfahren aufzulösen. Im Rechtsstaat wird deshalb Legitimation vor allem durch das gewählte Verfahren, also durch ein Set von Regeln, wie man zu einem Ergebnis kommt, hergestellt (vgl. Luhmann 2006). Dies gilt für die Genese der Rechtsnormen und die Anwendung der Gesetze ebenso wie für die Rechtskontrolle. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Kontrolle über die richtige Anwendung der Rechtsnormen den Gerichten übertragen. Zwar gibt es auch verwaltungsinterne Kontrollmechanismen (hierzu 5.2.1), letztlich unterliegt aber die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Sozialverwaltung in aller Regel der vollen richterlichen Überprüfung. Hier gibt es – anders als bei manchen Rechtsfolgeentscheidungen („Ermessen“) – grds. keinen Interpretationsspielraum der Exekutive.
Freilich haben auch Richter ihre Vorverständnisse, sie sind zwar institutionellrechtlich unabhängig (Art. 97 Abs. 1 GG), als Menschen allerdings beeinflussbar. Aufgrund unterschiedlicher Vorverständnisse wird der eine eher einer „konservativ-restriktiven“, der andere eher einer „progressiv-weiten“ Auslegung folgen. Das lässt sich weder verhindern noch ist es besonders schlimm, wenn wenigstens das Verfahren transparent ist und einer öffentlichen Kontrolle unterliegt. Dabei spielen nicht nur die Gerichte eine Rolle, sondern auch die wissenschaftliche Diskussion, die sich in der Fachliteratur, in Kommentaren und Aufsätzen und anderen Fachforen artikuliert und die auf die Rechtsprechung Einfluss nimmt.
herrschende Meinung
In dieser oft heftigen Diskussion bilden sich die Meinungen über die Anwendung der Rechtsnormen heraus, es bilden sich Mehrheits- oder „herrschende“ Meinungen (sog. h. M., gelegentlich als „Meinung der Herrschenden“ diskreditiert) und andere Ansichten (a. A.). Von entscheidender Bedeutung ist neben der höchstrichterlichen Rechtsprechung die im Rahmen der Auslegung gelieferte Begründung. Grds. müssen Gerichtsentscheidungen (§ 38 Abs. 3 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 6 u.Abs. 3 ZPO, § 54 JGG, § 267 StPO, § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) und hoheitliche Entscheidungen der Behörden (§ 35 SGB X) begründet werden. Hierbei sind vor allem die tragenden Argumente schlüssig und nachvollziehbar darzulegen. Ungeachtet aller Hierarchien und Machtungleichgewichte sollte deshalb die Kraft des Wortes, des überzeugend stringenten und „vernünftigen“ Arguments nicht unterschätzt und das Ausdiskutieren, die Debatte strittiger Themen zumindest während des Studiums geübt werden.






