- -
- 100%
- +
Verböserung
Im Rahmen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle findet eine uneingeschränkte Überprüfung des Verwaltungshandelns – auch des Ermessens (anders ist dies im gerichtlichen Verfahren, vgl. § 114 VwGO; s. 3.4.2) – statt. Anders als im Klageverfahren vor den Gerichten (§ 88 VwGO) kann im Widerspruchsverfahren der VA unter Maßgabe der §§ 44 ff. SGB X (hierzu III-1.3.1.3) auch zuungunsten des Bürgers abgeändert werden (sog. „Verböserung“ – reformatio in peius), denn es handelt sich ja noch um eine verwaltungsinterne Prüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Insoweit ist der Vertrauensschutz bei einem noch nicht bestandskräftigen VA geringer als nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist. Die Rechtmäßigkeit der Widerspruchsentscheidung (und damit auch einer möglichen reformatio in peius) beurteilt sich damit stets nach dem materiellen und dem entsprechenden Organisationsrecht der Verwaltung (vgl. Diering / Timme 2016, Vor §§ 44 Rz. 12; Kopp / Schenke 2016, § 68 Rz. 10).
Kosten
Das Widerspruchsverfahren ist als Teil des Sozialverwaltungsverfahrens für den Beschwerdeführer kostenfrei (§§ 62, 64 SGB X). Soweit dem Bürger selbst, z. B. durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Kosten entstanden sind, werden diese im Rechtsbehelfsverfahren erstattet, wenn der Widerspruch Erfolg hatte (bzw. nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 SGB X unbeachtlich ist) und die Kosten „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung“ notwendig waren (§ 63 Abs. 1 u. 2 SGB X). Rechtsanwaltskosten werden also nur erstattet, wenn ein vernünftiger Bürger mit durchschnittlichem Bildungs- und Erfahrungsstand in der Sache einen Anwalt zurate gezogen hätte (BSG 24.05.2000 – 7 C 8 / 99 – NJW 2000, 611; BSG 25.02.2010 – B 11 AL 24 / 08). Nach einem Beschluss des BVerfG (1 BvR 1517 / 08 – 11.05.2009) kann es einem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung er im Widerspruchsverfahren angreifen will.
5.2.3 Gerichtliche Kontrolle
Die Kontrolle der Exekutive durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist historisch gesehen relativ neu, widersprach sie doch den Herrschaftsinteressen absoluter Monarchen und den früher üblichen feudalen Strukturen. Es war einfach kaum vorstellbar, den Monarchen bzw. den Adel zu verklagen. Soweit die Exekutive überhaupt einer Kontrolle unterlag, wurde diese von Aufsichtsbehörden wahrgenommen, die den Regenten unterstellt waren (sog. Verwaltungsrechtspflege), womit die Verwaltung einer „ordentlichen“ Gerichtsbarkeit entzogen war („Kameraljustiz“); vgl. hierzu die Legende vom Müller und dem König:
Der Müller und der König
Bei der Geschichte vom Streit des Müllers Grävenitz mit Friedrich II. handelte es sich teilweise um eine Legende. Grävenitz betrieb seine Bockwindmühle in unmittelbarer Nähe der Sommerresidenz „Sanssouci“ im heutigen Potsdam. Friedrich II. soll das Geklapper der Mühle so unerträglich geworden sein, dass er den Müller Grävenitz aufforderte, ihm seine Mühle zu verkaufen. Für den Kauferlös sollte er dann an anderer Stelle eine neue Mühle errichten. Als sich der trotzige Müller weigerte, den durch Erbpacht gesicherten Mühlenstandort zu verlassen, habe der König gedroht, ihm die Mühle kraft seiner königlichen Macht „ohne einen Groschen“ wegnehmen zu lassen. Daraufhin habe der mutige Müller geantwortet: „Gewiss, das könnten Eurer Majestät wohl tun, wenn es nicht das Kammergericht in Berlin gäbe.“

Historisch dokumentiert ist der eigentlich zivilrechtliche Streit des Müllers Christian Arnold, der seit 1762 eine Wassermühle im neumärkischen Pommerzig betrieb, mit dem Grafen von Schmettau um Absenkung der Erbpacht. Als der Müller seine Pacht nicht mehr bezahlen konnte, verklagte ihn der Graf und ließ die Wassermühle kurzerhand versteigern. Arnold wehrte sich mit einer Gegenklage und behauptete, Landrat von Gersdorff habe oberhalb seiner Mühle einen Karpfenteich angelegt, ihm somit das Wasser entzogen und ihn unverschuldet in Pachtrückstand getrieben. Als das Obergericht der Provinz Küstrin Arnolds Schadensersatzklage abwies, bat der Müller Arnold Friedrich II. um Rechtsbeistand. Der König nahm sich der Sache an, doch erst nachdem auch das extra einberufene Appellationsgericht das Küstriner Urteil als rechtens bestätigt hatte, griff der König, der vom Recht des Müllers überzeugt war, in das Gerichtsverfahren selbst ein. Im Glauben, die Justiz verweigere seinen Untertanen aus Standesdünkel eine gerechte Behandlung, schrieb er an den Justizminister von Zedlitz: „Der Herr wird mir nichts weiß machen. Ich kenne alle Advokaten-Streiche und lasse mich nicht verblenden. Hier ist ein Exempel nötig, weil die Canaillen enorm von meinem Namen Missbrauch haben, um gewaltige und unerhörte Ungerechtigkeiten auszuüben. Ein Justitiarius, der chicanieren tut, muss härter als ein Straßenräuber bestrafft werden. Denn man vertraut sich am ersten, und vorm letztern kann man sich hüten!“ Friedrich II. schickte einen Oberst und einen Regierungsrat nach Pommerzig, um sich Klarheit zu verschaffen. Erst als diese zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, verwies Friedrich den Fall, „um die Sache ganz kurz abzumachen“, zur endgültigen Klärung an das Berliner Kammergericht. Aber auch dieses höchste preußische Gericht wies die Arnold-Klage zurück (vgl. www.kleiekotzer.com/html/sanssouci_2.html, 27.06.2017).
Eine effektive, rechtsgebundene Kontrolle der öffentlichen Verwaltung ist heute Kennzeichen des Rechtsstaates. Allerdings trat die VwGO erst 1960 in Kraft, womit die Verwaltungsgerichtsbarkeit als unabhängiger Zweig der Justiz installiert wurde.
Verwaltungsgerichte
Den auf der Grundlage von Art. 95 GG eingerichteten Verwaltungsgerichten obliegt nach § 40 VwGO die Rechts- und Verwaltungskontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG in sämtlichen öffentlich-rechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, soweit sie nicht gesetzlich anderen Gerichten zugewiesen sind. Den Sozialgerichten obliegt im Wesentlichen die Kontrolle der Sozialversicherungsträger sowie der Sozialhilfeverwaltung (vgl. § 51 SGG). Spezielle Rechtswegzuweisungen zur Sozialgerichtsbarkeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG enthalten u. a. § 13 Abs. 1 BEEG, § 27 Abs. 2 Berufliches RehabilitierungsG, § 11 Abs. 8 BVFG, § 68 Abs. 2 InfektionsschutzG sowie § 5 SchwHG.
Die Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut (§ 2 SGG/§ 2 VwGO). In erster Instanz sind i. d. R. die Sozial- und Verwaltungsgerichte zuständig (§ 8 SGG/§ 45 VwGO). Berufungs- und Beschwerdeinstanz sind die Landessozial- (§§ 28 f. SGG) bzw. Oberverwaltungsgerichte (OVG) und Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) der Bundesländer (§§ 46 ff. VwGO). Diese sind zudem erste Instanz bei Normenkontrollen von Satzungen, landesrechtlichen Vereinsverboten und Genehmigungen von Großprojekten. Revisions- und Rechtsbeschwerdeinstanz ist das BSG in Kassel bzw. das BVerwG mit Sitz in Leipzig. Auch diese können erstinstanzlich entscheiden, z. B. in Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen Bund und Ländern (§ 39 SGG/§ 50 VwGO).
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Berufung und Revision grds. nur zulässig, wenn sie im Urteil zugelassen worden sind (§ 124 bzw. § 132 VwGO). Im sozialgerichtlichen Verfahren gilt dies immer für die Revision (§ 160 SGG), die Berufung bedarf mitunter der Zulassung (insb. in den sog. Bagatellsachen, vgl. § 144 SGG). Unterbleibt die Zulassung der Überprüfung, kann diese durch eine Beschwerde bei der nächsthöheren Instanz beantragt werden (sog. Nichtzulassungsbeschwerde, §§ 145, 160a SGG / §§ 124a, 133 VwGO).
Klagearten
Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (auf Aufhebung eines belastenden bzw. auf Erlass eines begünstigenden VA gerichtete Gestaltungsklagen, vgl. § 54 SGG/§ 42 VwGO) setzen grds. ein Widerspruchsverfahren voraus (beachte insoweit die Ausnahmeregelung in einigen Bundesländern, s. 5.2.2). Die Erhebung dieser Klagen ist nur innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zulässig (§ 87 SGG/§ 74 VwGO). Bei einer fehlenden oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung kann die Klage innerhalb eines Jahres erhoben werden (§ 66 SGG/§ 58 VwGO). Die Klage ist grds. nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, in seinen Rechten verletzt zu sein (Klagebefugnis, vgl. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG/§ 42 VwGO). Eine sog. Untätigkeitsklage, bei der es ja an einem VA gerade fehlt, weil die Behörde nicht entscheidet, kann nach § 88 Abs. 2 S. 1 SGG/§ 75 S. 2 VwGO nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Einlegung des Widerspruchs bzw. des Antrags auf Erlass eines VA bzw. nach § 88 Abs. 1 S. 1 SGG nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des VA erhoben werden. Ziel der sog. allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG; vgl. § 43 Abs. 2 VwGO, insb. Folgenbeseitigungsanspruch) bzw. Unterlassungsklage ist u. a. die Vornahme bzw. Unterlassung sog. schlicht-hoheitlicher Verwaltungsmaßnahmen bzw. Realakte (also nicht eines VA, wohl aber die Umsetzung eines VA, z. B. die Auszahlung eines bewilligten Zuschusses) oder die Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen Verwaltungshandelns. Ziel einer Feststellungsklage (§ 55 SGG/§ 43 Abs. 1 VwGO) ist die verbindliche Feststellung, dass ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis (z. B. die Staatsangehörigkeit, eine Gesundheitsstörung oder Schwerbehinderung) besteht bzw. nicht besteht (z. B. wegen Nichtigkeit eines VA). Sie ist aber nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung als solcher hat, was i. d. R. nicht der Fall ist, wenn sich das Ziel immanent mit einer Gestaltungs- oder Leistungsklage erreichen lässt (§ 43 Abs. 2 VwGO). Obwohl § 55 SGG keine entsprechende Regelung enthält, gilt der Subsidiaritätsgrundsatz grds. auch für die sozialgerichtliche Feststellungsklage (BSG B 10 LW 4 / 05 R – 05.10.2006), es sei denn, es soll eine Feststellung gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ergehen, da diese nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist und demzufolge die gerichtliche Feststellung umsetzen wird, ohne dass es eines vollstreckbaren Verpflichtungs- oder Leistungsurteils bedarf (BSG B 1 KR 4 / 09 R – 27.10.2009).
Untersuchungsgrundsatz
Im sozial- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren gilt – anders als im streitigen zivilgerichtlichen Verfahren (hierzu 5.3.1) – der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz, z. T. auch „Inquisitionsmaxime“ genannt), nach dem der Sachverhalt durch das Gericht von Amt wegen ggf. durch Beweiserhebungen festgestellt werden muss (§ 103 SGG/§ 86 VwGO).
einstweiliger Rechtsschutz
Schon vor Erhebung einer bzw. vor der gerichtlichen Entscheidung über eine Klage besteht die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes (hierzu ausführlich Francke / Dörr 2010, 146 ff.), damit während der manchmal mehrjährigen Dauer der Gerichtsverfahren nicht wesentliche Rechte faktisch verloren gehen. Insoweit unterscheidet man die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1 SGG/§ 80 Abs. 5 VwGO) und den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG/§ 123 VwGO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass Tatsachen, aus denen überhaupt ein Anspruch des Antragsstellers abgeleitet werden kann (Anordnungsanspruch), und zudem ein Anordnungsgrund glaubhaft (z. B. durch eine eidesstattliche Versicherung nach § 294 ZPO) gemacht werden. Ein Anordnungsgrund liegt nur dann vor, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann, dass die aufschiebende Wirkung bzw. einstweilige Anordnung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile oder drohende Gefahren im Hinblick auf seine Rechte zu verhindern. In beiden Fällen überprüfen die Gerichte die Frage, wer denn nun eigentlich „Recht hat“, nicht umfassend, sondern lediglich in einem summarischen Verfahren, ob die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bzw. der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Hinblick auf den Streitgegenstand erforderlich und angemessen ist. Hierbei erfolgt eine Abwägung der gegenseitigen Interessen. Dabei darf grds. die Entscheidung in der Hauptsache, d. h. der normalen Klage, nicht vorweggenommen werden. Eine Ausnahme ergibt sich im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums (vgl. BVerfGE 46, 166, 181; BVerwGE 64, 318; OVG Koblenz 04.04.2003 – 12 B 10469 / 03 – NVwZ-RR 2003, 657). In aller Regel werden aber auch Sozialleistungen nicht in voller Höhe und auf Dauer, sondern nur im „zum Leben unerlässlichen“ Umfang angeordnet. Das Gericht entscheidet dann durch Beschluss (§ 86b Abs. 4 SGG/§ 123 Abs. 4 VwGO); gegen diesen ist eine „Beschwerde“ nicht immer möglich (§ 172 Abs. 3 SGG/§ 146 VwGO) bzw. nur, wenn sie vom OVG / VGH zugelassen wird (§ 146 Abs. 4 VwGO).
5.2.4 Kostenrisiken
In Sozialverwaltungsverfahren gilt bislang noch der Grundsatz der Kostenfreiheit (§ 64 SGB X), das gilt auch für das Rechtsbehelfsverfahren nach § 62 SGB X. Soweit dem Bürger selbst, z. B. durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Kosten entstanden sind, werden diese allerdings nur im Rechtsbehelfsverfahren und nur dann erstattet, wenn sie „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung“ notwendig waren (§ 63 Abs. 2 SGB X; s. o. 5.2.2. a. E.; BSG 25.02.2010 – B 11 AL 24 / 08).
Im Sozialgerichtsverfahren sowie in manchen Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsverfahren (insb. Jugendhilfe) werden nach § 183 SGG/§ 188 VwGO keine Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) erhoben. Auch besteht kein Anwaltszwang, d. h. der Bürger kann selbst Klage erheben und vor Gericht auftreten. Nur vor dem BSG (§ 166 SGG) und dem BVerwG sowie dem OVG (§ 67 VwGO) muss man sich durch einen Rechtsanwalt oder Rechtshochschullehrer mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Behörden entsenden i. d. R. Sachbearbeiter oder eigene Juristen.
Wer den Rechtsstreit im Verwaltungsgerichtsverfahren allerdings verliert, muss der anderen Partei die Kosten einschließlich der notwendigen Aufwendungen für einen Rechtsanwalt erstatten (§ 154 VwGO). Im Sozialgerichtsverfahren muss der Bürger zwar i. d. R. nicht die Kosten der Behörde erstatten, allerdings muss er selbst die notwendigen Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung durch einen ggf. hinzugezogenen Anwalt sowie die ihm u. U. vom Gericht auferlegten Kosten tragen (§§ 192 f. SGG). Das ist insb. der Fall, wenn durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm der Vorsitzende in einem Termin die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt hat (§ 192 Abs. 1 SGG).
Zwar gelten die Regelungen der Prozesskostenhilfe (PKH; s. 5.3.3) auch für das sozialgerichtliche Verfahren (vgl. § 73a SGG), PKH wird aber nicht gewährt, wenn Gerichtskostenfreiheit besteht und die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich erscheint, weil die Sache einfach gelagert ist (BVerwG NJW 1989, 665).

Francke / Dörr 2010; Krasney / Udsching 2011.
Zur Verwaltungskontrolle vgl. auch das Aufbauschema II (Gutachtliche Prüfung einer Widerspruchsentscheidung) im Anhang V-3.
5.3 Ordentliche Gerichtsbarkeit
Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit gehören alle Gerichte, denen die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die Familiensachen und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie die Strafsachen zugewiesen sind (§ 13 GVG). Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die Verfahren in zivilrechtlichen Streitigkeiten. Auf die Strafgerichte wird in Teil IV eingegangen. An die Zivilgerichtsbarkeit wendet sich der Bürger grds. nicht wegen hoheitlicher Maßnahmen (s. o. primärer Rechtsschutz), sondern weil ein Konflikt mit einem anderen Bürger (oder einer juristischen Person) nicht anders lösbar erscheint (zu den zunehmend wichtiger werdenden außergerichtlichen Streiterledigungsformen vgl. I-6) und er deshalb eine Entscheidung durch einen unabhängigen Dritten, das Gericht, erwartet (sog. sekundärer Rechtsschutz). Nur ausnahmsweise werden Hoheitsakte von den Zivilgerichten überprüft (z. B. der Eingriff in die Personensorge bei der Inobhutnahme durch das JA nach § 42 Abs. 3 SGB VIII; Amtshaftungsanspruch gegen einen Hoheitsträger nach Art. 34 GG, § 839 BGB).
Auch die ordentliche Gerichtsbarkeit ist mehrstufig aufgebaut (s. Übersicht 19) und gewährleistet dadurch eine mehrmalige Rechtskontrolle im Instanzenzug durch die Rechtsmittel Berufung und Revision. Das Amtsgericht entscheidet im Zivilverfahren stets mit einem Einzelrichter (u. a. sog. Zivil- oder Familienrichter). Beim Landgericht entscheidet entweder die Zivilkammer oder die Kammer für Handelssachen (§ 105 GVG) bzw. der Einzelrichter. Beim OLG und BGH entscheiden im Zivilverfahren die Zivilsenate. Die Amtsgerichte sind für Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 5.000 € zuständig sowie – ohne Rücksicht auf den Streitwert – insb. für Wohnraummietstreitigkeiten (§ 23 GVG). Für Familiensachen werden bei den Amtsgerichten besondere Abteilungen, die Familiengerichte und die Betreuungsgerichte, eingerichtet (§§ 23a ff. GVG). In der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird zwischen der sog. „streitigen Gerichtsbarkeit“ (allgemeine Zivilprozesse) sowie der normativ als nicht streitig angesehenen sog. „freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG-Verfahren) unterschieden.
5.3.1 Streitiges Gerichtsverfahren
Zur streitigen Gerichtsbarkeit gehören neben den allgemeinen zivilrechtlichen Streitigkeiten auch das sog. Mahnverfahren (§§ 688 ff. ZPO), das Zwangsvollstreckungsverfahren (§§ 704 ff. ZPO) sowie das Insolvenzverfahren (§§ 11 ff., §§ 304 ff. InsO). Das streitige Gerichtsverfahren beginnt i. d. R. mit einer Klage (§ 253 ZPO) bzw. einem Mahnantrag (§ 690 ZPO) und endet mit einem Urteil (§§ 300 ff. ZPO). Die Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen Kläger und Beklagtem kann aber auch nach §§ 1025 ff. ZPO durch ein privates Schiedsgericht erfolgen (vgl. 6.2.3).
Im Hinblick auf den Streitgegenstand und die Beweisführung gilt im streitigen Verfahren der sog. Beibringungsgrundsatz, d. h. das Gericht ist an die Tatsachen, die von den Parteien vorgebracht werden, gebunden (eine Ausnahme gilt z. B. bei falschen Eingeständnissen zugunsten der gegnerischen Partei, vgl. § 138 Abs. 1 ZPO). Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, gelten grds. als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Beweislast
Werden Sachverhalte bestritten, müssen sie grds. von der Partei bewiesen werden, die sich auf sie beruft. Eine Prüfung von Tatsachen von Amts wegen erfolgt nur ausnahmsweise, z. B. im Hinblick auf Prozessvoraussetzungen oder die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen.
Zwangsvollstreckung
Insolvenzverfahren
Die Zwangsvollstreckung ist das staatliche Verfahren zur zwangsweisen Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Die eigenmächtige Durchsetzung (Selbstjustiz) auch von berechtigten Forderungen ist grds. rechtswidrig und nur ausnahmsweise in den Grenzen der erlaubten Selbsthilfe (z. B. zu Gefahrenabwehr, §§ 229, 562b, 859 BGB) zulässig. Unterschieden werden die Zwangsvollstreckung wegen privatrechtlicher Einzelforderungen, die Zwangsmaßnahmen nach dem FamFG (z. B. die Auferlegung von Zwangsmitteln nach § 35 FamFG), die strafrechtliche Strafvollstreckung (hierzu IV-3.2) sowie die Verwaltungsvollstreckung (hierzu III-1.5). Von der (zivilrechtlichen) Zwangsvollstreckung zu unterscheiden ist das sog. Insolvenzverfahren, bei dem es nicht um eine Einzelforderung gegen den Schuldner geht, sondern der Schuldner zahlungsunfähig ist und die gegen ihn gerichteten Forderungen insgesamt nicht bedienen kann (zum sog. Privat- bzw. Verbraucherinsolvenzverfahren vgl. II-1.3.1.2).
Die privatrechtliche Zwangsvollstreckung ist nicht schon zulässig, wenn jemand seine vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Vielmehr muss der Gläubiger bei Leistungsstörungen grds. vor Gericht klagen und einen Vollstreckungstitel erwirken, den er insb. mit einem rechtskräftigen Urteil erlangt (§§ 704, 794 ZPO). Im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung ist ein Gerichtsverfahren nicht notwendig, vielmehr genügen ein bestandskräftiger VA (hierzu II-1.4.1.2) und eine Vollstreckungsanordnung. Behörden können sich somit durch einen Bescheid ihre Vollstreckungstitel selbst schaffen, wenn sich der Bürger nicht rechtzeitig dagegen wehrt (insb. durch Widerspruch).
Pfändung
Aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols dürfen grds. nur staatliche Gerichte (Vollstreckungsgericht) sowie die Gerichtsvollzieher die Zwangsvollstreckung insb. durch Pfändung (entweder Forderungsüberweisung oder Beschlagnahme von beweglichen Sachen, sichtbar durch den „Kuckuck“ als Pfandsiegel) durchführen.
Zur Gewährleistung eines Existenzminimums hat der Gesetzgeber sog. Pfändungsfreigrenzen bestimmt, die sich nach dem Nettoeinkommen und der Zahl der unterhaltspflichtigen Personen richten (§§ 850 ff. ZPO). Sie betragen derzeit für eine Einzelperson 1049,99 €, bei einer unterhaltspflichtigen Person 1439,99 € sowie zusätzlich 220 € für jede weitere unterhaltspflichtige Person (wenn der Schuldner den Unterhalt auch tatsächlich zahlt). Vom Einkommen, welches über die Pfändungsfreigrenzen hinausgeht, verbleibt ein Teil ebenfalls beim Schuldner. Allerdings sind bestimmte Einkommensbestandteile (z. B. Aufwandsentschädigungen, Gefahrenzulagen, Erziehungsgelder und Studienbeihilfen) sowie unterschiedliche Formen von Renten- und Unterstützungsleistungen der Pfändung nicht oder nur bedingt unterworfen (§§ 850a, 850b ZPO). Im Fall der Vollstreckung von Unterhaltsansprüchen gelten die in § 850c ZPO bezeichneten Pfändungsgrenzen nicht (§ 850d ZPO). Besonderheiten gelten für die Pfändung von Girokonten: Seit dem 01.07.2010 können Kontoinhaber ihr Girokonto in ein Pfändungsschutzkonto (sog. P-Konto) umwandeln lassen, bei dem der Schuldner ohne gerichtliches Verfahren einen automatischen Basis-Pfändungsschutz in Höhe des unpfändbaren Freibetrags erhält (§ 850k ZPO). Die Erhöhung der Pfändungsfreigrenzen führt gleichzeitig zur Erhöhung des Sockelpfändungsschutzes beim P-Konto.
5.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Mit freiwilliger Gerichtsbarkeit bezeichnet man eine Reihe ganz unterschiedlicher Angelegenheiten, die von den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, z. T. auch von Notaren und Behörden, nach dem zum 01.09.2009 in Kraft getretenen „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) wahrgenommen werden und sich gerade dadurch – unabhängig von ihrem höchst unterschiedlichen Themenkreis – von den streitigen Verfahren nach der ZPO abgrenzen (ausführlich Jurgeleit 2010; Meysen 2014). Neben den Familiensachen (§§ 111 ff. FamFG), für die das FamFG eine bereichsspezifische Verfahrensordnung darstellt (hierzu ausführlich II-2.1 u. II-2.4.6), gehören nach § 23a GVG zu den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit insb.
■ Betreuungssachen (§§ 271 ff. FamFG),
■ Unterbringungssachen (§§ 312 ff. FamFG),
■ betreuungsgerichtliche Zuweisungssachen (§§ 340 f. FamFG),
■ Nachlass- und Teilungssachen (§§ 342 ff. FamFG),
■ Registersachen und unternehmensrechtliche Verfahren (§§ 374 ff. FamFG),
■ Verfahren in Freiheitsentziehungssachen (§§ 415 ff. FamFG),
■ Aufgebotsverfahren (§§ 433 ff. FamFG),
■ Grundbuchsachen (§ 23a Abs. 2 Nr. 8 GVG),
■ sonstige Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, soweit sie durch Bundesgesetz den Gerichten zugewiesen sind (§ 23a Abs. 2 Nr. 11 GVG; §§ 410 ff. FamFG).
Zum Teil (z. B. Beurkundungen, Grundbuchsachen) handelt es sich um Rechtspflegeakte, die auch als verwaltungsähnliche Tätigkeit qualifiziert und deshalb Rechtspflegern übertragen werden. Einige sog. Unterhalts- und Güterrechtskonflikte gelten als sog. Familienstreitsachen (§§ 112 f. FamFG), weshalb insoweit auch einige Regelungen der ZPO entsprechende Anwendung finden.
Untersuchungsgrundsatz
In den Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit spricht man nicht von Klage (und damit auch nicht von Kläger und Beklagtem), vielmehr wird das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag tätig. Man spricht deshalb vom Antragsteller und den Beteiligten. Das Verfahren endet i. d. R. nicht mit einem Urteil, sondern durch Beschluss (§§ 38 ff., 95 Abs. 2 FamFG), wogegen das Rechtsmittel der Beschwerde (nicht Berufung) eingelegt werden kann (§§ 58 ff. FamFG). In vielen Angelegenheiten besteht kein Anwaltszwang (Ausnahme teilweise in Familiensachen, § 113 FamFG). Anders als in den streitigen Zivilprozessen gilt in der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Untersuchungs- bzw. Amtsermittlungsgrundsatz, d. h. das Gericht entscheidet selbst, welche Ermittlungen es anstellt und welche Beweismittel es heranzieht. Die Verhandlungen sind meist nicht öffentlich (§ 170 Abs. 1 GVG) oder werden oft ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage entschieden.






