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3.6 Subsumtion und Stufen der Rechtskonkretisierung
Im Alltag neigt man im Rahmen von Problemlösungen häufig dazu, dem Verlauf der tatsächlichen Geschehnisse folgend chronologisch vorzugehen. Klärungsprozesse in der Sozialen Arbeit beruhen zumeist auf einem zirkulär-prozesshaften Denken. Aus juristischer Sicht hat dies den Nachteil, dass man sich schnell in den Einzelheiten einer Fallgestaltung verliert, sich (häufig zu Recht, aber im Hinblick auf die Fallfrage nicht zielführend) über die Geschehnisse empört und die gestellte Aufgabe, die Lösung der Fallfrage, aus dem Auge verliert. Dieses auf die Fallfrage beschränkte Denken in binären Strukturen (etwas ist gegeben oder nicht gegeben) wird Juristen gelegentlich als Schwarz-Weiß-Denken vorgeworfen, welches die vielfältig grauen oder bunten Schattierungen des Lebens nicht abbilden könne (instruktiv sind die „Empfehlungen für Sozialarbeiter im Umgang mit Strafjuristen“ von Ed Watzke (1997, 79 ff.), die allerdings nur diejenigen gewinnbringend lesen, die auch seine „Empfehlungen für Strafjuristen im Umgang mit Sozialarbeitern“ ertragen). Dieser Vorwurf trifft freilich nur dann zu, wenn die spezifische juristische Arbeitsmethodik verwechselt wird mit der der rechtlichen Bewertung vorausgehenden (eingeschränkten) Wahrnehmung der sozialen und gesellschaftlichen Realitäten. Unterscheiden muss man zudem zwischen Rechtsdogmatik als der Anwendung des geltenden Rechts und Rechtspolitik im Sinne rechtsverändernder Aktivitäten.
Im Unterschied zur sozialpädagogisch-chronologischen Vorgehensweise ist für die juristische Arbeitsmethodik eine systematische Bearbeitung der Fragestellungen kennzeichnend, die nicht von den tatsächlichen Geschehnissen, sondern von den normativen Verhaltensanweisungen, also von Rechtsnormen ausgeht. Die konkrete Anwendung des geltenden Gesetzes auf einen Einzelfall nennt man Subsumtion. Bei diesem Denkvorgang handelt es sich um einen juristischen Syllogismus, der sich in den drei Stufen „Obersatz-Untersatz-Schlussfolgerung“ deduktiv (d. h. vom Allgemeinen zum Besonderen) vollzieht, wobei Ober- und Untersatz durch denselben Mittelbegriff verknüpft sind. Die abstrakt-generelle Regelung, die Rechtsnorm, stellt insoweit den Obersatz dar (z. B. § 212 StGB: „Wer einen anderen Menschen – ohne Rechtfertigung und schuldhaft – tötet, wird als Totschläger bestraft“). Der Untersatz beschreibt den konkreten Einzelfall (z. B. „A ersticht den B, ohne dass er von diesem angegriffen wurde.“). Es werden sodann die Elemente des Sachverhalts mit denen der Rechtsnorm verglichen. Durch die Verknüpfung von Ober- und Untersatz („B ist ein Mensch. Diesen hat der A wissentlich und willentlich (= vorsätzlich) und ohne Notwehr oder eine sonstige Rechtfertigung getötet. Anzeichen, dass A. nicht voll schuldfähig ist, liegen nicht vor.“) kann der Rechtsanwender daraufhin eine Schlussfolgerung ziehen (hier: A hat den B vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft getötet, damit einen Totschlag begangen − also wird A wegen Totschlags bestraft). Unter Subsumtion versteht man also die Prüfung, ob die Tatbestandselemente der abstrakten Rechtsnorm („Obersatz“) durch die einzelnen Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) erfüllt werden und welche Rechtsfolge infolgedessen gegeben ist („Schlussfolgerung“).
Lange Zeit hat die Jurisprudenz versucht, zu suggerieren, Rechtsdogmatik sei nichts anderes als eine wissenschaftliche Anwendung der Regeln der Logik, deren dreistufiger Aufbau auch im Rahmen der Rechtsanwendung gepflegt wurde. Mit Blick auf die Wenn-dann-Relation von Rechtsnormen und die Verknüpfung von Tatbestandsmerkmalen einer oder mehrerer Normen kann man bei der Rechtsanwendung durchaus von einer systematisch-methodischen Vorgehensweise sprechen. Versteht man Recht und seine Genese freilich als Instrument des Interessensstreits und -ausgleichs (vgl. 1.1.2), so kann auch die Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall davon nicht unberührt sein (s. 3.5). Auch bei der Würdigung des Sachverhalts wirken sich Sichtweisen und Vorverständnisse aus; insb. im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geht es nicht nur um logisch-systematische Überlegungen, sondern um wertende Entscheidungen, die allerdings der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Subsumtion ist also die spezifisch rechtsmethodische Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Lebenssachverhalt, die zwar in Anlehnung an die Begriffe der Logik durch eine sprachlich genaue und systematisch-strukturierte Arbeitsweise, dessen ungeachtet aber durch eine Interessen abwägende, wertende Ergebnisorientierung gekennzeichnet ist.
Voraussetzung für die Rechtsanwendung ist, dass der Lebenssachverhalt feststeht und nicht erst noch untersucht werden muss oder Behauptungen be- und nachgewiesen werden müssen. Hier ist es von Bedeutung, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht objektiv, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten ist (vgl. Maturana/Varela 1987). Wird dies ignoriert, helfen weder zirkuläres Denken noch binäre Entscheidungsstrukturen, um zu angemessenen Ergebnissen und Entscheidungen zu kommen.
Suchen und Finden der Rechtsgrundlage
Da nach dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts Eingriffe in die Rechtsposition des Bürgers nur zulässig sind und Ansprüche auf Sozialleistungen nur bestehen (§ 31 SGB I), wenn ein Gesetz den Eingriff legitimiert bzw. das Gesetz die Erbringung der Leistung vorsieht (s. 2.1.2.1), muss man zuerst eine „einschlägige“ Rechtsnorm finden, deren Rechtsfolge die gewünschte Entscheidung legitimiert. Entsprechendes gilt im Hinblick auf einen privatrechtlichen Konflikt. Auch hier muss zunächst eine Anspruchsgrundlage gefunden werden. Da man sich während seines Studiums nicht in alle Rechtsmaterien einarbeiten (und diese auswendig lernen) kann, in denen die Klienten möglicherweise Beratungsbedarf haben, müssen Fachkräfte der psychosozialen Arbeit (wie alle anderen professionellen Rechtsanwender auch) die Bereitschaft und Fähigkeit haben, sich in neue, unbekannte Rechtsmaterien und Sachgebiete hineinzufinden. Dazu muss man wissen, welche Gesetzessammlungen es überhaupt gibt und wie man sich darin z. B. mithilfe des Inhaltsverzeichnisses oder Registers zurechtfinden kann. Man muss erkennen, wie ein Gesetz in seiner Struktur aufgebaut ist und worin der innere Zusammenhang der Rechtsnormen besteht. Weniger die inhaltlichen Details, vielmehr muss man wissen, „wo etwas steht“ bzw. wie man etwas findet und wie man damit umgeht.
Ausgangspunkt der juristischen Fallprüfung ist die Klärung der sog. vier W-Fragen: Wer will Was von Wem Woraus? Wenn der Bürger (insb. von der Sozialverwaltung) etwas will, geht es um die Suche einer entsprechenden Anspruchsnorm, wenn die Sozialverwaltung etwas (insb. vom Bürger) will, geht es um die Suche einer das Handeln legitimierenden Rechts- bzw. Anspruchsgrundlage.
Auslegung von Willenserklärung
Nicht immer sind die Willensäußerungen der Bürger eindeutig und den Gebrauch rechtlicher Fachbegriffe kann und darf man von ihnen nicht erwarten. Deshalb sind Erklärungen der handelnden Personen mitunter auszulegen. Anders als bei der Definition von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. 3.3.2) geht es hier bei der Auslegung um die Deutung des Inhalts von Willenserklärungen.

Ist z. B. der als „Eingabe“ bezeichnete Protest eines Bürgers als Widerspruch i. S. d. § 62 SGB X i. V. m. § 83 SGG/§ 68 VwGO zu werten? Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Dieser Grundsatz gilt über das Privatrecht hinaus. Im Sozialrecht ist eine Willenserklärung im Zweifel zugunsten des Bürgers auszulegen, im obigen Beispiel im Hinblick auf die „günstigeren“ Verfahrens- und Kostenregelungen als Widerspruch, sofern nur ersichtlich ist, dass der Bürger mit der Entscheidung nicht einverstanden und der Widerspruch überhaupt rechtlich zulässig ist.
Nachdem man eine im Hinblick auf die Rechtsfolge geeignete Rechtsgrundlage herausgesucht hat, beginnt man mit der Prüfung der Tatbestandsseite der Vorschrift. Am Anfang steht die Identifizierung und Definition der einzelnen Tatbestandsmerkmale; hierbei müssen die Grenzen unbestimmter Rechtsbegriffe ggf. durch Auslegung bestimmt werden.
Am Maßstab der so gewonnenen Definition der Tatbestandselemente sind dann die entsprechenden Umstände des Lebenssachverhaltes daraufhin zu prüfen, ob sie die einzelnen Begriffselemente und Bedingungen der Rechtsnorm erfüllen. Ist auch nur ein einziges Tatbestandselement nicht erfüllt, so greift die Rechtsfolge nicht ein, die Rechtsnorm ist auf diesen Sachverhalt nicht anwendbar. Am besten macht man es sich beim Lösen von Rechtsfällen zur Gewohnheit, nach dem Auffinden der einschlägigen Rechtsnorm zunächst Inhalt und Grenzen der einzelnen Tatbestandsmerkmale klar herauszuarbeiten, bevor man mit der Einordnung des Sachverhalts unter den Tatbestand – der Subsumtion im engeren Sinn – beginnt. Hierbei wird man feststellen, dass eine einzelne Rechtsnorm selten für die Beantwortung der Fallfrage ausreicht. Es müssen oft weitere Rechtsnormen herangezogen werden, die die Rechtsgrundlage ergänzen oder einen Anspruch konkretisieren, es müssen (insb. die vorhergehenden und nachfolgenden) Normen überprüft werden, die eine Ausnahme regeln oder einem Anspruch entgegenstehen (vgl. oben Definitions-, Verweisungs- oder Gegennormen). Hilfreich sind hierbei die sog. Aufbauschemata, die die relevanten Aspekte einer Fragestellung systematisch aufeinander beziehen (s. hierzu V-Anhang 4 ff.). Freilich dürfen diese Schemata nicht blind, sondern müssen durchdacht angewendet werden, damit nicht alle (auch die in einem konkreten Fall nicht relevanten) Aspekte stur abgearbeitet, sondern die Schwerpunkte im Fall angemessen gesetzt werden.
Sind alle Tatbestandsmerkmale erfüllt, so ist festzustellen, welche Konsequenz daraus folgt, also welche Rechtsfolge damit verbunden ist. In Fällen der gebundenen Entscheidung (s. 3.4.1) steht die Rechtsfolge mit der Erfüllung des Tatbestands fest. In den Fällen der Ermessensverwaltung sind die erforderlichen Erwägungen zur Ausübung des Ermessens (s. 3.4.2) anzustellen und zu begründen.
Bei der Anwendung der gängigen Bundes- und Landesgesetze (z. B. BGB, SGB, PsychKG, Schulgesetze) kann man in der Ausbildung davon ausgehen, dass diese ordnungsgemäß zustande gekommen und inhaltlich verfassungsgemäß sind. Wenn aber tatsächlich Anhaltspunkte für die Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit einer (abgeleiteten) Rechtsnorm vorliegen, sind diese am Maßstab höherrangigen Rechts zu überprüfen. Dies wird in aller Regel nur von (in der Ausbildung befindlichen) Juristen erwartet. Im Kollisionsfall geht das höherrangige Recht dem rangniedrigeren Recht vor, d. h. die rangniedrigere Norm ist nichtig, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstößt (z. B. Art. 31 GG). Bei Kollisionen gleichrangiger Vorschriften verdrängt das neuere Gesetz das ältere, die speziellere die allgemeine Norm.
Arbeitsschritte
Zusammenfassend beschrieben vollzieht sich der Vorgang der Subsumtion somit in folgenden fünf Schritten:
1. Aufsuchen der einschlägigen Anspruchsgrundlage oder Rechtsgrundlage im Hinblick auf die „gewünschte“ Rechtsfolge. Für die Beantwortung einer Rechtsfrage sind sämtliche einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten. Grds. ist mit der rangniedrigsten und speziellsten Rechtsnorm (nicht Verwaltungsvorschrift!) zu beginnen. Merke: Ein Verwaltungsakt oder die Ablehnung einer Leistung darf niemals nur mit Hinweis auf eine Verwaltungsvorschrift erlassen bzw. abgelehnt werden.
2. Zerlegung der einschlägigen Rechtsnorm in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, ggf. unter Heranziehung von Verweisungs- oder Gegennormen; Feststellung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen (x1, x2 …).
3. Definition / Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, ggf. unter Heranziehung von Definitionsnormen: x1 bedeutet …, x2 bedeutet … Hieraus gewinnt man die rechtsmethodisch „Obersatz“ genannte Entscheidungsgrundlage.
4. Feststellung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen: x1 ist erfüllt durch S1, x2 ist erfüllt durch S2 usw.
5. Feststellung der Rechtsfolge Rn; bei Ermessensverwaltung Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessens (Zweckmäßigkeitsüberlegungen) hinsichtlich der Wahl des Mittels und der Wahl des Adressaten. Für und gegen R1 spricht, für und gegen R2 spricht, nach Abwägung aller dafür und dagegen sprechenden Umstände … folgt Entscheidung Rn.

Wesel 2014

1. Auf welche Weise sind fachlich-sozialpädagogisches Arbeiten und juristisches Denken miteinander verwoben? (3.1)
2. Was ist eine „vollständige“«, was eine „unvollständige“ Rechtsnorm? (3.2.1)
3. Welche Formen der Auslegung gibt es? Beschreiben Sie kurz die wesentlichen Merkmale dieser Auslegungsmethoden. Was muss im Rahmen der Auslegung beachtet werden? (3.3.2)
4. Verfügt die Soziale Arbeit im Hinblick auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe über einen Beurteilungsspielraum? (3.3.3)
5. Wie erkennt man, ob einer Behörde ein Ermessen zusteht? (3.4.1)
6. In welchen Fällen spricht man von und was versteht man unter gebundener Verwaltung? (3.4.1)
7. Was ist bei der Ermessensausübung zu beachten? (3.4.1 und 3.4.2)
8. Welche Konsequenzen hat ein Ermessensfehler? (3.4.2)
9. Was bedeutet „Ermessensschrumpfung auf Null“? (3.4.2)
10. Beschreiben Sie die wesentlichen Schritte im Rahmen der Subsumtion. (3.6)
4 Rechtsverwirklichung (Trenczek)
4.1 Rechtsverwirklichung durch Verwaltungshandeln
4.1.1 Formen des Verwaltungshandelns
4.1.1.1 Hoheitliches und fiskalisches Verwaltungshandeln
4.1.1.2 Tatsächliches und regelndes Verwaltungshandeln
4.1.1.3 Einseitiges und konsensuales Verwaltungshandeln
4.1.2 Träger der Sozialen Arbeit
4.1.2.1 Öffentliche Träger der Sozialverwaltung
4.1.2.2 Privatrechtlich organisierte Träger
4.2 Rechtsberatung
sozialer Rechtsstaat
Definitionen Sozialer Arbeit gehen in der Regel von dem Begriff der Hilfe aus. Hilfe wurde und wird vielfach von einzelnen Menschen und karitativen oder religiösen Vereinigungen aus Gründen der Nächstenliebe geleistet. Im öffentlichen Bereich geht es aber nicht um die freundschaftliche, von Privatpersonen, Kirchengemeinden und Vereinigungen geleistete Unterstützung oder Fürsorge. Vielmehr ist Soziale Arbeit heute vielfach gesellschaftlich und staatlich organisierte Hilfe. Ein Wesensmerkmal der öffentlichen Hilfeleistung ist der wechselseitige Anspruch, zum einen des Einzelnen auf sozialstaatlich verbriefte Leistungen und zum anderen des Gemeinwesens auf soziale Integration. Deshalb bedarf es eines rechtsstaatlich organisierten Hilfesystems, um die asymmetrische Beziehung zwischen Hilfeleistendem und Hilfeempfänger auszugleichen. Diese beiden Pole spiegeln sich in der begrifflichen Verknüpfung „sozialer Rechtsstaat“ wider. Wesentlich ist nicht nur die generelle Zusicherung sozialstaatlicher Errungenschaften, sondern die Rechtsverwirklichung im konkreten Einzelfall. Diese erfolgt durch die öffentliche Sozialverwaltung (in Kooperation mit freien Trägern), insb.
■ durch die Gewährung und Erbringung von Sozialleistungen (s. III-1.1) und den Schutz derjenigen, die sich selbst nicht ausreichend schützen können, sowie
■ durch Information und Beratung, insb. Rechtsberatung.
In beiden Bereichen ist die öffentlich getragene Soziale Arbeit sehr stark durch ein normorientiertes Vorgehen gekennzeichnet (für freie Träger gelten die Regelungen des SGB nicht unmittelbar, s. Kap. III-1). Letztlich geht es insoweit immer auch um Rechtsverwirklichung, d. h. die konkrete Umsetzung der von der Verfassung und der Gesetzesordnung anerkannten Rechte. Nicht immer stehen aber rechtliche Fragen, sondern oft ökonomische, soziale und persönliche Bedürfnisse der Betroffenen im Vordergrund. Deshalb ist es wichtig, die hinter den Rechtspositionen stehenden Interessen der Parteien nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern sich bewusst und damit bearbeitbar zu machen. In Konflikten bedarf es deshalb auch der Klärungshilfe und Konfliktvermittlung (Mediation; hierzu I-6.3).
4.1 Rechtsverwirklichung durch Verwaltungshandeln
Sozialverwaltung
Soziale Arbeit betrifft nicht nur den Bereich der sog. offenen Hilfen und unmittelbaren Unterstützungsleistungen, sondern ist als gesellschaftlich organisierte Hilfe in ihren Voraussetzungen und ihrer Reichweite rechtlich geregelt (vgl. § 31 SGB I) und in einen entscheidungsbezogenen Prozess eingebunden. Die öffentliche Hilfegewährung äußert sich in einer Vielzahl der Fälle zunächst als Verwaltungsentscheidung. Öffentliche Hilfe tritt dem Bürger häufig in Form der Sozialverwaltung (z. B. im Jugend- oder Sozialamt) gegenüber. Unter Sozialverwaltung lassen sich im weiten Sinne alle Tätigkeiten (insb. Bereitstellung, Förderung und Unterhaltung) innerhalb organisatorischer Einheiten (Einrichtungen, Dienste, Veranstaltungen) fassen, durch die Information und Beratung angeboten sowie Sozialleistungen und Schutz gewährt werden und die damit der Verwirklichung sozialer Zusagen der Verfassung dienen.
Das Wort „walten“ stammt aus dem Germanischen und bedeutet so viel wie wirken, gebieten, herrschen. Die damit verbundenen Konnotationen (Kraft, Macht, Zwang) sind für ein modernes Verwaltungsverständnis hinderlich. Ein stärker an Dienstleistungen orientierter Sinngehalt liegt dem Wort Administration bei, welches vor allem im romanischen Sprachraum üblich ist. Mit „verwalten“ ist dann schon begrifflich weniger Zwang und Machtausübung verbunden, es bedeutet eher „für“ etwas oder jemanden walten (lat.: administrare, d. h. lenken, besorgen, ausführen). In inhaltlich-sachlicher Hinsicht wird mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip (s. I-2.1) die Verwaltung als Teil der Exekutive (neben der Regierung) von der Legislative (Gesetzgebung) und der Judikative (Rechtsprechung) abgegrenzt, ohne dass damit aber alle Aspekte der heutigen Verwaltung bestimmt wären. Auch wenn es sich bei der Verwaltungstätigkeit im Wesentlichen um Gesetzesvollzug handelt, ist zu beachten, dass die Verwaltung auch Aufgaben wahrnimmt, die streng inhaltlich zur Gesetzgebung (Erlass von Verordnungen und Satzungen) oder Rechtsprechung (Bußgeldbescheide) gehören, und andererseits auch die Gesetzgebung (z. B. Erlass des Haushaltsplanes) und die Rechtsprechung (z. B. Register, Grundbuch) verwaltend tätig werden.
Art. 20 Abs. 3 GG
Für die Verwaltung als Gesetzesvollzug gilt das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, der Bindung und Begrenzung der „hoheitlichen“ Gewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. I-2.1.2.1) in besonderer Weise. Auch Soziale Arbeit ist als Sozialverwaltung stets rechtsgebundenes Verwaltungshandeln und auch im Übrigen in ihren Voraussetzungen, fachlichen Standards und Grenzen weitgehend rechtlich geregelt und nicht vom guten Willen, dem „Ermessen“ oder der Willkür der einzelnen Sozialarbeiter abhängig.
Eingriffsverwaltung
Unterscheidet man Zweck und Wirkungen der Aufgabenbereiche, dann tritt die öffentliche Verwaltung dem Bürger einerseits mit Anordnungen, Ge- und Verboten sowie Zwang gegenüber, andererseits werden Leistungen gewährt. Unter Eingriffs- und Ordnungsverwaltung versteht man diejenige Verwaltungstätigkeit, die in die Freiheits- und / oder Vermögenssphäre des Bürgers einseitig und rechtsverbindlich eingreift. Dies kommt typischerweise vor bei (Fach-)Polizei- und Finanzbehörden, allerdings auch im Bereich der Sozialverwaltung, z. B. im Rahmen der Schutzgewährung durch Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII), Erteilung oder Entzugeiner Betriebserlaubnis (z. B. § 45 SGB VIII, § 13 NHeimG, § 19 HeimG) oder bei Kostenentscheidungen.
Leistungsverwaltung
Im Rahmen der Leistungsverwaltung werden Angebote gemacht, Leistungen gewährt und erbracht, um das Dasein des Einzelnen in der Gemeinschaft zu sichern und zu verbessern (z. B. Sozialhilfe; Erziehungshilfen der Jugendhilfe). In beiden Bereichen gilt nach § 31 SGB I der sog. Gesetzesvorbehalt (2.1.2.1), ebenso wie die anderen verfassungsrechtlichen Grundsätze (z. B. Willkürverbot und Verhältnismäßigkeitsgebot).
4.1.1 Formen des Verwaltungshandelns
Soweit der Gesetzesvollzug im Vordergrund steht, handelt es sich bei der Verwaltungstätigkeit ganz überwiegend um Einzelfallentscheidungen zur Ausführung der Rechtsnormen. Allerdings kann die Sozialverwaltung in ganz verschiedenen Formen handeln (s. Übersicht 15). Wichtig ist das Erkennen dieser Unterschiede vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Handlungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten im Konflikt.
4.1.1.1 Hoheitliches und fiskalisches Verwaltungshandeln
fiskalisches Verwaltungshandeln
Nicht immer handelt die Verwaltung öffentlich-rechtlich („hoheitlich“), sei es mit Verbot, Anordnung und Zwang bzw. der Gewährung und Durchführung von Leistungen oder der Bereitstellung von Einrichtungen, wie z. B. Schulgebäuden und Krankenhäusern. Nehmen die öffentlichen Träger wie eine Privatperson am Rechtsverkehr teil, entweder im Rahmen ihrer Beschaffungsgeschäfte (sie bestellen z. B. Möbel und Büromaterial, mieten Büroräume an) oder im Rahmen erwerbswirtschaftlicher Geschäfte (Kauf und Verkauf von Grundstücken; Vermietung kommunaler Einrichtungen), nennt man dies fiskalisches Handeln der Verwaltung. Hierbei kommen dann – wie bei jedermann – die Regelungen des Privatrechts zur Anwendung. Die Sozialverwaltung handelt dagegen „hoheitlich“, wenn sie die Interessen der Allgemeinheit und des Gemeinwohls vertritt. Rechtsgrund für „hoheitliches“ Handeln sind dann ausschließlich die Regelungen des öffentlichen Rechts. Abgrenzungskriterium zwischen hoheitlichem und fiskalischem Verwaltungshandeln ist also die zugrunde liegende Rechtsnorm (hierzu 1.1.4); z. B. kann zur Abwendung der Wohnungslosigkeit die Überlassung einer städtischen Wohnung auf der Grundlage eines Mietvertrages erfolgen (wobei dann z. B. Kündigungsfristen des § 565 BGB zu beachten wären) oder aufgrund eines sozialhilferechtlichen Nutzungsverhältnisses (ohne zivilrechtliche Kündigungsfristen, ggf. sofortige Räumung möglich; Grenze: Verhältnismäßigkeit), vgl. OVG Berlin NVwZ 1989, 989. Erfüllt die Exekutive (gesetzlich geregelte) öffentliche Aufgaben (insb. Versorgungsleistungen) in den Formen des Privatrechts, z. B. in Form einer Aktiengesellschaft oder GmbH, so ist sie an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden (sog. Verwaltungsprivatrecht, s. 1.1.4).
4.1.1.2 Tatsächliches und regelndes Verwaltungshandeln
schlicht-hoheitliches Verwaltungshandeln
Im Rechtsverkehr unterscheidet man üblicherweise das regelnde (Entscheidung treffende) Verhalten vom tatsächlichen Tun. Soweit Letzteres durch einen Mitarbeiter der Sozialverwaltung für den Verwaltungsträger vorgenommen wird, spricht man vom „schlicht-hoheitlichen“ und vorbereitenden Verwaltungshandeln (sog. Realakte). Das umfasst so alltägliche Handlungen wie die Aktenführung oder Dienstfahrt, aber auch die für den Sozialbereich kennzeichnende Beratung, die Erarbeitung von Gutachten und Stellungnahmen oder die Erstellung eines Hilfeplans. Deren Wesensmerkmal ist in allen Fällen, dass keine auf eine gesetzliche Rechtsfolge zielende Entscheidung, also keine Regelung getroffen wird.
Übersicht 15: Rechtsformen des Verwaltungshandelns

Im Hinblick auf das regelnde Verwaltungshandeln wird danach unterschieden, ob die Entscheidungen gegenüber den Bürgern, also mit Außenwirkung, oder aber nur zur Regelung innerbetrieblicher Angelegenheiten getroffen werden. Darüber hinaus lässt sich danach differenzieren, ob die Entscheidung generellen Charakter (seien es Rechtsnormen, wie z. B. kommunale Satzungen – hierzu 1.1.3) oder rein verwaltungsinterne Vorschriften und Richtlinien; hierzu 1.1.3.6) hat oder eine einzelne Person oder einen konkreten Fall betrifft (Einzelfallentscheidung durch VA).






