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Die Beratungshilfe deckt nicht die Kosten ab, die man ggf. einem Dritten zu erstatten hat, weil man von diesem etwas zu Unrecht verlangt hat und dieser seinerseits anwaltliche Hilfe in Anspruch nimmt, um die Forderung abzuwehren.
Falls die Bemühungen um eine außergerichtliche Einigung scheitern sollten und ein Gericht mit der Sache befasst werden muss, kann Prozess-/Verfahrenskostenhilfe (PKH) nach den Regelungen der §§ 114 ff. ZPO/§ 76 FamFG in Anspruch genommen werden (hierzu 5.3.3).

BMJV 2017a; Groß 2015; Fasselt / Schellhorn 2017

1. Was hat Soziale Arbeit mit Verwaltungshandeln zu tun? (4.1)
2. Worin unterscheiden sich Eingriffs- und Leistungsverwaltung? Was ist in beiden Fällen zu beachten? (4.1)
3. Weshalb ist es wichtig zu klären, ob eine Verwaltung öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich gehandelt hat? (4.1.1.1)
4. Was versteht man unter Verwaltungsprivatrecht? (4.1.1.1; vgl. auch I-1.1.4)
5. Was versteht man unter kooperativem Verwaltungshandeln? (4.1.1.3)
6. Welche Formen juristischer Personen des Öffentlichen Rechts gibt es? (4.1.2.1)
7. Worin besteht der Unterschied zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Staatsverwaltung? (4.1.2.1)
8. Welche Formen von Körperschaften gibt es und welche haben für die Soziale Arbeit eine besondere Bedeutung? (4.1.2.1)
9. Was versteht man unter Föderalismus und welche Konsequenzen hat dieses Prinzip für die Soziale Arbeit? (4.1.2.1)
10. Welche besondere Stellung und Funktion haben die Kommunen im deutschen Verwaltungsaufbau? (4.1.2.1)
11. Kann der Ministerpräsident eines Landes der Landrätin eines Landkreises, der Innenminister einem Oberbürgermeister, die Sozialministerin dem Sozialdezernenten einer kreisfreien Stadt oder der Leiter des Landesjugendamtes der Leiterin eines städtischen JA eine Weisung erteilen? (4.1.2.1)
12. Worin besteht der Unterschied zwischen einer Behörde und einem Amt? (4.1.2.1)
13. Was sind freie Träger, und aus welchem (Rechts-)Grund sind diese im Jugend- und Sozialbereich tätig? (4.1.2.2)
14. Was versteht man unter Beratung in § 14 SGB I?
15. Dürfen Sozialarbeiter und Mediatoren Rechtsberatung leisten? (4.2)
16. Unter welchen Voraussetzungen und wie erhält man Rechtsberatungshilfe? (4.2)
5 Rechtsschutz (Trenczek)
5.1 Gerichtsbarkeiten
5.1.1 Deutsche Gerichtsbarkeiten
5.1.2 Europäische und internationale Gerichtsbarkeiten
5.2 Verwaltungs- und sozialrechtliche Rechtskontrolle
5.2.1 Verwaltungsinterne Kontrolle durch Aufsichtsverfahren
5.2.2 Widerspruchsverfahren
5.2.3 Gerichtliche Kontrolle
5.2.4 Kostenrisiken
5.3 Ordentliche Gerichtsbarkeit
5.3.1 Streitiges Gerichtsverfahren
5.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit
5.3.3 Kostenrisiken
Rechtsschutz
Wesentliches Kennzeichen eines Rechtsstaates ist die Rechtsweg- und -schutzgarantie, die verfahrensrechtlich das materielle Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG: Bindung an Recht und Gesetz, vgl. 2.1.2.1) ergänzt. Nach Art. 19 Abs. 4 GG steht jeder natürlichen und juristischen Person der Rechtsweg offen, wenn sie durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt wurde. Ob das der Fall ist, haben dann letztlich die Gerichte zu prüfen. Darüber hinaus – z. B. in privatrechtlichen Streitigkeiten – garantiert der sog. Justizgewährungsanspruch (s. 2.1.2.3) den Zugang zu den staatlichen Gerichten (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 EMRK). Das Recht auf Rechtsschutz beinhaltet stets den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. z. B.§ 62 SGG). Dieser Grundsatz gilt nicht nur vor Gericht, sondern im Rechtsstaat bereits im verwaltungsrechtlichen Verfahren, d. h. dem Bürger muss stets vor einer ihn in seinen Rechten belastenden hoheitlichen Entscheidung in geeigneter Weise Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben werden (§ 24 SGB X; vgl. III-1.2.2). Darüber hinaus garantieren die vor allem strafrechtlich relevanten Justizgrundrechte das Verbot von Ausnahmegerichten, die nur für bestimmte Fälle nachträglich eingesetzt werden (Art. 101 GG, § 16 GVG; hierzu IV-1.3 u. 3.2). Jede Form von Freiheitsentzug, also nicht nur als strafrechtliche Rechtsfolge, bedarf der richterlichen Entscheidung (Art. 104 Abs. 2 GG).
Die Rechtsweggarantie besteht allerdings nicht unbeschränkt, sondern kann gesetzlich geregelt werden. Das hat der Gesetzgeber z. B. mit dem Aufbau der Gerichtsbarkeiten und den entsprechenden Verfahrensordnungen (z. B. Regelungen von Fristen, Beschränkung der Beschwerdemöglichkeiten gegen Gerichtsentscheidungen, dem sog. Instanzenzug; Notwendigkeit von außergerichtlichen Kontrollverfahren) getan.
Nach Art. 97 GG ist die rechtsprechende Gewalt unabhängigen, d. h. nicht an Weisungen, sondern nur an Recht und Gesetz gebundenen Richtern anvertraut. An der Spitze stehen das BVerfG und die Bundesgerichte (Art. 92 ff. GG). Nach Ausschöpfung des deutschen Rechtsweges können darüber hinaus auch die europäischen Gerichtshöfe (s. 5.1.2) angerufen werden. Freilich kommen die meisten Fälle nicht vor diese Gerichte, sondern werden schon im System der Rechtskontrolle auf einer früheren Ebene entschieden.
Rechtskontrolle wird nicht nur durch die Gerichte geleistet, sondern es gibt eine Vielzahl von außergerichtlichen Rechtsbehelfen, insb. im Hinblick auf die Kontrolle der öffentlichen Sozialverwaltung (hierzu 5.2). Dabei handelt es sich einerseits um verwaltungsinterne Aufsichtsverfahren, andererseits um sog. nicht förmliche Rechtsbehelfe sowie darüber hinaus um förmliche Rechtsbehelfe, insb. um den sog. Widerspruch. In privatrechtlichen Streitigkeiten wie auch in strafrechtlich relevanten Konflikten haben in den letzten 25 Jahren in Deutschland sog. alternative, d. h. außergerichtliche Konfliktregelungsverfahren an Bedeutung gewonnen (hierzu I-6).
5.1 Gerichtsbarkeiten
5.1.1 Deutsche Gerichtsbarkeiten
Verwaltungskontrolle
Man unterscheidet in Deutschland zwischen mehreren Gerichtsbarkeiten, die unterschiedliche Kontrollmöglichkeiten und Rechtswege eröffnen (Art. 95 Abs. 1 GG). Von besonderer Bedeutung für die Soziale Arbeit ist hierbei vor allem die Kontrolle der öffentlichen Gewalt (insb. Verwaltungskontrolle), die aus historischen Gründen auch als sog. primärer Rechtsschutz bezeichnet wird (hierzu nachfolgend 5.2). Sie kümmert sich um Streitigkeiten bei der Anwendung Öffentlichen Rechts, für die insb. die Verwaltungsgerichte und die Sozialgerichte, aber auch die Finanzgerichte zuständig sind. Die Sozialgerichte sind für alle in § 51 SGG genannten Streitigkeiten zuständig. Das betrifft traditionell Angelegenheiten der Sozialversicherung wie auch der Arbeitsförderung, seit 2005 aber auch die Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende SGB II (Nr. 4a) sowie der Sozialhilfe nach dem SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetzes (Nr. 6a). Im Übrigen sind nach § 40 VwGO die Verwaltungsgerichte für alle anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zuständig (s. 5.2.2).
ordentliche Gerichtsbarkeit
Als sekundären Rechtsschutz bezeichnet man den Rechtsschutz, der den Bürgern insb. bei privatrechtlichen Streitigkeiten zur Verfügung steht und durch den sog. ordentlichen Rechtsweg (Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG) gewährt wird. Die Begriffe „sekundär“ und „ordentliche Gerichtsbarkeit“ (hierzu 5.3) sind nur historisch erklärbar als Abgrenzung zur sog. Verwaltungsrechtspflege, die der Gerichtsbarkeit entzogen war (s. u. 5.2.3). Der Begriff „sekundärer“ Rechtsschutz passt zudem insofern nicht, als nach Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG bei einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt stets der Rechtsweg vor die ordentliche Gerichtsbarkeit gegeben ist, es sei denn, es ist ausdrücklich etwas anderes geregelt. Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit werden nach § 13 GVG auch die Strafgerichte gerechnet, obwohl das Strafrecht zum öffentlichen Recht gehört (s. 1.1.4; ausführlich Teil IV-3). Zur sog. besonderen, „außerordentlichen“ Gerichtsbarkeit gehört neben den Gerichten der öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten auch die Arbeitsgerichtsbarkeit (vgl. Art. 95 Abs. 1 GG).
Übersicht 19: Gerichtsbarkeiten in der Bundesrepublik Deutschland

Zuständigkeiten
Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte richtet sich also nach der zugrunde liegenden Rechtsmaterie (s. Übersicht 19). Der Gerichtsweg ist dabei mehrstufig in Instanzen aufgebaut, um auch erstinstanzliche Entscheidungen durch eine Berufung (vollständige Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung sowohl in tatsächlicher Hinsicht (ggf. inkl. Beweisaufnahme) als auch im Hinblick auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung) bzw. Revision (Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung nur in rechtlicher Hinsicht) überprüfen lassen zu können.
Ungeachtet der großen Bedeutung der Bundesgerichte obliegt die Rechtsprechung organisatorisch überwiegend den Gerichten der Bundesländer (Art. 92 GG). Die örtliche (geografische) Zuständigkeit richtet sich im Verwaltungsgerichtsverfahren i. d. R. nach dem Sitz der Behörde (§ 52 Nr. 3 VwGO), im Sozialgerichtsverfahren zumeist nach dem Wohnsitz des klagenden Bürgers (§ 57 Abs. 1 SGG), im Zivilverfahren i. d. R. nach dem Wohnsitz des Beklagten (§§ 12 f. ZPO) bzw. dem gewöhnlichen Aufenthalt (§ 122 FamFG); im Strafrecht wird der Gerichtsstand i. d. R. durch den Ort der Tat bzw. den Wohnsitz des Angeklagten bestimmt (§§ 7 f. StPO).
BVerfG
Eine besondere Stellung nimmt das BVerfG ein, das in den in Art. 93 GG, § 13 BVerfGG genannten Fällen darüber wacht, ob die Regelungen des GG eingehalten werden. Von besonderer Bedeutung sind die Normenkontrollverfahren. Bei der abstrakten Normenkontrolle wird auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages unabhängig von einem konkreten Rechtsstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Bei der sog. konkreten Normenkontrolle erfolgt diese Überprüfung auf Vorlage eines Gerichts, welches in einem konkreten Fall ein Gesetze, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG). Diese Entscheidungen haben – im Unterschied zu allen anderen Gerichtsentscheidungen – über den Einzelfall hinaus verbindliche Wirkung und Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG; vgl. 1.1.3.6). Das BVerfG hat in über 500 Fällen Gesetze und andere Rechtsnormen für verfassungswidrig erklärt; das ist zwar angesichts der Aktivität des Gesetzgebers eine relativ geringe Zahl, gleichwohl sind diese Entscheidungen von besonderer Bedeutung. So sind z. B. vom BVerfG die sog. Hartz-IV-Regelleistungen nach SGB II, insb. das Sozialgeld für Kinder (BVerfG 1 BvL 1 / 09 – 09.02.2010; hierzu III-4.2.1), und die Regelungen über die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung (BVerfG 2 BvR 2365 / 09 – 04.05.2011; s. IV-4.2) als nicht verfassungsgemäß angesehen worden. Über die Rechtmäßigkeit von Rechtsnormen im Rang unter formellen Gesetzen (RVO, Satzungen; hierzu 1.1.3) entscheiden i. d. R. die OVGs bzw. die LSGs in den Ländern (§ 47 VwGO; § 55a SGG). Schließlich kontrollieren die Landesverfassungsgerichte (mitunter Staats- oder Verfassungsgerichtshof genannt) die Einhaltung des jeweiligen Landesverfassungsrechts.
Verfassungsbeschwerde
Die Bürger können das BVerfG auch direkt wegen einer Verletzung ihrer Grundrechte anrufen (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Voraussetzung ist, dass sie selbst noch gegenwärtig und unmittelbar durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt, sei es eine Verwaltungsentscheidung, ein Gerichtsurteil oder ausnahmsweise auch ein Gesetz, in ihren Rechten betroffen sind. Damit sind in der Vergangenheit abgeschlossene Eingriffe in die Grundrechte ebenso wie sog. Popularklagen (Klagen für andere) ausgeschlossen. Grds. ist eine Verfassungsbeschwerde (hierzu im Einzelnen Pieroth et al. 2015, § 34) erst nach Ausschöpfung des Rechtsweges zulässig, d. h., dass alle möglichen Rechtsbehelfe (verwaltungsinterne Kontrollen, Berufung, Revision oder Beschwerde an die nächsthöhere Instanz) eingelegt und erfolglos gewesen sein müssen. Das BVerfG ist aber keine „Superrevisionsinstanz“, es prüft also nicht die Verletzung des „einfachen Rechts“, sondern nur des Verfassungsrechts und beschränkt die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen darauf, ob diese „objektiv willkürlich“ sind und damit gegen Art. 3 GG verstoßen. Nur ausnahmsweise kann eine Verfassungsbeschwerde vor Ausschöpfung des Rechtsweges eingelegt werden, wenn der Verweis auf den Rechtsweg nicht zumutbar oder die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Angesichts der hohen Zahl von Verfassungsbeschwerden (jährlich über 6.000 Verfahren = 96% der anhängigen Verfahren) wurden mit drei Richtern besetzte Kammern eingeführt, die vorab prüfen, ob eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird. Letztlich wird nur etwa 2 % der Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Allerdings haben einige dieser Verfassungsbeschwerden die Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt, z. B. die folgenden Entscheidungen (vgl. Grimm et al. 2007; Menzel 2011; Schwabe 2004):
■ Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sog. „Volkszählungs-Entscheidung“ 1 BvR 209 u. a./83 – 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1) sowie Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung (1 BvR 256 / 08 – 02.03.2010);
■ Schule und Religion:
– Lehrerin mit Kopftuch BVerfG 2 BvR 1436 /02 – 24.09.2003: Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage;
– Kruzifix-Entscheidung 1 BvR 1087 / 91 – 16.05.1995 (BVerfGE 93, 1): Die staatlich veranlasste Anbringung von Kreuzen in allgemeinen staatlichen Schulen ist mit dem Neutralitätsprinzip als objektivem Verfassungsrecht unvereinbar;
■ Familie und Elternverantwortung (Art. 6 GG):
– z. B. Stellung der Eltern im Jugendstrafverfahren (BVerfG 2 BvR 716 / 01 – 16.01.2003 = ZJJ 2003, 68 ff.);
– Unterhaltsberechnung (BVerfG 1 BvR 105, 559 / 95 − 05.02.2002);
– Familienname (BVerfG 1 BvR 683 / 77 − 31.05.1978 = E 48, 327): Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG, wenn Geburtsname der Frau nicht zum Familiennamen bestimmt werden kann;
– Ausschluss des Vaters eines nicht ehelichen Kindes von der elterlichen Sorge bei Zustimmungsverweigerung der Mutter ist verfassungswidrig (BVerfG 1 BvR 420 /09 − 21.07.2010);
■ Meinungs- und Kunstfreiheit (Art. 5 GG):
– „Mephisto“ – 24.02.1971 (BVerfGE 30, 173): Inhalt und Reichweite der Kunstfreiheit;
– „Lüth“ – 15.01.1951 (BVerfGE 7, 198): Wesen der Grundrechte und Inhalt und Umfang der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG;
■ Strafrecht (hierzu IV):
– Unschuldsvermutung (BVerfG 2 BvR 1481 / 04 – 14.0.2004);
– Verbot der Doppelbestrafung (BVerfGE 21, 378);
– Bestimmtheitsgebot (BVerfGE 92, 1 ff.; BVerfG 2 BvR 794 / 95 – 20.03.2002);
– Verbot des „großen Lauschangriffs“ (BVerfG 1 BvR 2378 / 98 – 03.03.2004; E 109, 279);
– Strafvollzug (BVerfGE 33, 1; BVerfG 2 BvR 1673 / 04 – 31.05.2006 – ZJJ 2006, 193 ff. zum Jugendstrafvollzug): Auch innerhalb sog. „Sonderrechtsverhältnisse“ (besonderer „Gewaltverhältnisse“ z. B. Strafvollzug, geschlossene Unterbringung) bedürfen weitere, über das Grundverhältnis hinausreichende Beschränkungen der Grundrechte (z. B. Briefzensur, beschränkte Nutzung von Medien) einer gesetzlichen Grundlage;
– Strafvollzug (BVerfG 1 BvR 409 / 09 – 22.02.2011): Die Strafvollstreckung ist zu unterbrechen und ein Inhaftierter zu entlassen, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen möglich ist;
– Sicherungsverwahrung und Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgebot für das Strafrecht (BVerfG 2 BvR 2365 / 09, 2 BvR 740 / 10 – 04.05.2011; BVerfG 2 BvR 1238 / 12 – 07.05.2013).
■ Verhältnis EU-Recht – Nationales Recht, BVerfG 2 BvR 2735 / 14 – 15.12.2015 (Vorbehalt der Verfassungsidentität) und BVerfG 2 BvR 2728 / 13 – 21.06.2016 zum sog. „Outright-Monetary-Transactions“-Programm der EZB)
In den letzten Jahren sind einige Massenbeschwerden mit jeweils über 20 – 30.000 Beschwerdeführern erhoben worden (z. B. 2007 knapp 35.000 Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung; vgl. BVerfG 1 BvR 256 / 08 v. 02.03.2010; in 2010 etwa 22.000 Beschwerden gegen die Arbeitnehmerdatenbank ELANA). Neben dem BVerfG haben die Verfassungsgerichte der Länder eine weit geringere Bedeutung entsprechend der eingeschränkten Bedeutung der Landesverfassungen (vgl. 1.1.3.1).
5.1.2 Europäische und internationale Gerichtsbarkeiten
Neben der nationalen Gerichtsbarkeit hat mittlerweile auch die Europäische Gerichtsbarkeit eine große Bedeutung, vor allem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg und der vom Europarat eingerichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. „Gerichtshof der EU“ bezeichnet genau genommen das gesamte Gerichtssystem der EU (Art. 19 EUV), das aus dem EuGH, dem ihm nachgeordneten „Gericht (erster Instanz) der Europäischen Union“ (EuG) sowie den noch einzurichtenden europäischen Fachgerichten (bislang nur Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union) besteht.
Der EuGH ist ein Organ der EU (Art. 19 EUV) und wacht vor allem über die Einhaltung des EU-Rechts (hierzu 1.1.5.1), kann aber direkt nur von Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union angerufen werden. Daneben wurde 1989 zur Entlastung des EuGH das schlicht „Gericht“ (Art. 256 AEUV) genannte „Europäische Gericht (EuG) erster Instanz“ eingerichtet, welches für Entscheidungen im ersten Rechtszug über Klagen zuständig ist, die von den Mitgliedstaaten oder Privatpersonen und Unternehmen in den Fällen erhoben werden, die die europäischen Verträge vorsehen. Das können insb. Klagen gegen Maßnahmen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sein, die an sie gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen, z. B. eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße auferlegt wurde.
Eine der weitreichendsten Entscheidungen des EuGH ist die im Verfahren van Gend & Loos von 1963 getroffene, in der der EuGH den eigenständigen Charakter und den Vorrang des EU-Rechts vor den nationalen Rechtsordnungen hervorgehoben hat (s. 1.1.5.1). Die meisten Entscheidungen der EU-Gerichte befassen sich v. a. mit der Freizügigkeit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs und dem Diskriminierungsverbot, sie haben (damit) aber mitunter auch sozialrechtliche und verbraucherschützende Implikationen und Konsequenzen, z. B.:
■ 03.07.1986 – 66 / 85 (Lawrie Blum): Arbeitnehmerfreizügigkeit;
■ 12.03.1987 – 178 / 84: Reinheitsgebot für Bier vs. Warenverkehrsfreiheit;
■ 14.04.1994 – 392 / 92 (Schmidt): Wahrung von Ansprüchen der ArbN beim Übergang (Outsourcing) von Unternehmen;
■ 28.04.1998 – C 120 / 95 (Decker) und C 158 / 96 (Kohll): Kostenerstattung der Sozialversicherung bei Brillenkauf bzw. Zahnbehandlung im EU-Ausland;
■ 11.01.2000 – C-285 / 98, (Tanja Kreil): Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Streitkräfte; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.;
■ 12. 7. 2001 – C-157 / 99 (Smits / Peerbooms): Krankenhausbehandlung von gesetzlich Versicherten im Ausland nur mit vorheriger Genehmigung der Krankenkasse (vgl. § 13 Abs. 5 SGB V)
■ 11.12.2003 – C 322 / 01 (Doc Morris): Verbot des Versandhandels mit auf dem deutschen Markt zugelassenen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten verstößt gegen EU-Gemeinschaftsrecht
■ 16.03.2004 – C-264 / 01 u. a. (AOK Bundesverband): Krankenkassen und deren Zusammenschlüsse sind keine Unternehmen i. S. v.Art. 101 ff AEUV
■ 22.11.2005 – C 144 / 04 (Mangold): Grenzen der zulässigen Altersdiskriminierung, Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit Gemeinschaftsrecht;
■ 15.03.2005 – C-209 / 03 (Bidar): Die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) können i. V. m. dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) einen Anspruch auf soziale Teilhabe und Sozialleistungen vermitteln;
■ 11.06.2009 – 300 / 07 (Oymanns): Krankenkassen sind als öffentlicher Auftraggeber verpflichtet, Aufträge auszuschreiben
■ 01.03.2011 – C-236 / 09: Beanstandung der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Versicherungstarifen.
■ 27.03.2014 – C-314 / 12: Internetprovider dürfen verpflichtet werden, den Zugang ihrer Kunden zu einer Website zu sperren, auf der Filme (oder andere urheberechtlich geschützte Medien) ohne Zustimmung der Rechteinhaber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um den illegalen Download zu verhindern.
■ 08.04.2014 – C-293 / 12, C-594 / 12 (Digital Rights Ireland): Beanstandung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung;
■ 13.05.2014 – C-131 / 12 (Google vs. Gonzáles): Betreiber von Internetsuchmaschinen sind zur Einhaltung der europäischen Datenschutzrichtlinie verpflichtet, unabhängig davon, ob die Datenverarbeitung in oder außerhalb Europas stattfindet. Sie sind bei personenbezogenen Daten, die auf von Dritten veröffentlichten Internetseiten erscheinen, für die von ihnen vorgenommene Verarbeitung verantwortlich. Sie können verpflichtet werden, Links und Snippets aus ihrem Webindex zu entfernen (sog. Recht auf Vergessen).
■ 21.09.2016 – C-592 / 14: EU-VO 1223 / 2009 verbietet das Inverkehrbringen von Tierversuchskosmetika auf dem Europäischen Markt
■ 21.12.2016 – C-203 / 15 u. C-698 / 15: Voraussetzungslose Vorratsdatenspeicherung ist nicht mit Unionsrecht vereinbar (s. III-1.2.3);
■ 16.02.2017 – C-219 / 15: nur begrenzte Pflicht des TÜV, Produkte (hier Brustimplantate) zu prüfen und unangemeldete Inspektionen durchzuführen;
■ 14.03.2017 – C-157 / 15 und C 188 / 15: Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar.
EGMR
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist kein EU-Gericht, sondern wurde vom Europarat eingerichtet und wacht vor allem über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, s. 1.1.5.2). Den EGMR können alle natürlichen Personen, nicht staatliche Organisationen und Personengruppen mit der Behauptung angehen, durch einen Vertragsstaat in einem von der Konvention und den Protokollen garantierten Recht verletzt worden zu sein (Art. 34 EMRK). Allerdings befasst sich der Gerichtshof mit der Angelegenheit erst nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Der EGMR hat (nicht nur) die Bundesrepublik wiederholt zu Schadensersatz verurteilt, seine Entscheidungen haben darüber hinaus erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Rechtspraxis, z. B.
■ Görgülü ./. Germany – 26.02.2004 – 74969 / 01 – JAmt 2004, 551: Sorgerechtsentscheidung zugunsten des leiblichen, nicht mit der Mutter verheirateten Vaters.
■ Haase ./. Germany – 08.05.2004 – 11057 / 02 – FamRZ 2005, 585: Selbst wenn ein Kind in einem für seine Erziehung günstigeren Umfeld untergebracht werden könnte, kann dies nicht rechtfertigen, es im Wege einer Zwangsmaßnahme der Betreuung durch seine biologischen Eltern zu entziehen;
■ Jalloh ./. Germany – 11.06.2006 – 54810 / 00 zum Verbot der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei beschuldigten Drogendealern;
■ Gäfgen ./. Germany – 01.06.2010 – 22978 / 05: Die Androhung einer vorsätzlichen Misshandlung in einem Polizeiverhör ist unabhängig vom Verhalten des Betroffenen und der Beweggründe der Behörden als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK (Folterverbot) einzustufen;
■ Schüth ./. Germany – 23.09.2010 – 1620 / 03: Die Straßburger Richter rügten im Fall der Kündigung eines Kirchenangestellten (der „außerhalb der von ihm geschlossenen Ehe mit einer anderen Frau zusammenlebte, die ein Kind von ihm erwartet“), dass dessen Kündigungsschutzklage selbst vom BAG und BVerfG abgewiesenen wurde und die deutschen Arbeitsgerichte keine angemessene Abwägung zwischen den Interessen des kirchlichen ArbGeb und denen des ArbN auf Achtung seines Privat- und Familienlebens vorgenommen haben;






