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Zwei-Stufen-Theorie
Gelegentlich werden öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Handlungsformen miteinander verknüpft. So schließt sich auf der Grundlage einer öffentlichen Entscheidung, z. B. über die Bewilligung einer Leistung („Ob“), ein privatrechtlicher Vertrag an, der das „Wie“ der Leistung, also die Einzelheiten der Vergabe regelt. Nach dieser sog. Zwei-Stufen-Lösung/-Theorie richtet sich die Bewilligung der Leistung nach dem öffentlichen Recht, womit wieder v.a. die Grundrechte Geltung beanspruchen. Die Ausgestaltung der Rechtsbeziehung im Einzelnen erfolgt dann nach den privatrechtlichen Regelungen (z. B. Miet-, Darlehensvertrag).
Rechtsweg
Wichtig ist diese Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht vor allem zur Bestimmung des Rechtsweges bei Konflikten zwischen Verwaltungsträgern oder Bürgern und Verwaltung. Nur wenn eine öffentlich-rechtliche Regelung gegenüber dem Bürger getroffen worden ist, z. B. durch einen Leistungs- oder Gebührenbescheid oder einen anderen Verwaltungsakt (hierzu III- 1.3.1), kann der betroffene Bürger den besonderen, für ihn in aller Regel günstigeren Verwaltungsrechtsweg beschreiten. Insbesondere besteht hier ein geringeres Kostenrisiko (z. B. ist das Verfahren in Jugendhilfe- und Sozialhilfeverfahren gerichtskostenfrei); zudem gilt im Verwaltungsgerichtsverfahren das Prinzip der Amtsermittlung, während der Beteiligte eines Zivilverfahrens selbst die Tatsachen und Beweise beibringen muss.
1.1.5 Europäisches Gemeinschafts- und Völkerrecht
1.1.5.1 Europäische Union und Europarecht
Europäische Verträge
Grundlage der Europäischen Union waren die sog. Pariser Verträge von 1954 (durch die das Besatzungsstatut über Westdeutschland beendet und dieses in den militärischen WEU-Beistandspakt eingegliedert wurde) und die „Römischen Verträge“ zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden, mit denen 1957 zunächst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG 1957) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom / EAG) gegründet wurden, sowie der bereits 1951 geschlossene Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, sog. Montanunion). Durch den sog. Maastricht-Vertrag vom 07.02.1992 wurde der ergänzende EU-Vertrag zur politischen Zusammenarbeit geschlossen (eigentlicher Gründungsakt der Europäischen Union; zur Ratifikation des Maastrichter Vertrags vgl. BVerfG 2 BvR 2134, 2154 / 92 – 12.10.1993 – E 89, 155). Einige Änderungen des EWG-Vertrages wurden vorgenommen (insb. Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen sowie institutionelle Änderungen, z. B. Einführung des Europäischen Währungsinstituts als Vorgängerinstitution der Europäischen Zentralbank, die am 01.06.1998 ihre Arbeit aufnahm, vgl. Art. 282 AEUV; zudem Festlegung der sog. Konvergenzkriterien zur Sicherung der Preisstabilität und Begrenzung des Haushaltsdefizits). Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt, ohne dass damit die drei Teilgemeinschaften aufgelöst wurden (der Vertrag zur Montanunion ist allerdings 2002 nach 50 Jahren außer Kraft getreten). Zu differenzieren war nun zwischen der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Union (EU), wobei sich Letztere als – im Unterschied zur EG noch nicht rechtsfähige – „Dachorganisation“ auf die EG, aber auch auf die zwischenstaatliche polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit im Strafrechtsbereich (PJZS) sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherpolitik (GASP) stützte (sog. Drei-Säulen-Modell; vgl. Haltern 2017, § 2C).
Europäische Union
Allerdings waren mit dieser Struktur wesentliche inhaltliche Fragen wie z. B. die Entscheidungsmechanismen oder die Frage einer Unionsbürgerschaft nicht geklärt worden; das Legitimitätsdefizit des Europäischen Parlaments blieb bestehen. Auch die Bemühungen zugunsten einer gemeinsamen Sozialpolitik waren bis dahin gescheitert (vgl. Haltern 2017, § 2C). Mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 wurden die Mitwirkungsbefugnisse des Europäischen Parlaments erweitert (z. B. Zustimmung bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten), im Hinblick auf eine zu koordinierende Außenpolitik wurde das Amt des Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eingeführt, wichtige Schritte zu einer institutionellen Reform der EU aber vertagt. Mit dem Vertrag von Nizza 2001 beauftragten die Mitgliedstaaten einen Konvent zur Schaffung einer europäischen Verfassung inklusive der bereits in Nizza feierlich verabschiedeten, aber noch nicht rechtlich verbindlichen Grundrechtecharta. Allerdings scheiterte der Verfassungsvertrag nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden.
Nicht zuletzt wegen der verfassungsrechtlichen Problematik und nationalen Vorbehalte etablierte sich Europa weniger als Gemeinschaft der Bürger, sondern eher als gemeinschaftlicher Wirtschaftsraum. Im Alltag besonders sichtbar war die Einführung des Euro am 01.01.2002 (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 EUV). Mittlerweile (2017) ist der Euro das offizielle Zahlungsmittel in 19 der (noch)28 EU-Staaten (zuletzt ab 2015 auch Litauen) und 6 weiteren Staaten (Andorra, San Marino, Monaco, Vatikanstaat, Kosovo, Montenegro).
Die „Verfassung“ der Europäischen Union
Mit dem am 13.12.2007 unterzeichneten Lissabon-Vertrag wurden die ursprünglichen EG- und EU-Verträge geändert, das Drei-Säulen-Modell aufgegeben und ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen geschaffen, wobei wesentliche Inhalte des gescheiterten EU-Verfassungsvertrages übernommen wurden, ohne den neuen Vertrag als Verfassung zu bezeichnen. Der seit Maastricht bestehende „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) wurde damit zum Grundlagenvertrag, der die Ziele und Grundsätze und die Organe der Europäischen Union (EU) beinhaltet. Der noch aus dem Jahr 1957 stammende „Vertrag über die Gründung der Europäischen Union“ (erst EWGV, später EGV) ist in den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (jetzt AEUV) überführt worden, der die konkreten Aufgaben und Maßnahmen der EU-Organe und die Politikfelder der EU im Einzelnen regelt (von Boetticher in Münder 2011, 129 f.). Die Europäische Gemeinschaft hat damit aufgehört zu existieren, ihre Zuständigkeiten wurden auf die EU übertragen, die damit eine eigene Rechtspersönlichkeit erhielt und seitdem als Völkerrechtssubjekt in eigenem Namen handeln kann.
Zuständigkeit der EU
Im Unterschied zu einem souveränen Staat besitzt die EU aber nur die Kompetenzen, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen wurden (sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen, Art. 5 Abs. 2 EUV). Darüber hinaus hat sie das Subsidiaritätsprinzip (also den Grundsatz, nur solche Aufgaben wahrzunehmen, die nur auf einer übergeordneten Ebene sinnvoller umsetzbar sind als auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene) und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. 2.1.2.2) zu beachten (Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV). Art. 2 ff. des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unterscheidet zwischen ausschließlichen, geteilten und unterstützenden Zuständigkeiten. So ist die EU u. a. für die Handelspolitik und Zollunion ausschließlich zuständig; die Zuständigkeiten z. B. für den Binnenmarkt, für Landwirtschaft und Fischerei, Energie und Verkehr, Umwelt und Verbraucherschutz sowie Teile der Sozialpolitik (Art. 151 AEUV) sind zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilt, d. h. soweit die Union nicht tätig wurde, können die Mitgliedstaaten Gesetze erlassen (vgl. in Deutschland das Modell der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern nach Art. 72 Abs. 1, 74 GG). Unter anderem in der Gesundheits-, Industrie- und Bildungspolitik sowie im Katastrophenschutz ist die EU auf Unterstützungsmaßnahmen beschränkt (vgl. Art. 6 AEUV). Soweit der EU eine Zuständigkeit zukommt, besitzt sie auch die Rechtsetzungskompetenz. Die Außen- und Sicherheitspolitik (bislang GASP) gilt weiterhin als sog. intergouvernementaler Bereich, d. h. die Entscheidungskompetenz verbleibt bei den Mitgliedsstaaten und die EU kann nur Leitlinien durch einstimmigen Beschluss festlegen (vgl. Art. 24 EUV). Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit (früher PJZS) wurde intensiviert und mit der bereits 2002 gegründeten Eurojust eine eigene Justizbehörde zur Unterstützung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung eingerichtet (Art. 85 AEUV, s. IV-1.3).
Der Vertrag von Lissabon ist ein weitgehender Schritt zur europäischen Integration, haben doch die Staaten auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität verzichtet (für Deutschland vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) und die Union mit eigenen, von den Mitgliedstaaten unabhängigen Machtbefugnissen ausgestattet. Gerade deshalb war der Lissabon-Vertrag in einigen Mitgliedstaaten, vor allem in Großbritannien, äußerst umstritten. Nach dem Urteil des BVerfG entspricht der EU-Vertrag, auch i. d. F. des Vertrages von Lissabon, den Vorgaben des Grundgesetzes, allerdings müsse durch entsprechende Begleitgesetze bei der Ratifizierung sichergestellt werden, dass die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat sowie der Bundesländer gewahrt bleiben (BVerfG 2 BvE 2/08 et al. – 30.06.2009). Nachdem Tschechien als letzter Mitgliedstaat die Ratifizierungsurkunde im November 2009 hinterlegt hatte, konnte der Vertrag von Lissabon am 01.12.2009 in Kraft treten. Der EU fehlt allerdings die einen Staat kennzeichnende Allzuständigkeit und die Befugnis, sich selbst neue Zuständigkeiten zu verschaffen (sog. Kompetenz-Kompetenz). Sie ist daher noch kein staatlicher Verband, sondern ein zwischen diesen traditionellen Modellen von Staatenverbindungen einzuordnender Herrschaftsverband oder Staatenverbund (sog. supranationale Organisation; vgl. Borchardt 2015, 85; BVerfG 2 BvR 2134, 2154/92 – 12.10.1993 – Rz. 112), mit nunmehr – nach dem Beitritt Kroatiens zum 01.07.2013 – 28 Mitgliedstaaten und einer Bevölkerung von mehr als 500 Mio. Menschen.
Organe der EU

Die Hauptakteure im institutionellen System der EU sind die Organe der EU (Art. 13 EUV), insb. das Europäische Parlament, der Europäische Rat sowie der (sog. Minister-)Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission, der Gerichtshof der EU (EuGH, hierzu 5.1), die Europäische Zentralbank sowie der Europäische Rechnungshof (vgl. Borchardt 2015, 70 f.; Schulze et al. 2015, 41ff.). Im Zusammenspiel der Institutionen der EU stärkte der Lissabon-Vertrag durch das Budgetrecht sowie die Zuständigkeit für die Wahl des Kommissionspräsidenten (Art. 14 EUV) die Befugnisse des Europäischen Parlaments im Rahmen der Mitwirkung an der Gesetzgebung. Während das EU-Parlament ursprünglich nur ein Beratergremium war, wurde es nun ein (Mit-)Entscheidungsorgan, welches unmittelbar durch die Bürger der Union demokratisch legitimiert ist. Das Europäische Parlament besteht aus einer Kammer mit bis zu 750 Abgeordneten, die alle fünf Jahre (zuletzt am 25.05.2014) in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt werden (Art. 14 Abs. 3 EUV). Die Anzahl der Parlamentarier aus den einzelnen Mitgliedstaaten hängt von deren Bevölkerungszahl ab, beträgt jedoch mindestens sechs (Luxemburg, Malta, Zypern) und maximal 96 Sitze (Deutschland) pro Mitgliedstaat (Art. 14 Abs. 2 EUV). Das EU-Parlament wird (wie die EU insgesamt) für vieles kritisiert, was es nicht selbst zu verantworten hat (z. B. begrenzte Entscheidungskompetenz, hohe Kosten und Bürokratie aufgrund der drei Standorte [zwei Plenarsäle in Straßburg und Brüssel sowie ein Generalsekretariat in Luxemburg]). Zudem wird es von den nationalen Regierungen oft für nationale Themen missbraucht und musste sich seine Zuständigkeiten geradezu erkämpfen. In den letzten Jahren war es vor allem dem EU-Parlament zu verdanken, dass Regelungen zugunsten des Verbraucherschutzes nicht weiter ausgehöhlt wurden, z. B. die von der Kommission initiierte Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung, die Aushöhlung des internationalen Urheberschutzes durch das sog. Acta-Abkommen abgewehrt und eine einheitliche Bankenaufsicht geschaffen werden konnte. Anders als die nationalen Regierungen und Parlamente versucht das EU-Parlament zumindest, die Abhörpraktiken von NSA und britischen Geheimdiensten zu untersuchen.

http://www.europarl.europa.eu/portal/de
Der Europäische Rat, dem die Staats- und Regierungschefs sowie die Präsidenten von Parlament und Kommission angehören (Art. 15 EUV), hat einen eigenen Präsidenten (seit Dez. 2009, im März 2017 wurde Donald Tusk für eine zweite Amtszeit bis November 2019 wiedergewählt – gegen die Stimme seines Herkunftslandes Polen) und ist verantwortlich für die grundlegenden politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU (z. B. Beitritt neuer Mitglieder, Art. 49 EUV, und Austritt von Mitgliedern, Art. 50 EUV, wie im aktuellen Fall des sog. „Brexit“ von Großbritannien), er wird aber nicht gesetzgeberisch tätig. Zusammen mit dem Rat der EU der Fachminister der Mitgliedstaaten (informell sog. Ministerrat) bildet er die eigentliche Regierung der EU, wobei der Ministerrat – zusammen mit dem Europäischen Parlament – gleichzeitig auch als Legislativorgan der EU fungiert (Art. 16 EUV). Während die Beschlussfassung im Europäischen Rat weiterhin grds. dem Konsensprinzip folgt (bei Personalentscheidungen qualifizierte Mehrheit), folgt das Verfahren zur Beschlussfassung im Ministerrat nach Ablauf einer Übergangszeit seit dem 01.04.2017 dem Grundsatz der sog. qualifizierten, „doppelten“ Mehrheit, wonach mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 % der Bevölkerung der EU repräsentieren, den Gesetzgebungsvorschlag unterstützen müssen.Weiterhin einstimmig werden allerdings u. a. alle Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Steuern entschieden. Hintergrund für diese komplizierten und differenzierten Abstimmungsregeln ist zum einen der jeweils damit verbundene Verlust von Mitsprachemöglichkeiten bezüglich Regelungen, die gleichwohl im eigenen Land verbindlich gelten, zum anderen die Sorge der kleineren Mitgliedstaaten vor einer erdrückenden Dominanz durch die großen Mitgliedstaaten.

http://www.consilium.europa.eu/de/european-council/, 27.06.2017
Die Europäische Kommission (Art. 17 EUV) mit Sitz in Brüssel, die sich aus je einem (nicht von den nationalen Regierungen weisungsabhängigen) „Kommissar“ aus den 28 Mitgliedsländern zusammensetzt (zum Auswahlverfahren s. Art. 244 AEUV), hat im Wesentlichen exekutive Aufgaben, ohne schon als eigenständige Regierung gelten zu können. Sie hat allerdings das Initiativrecht zur Unionsgesetzgebung (Art. 17 Abs. 2 EUV, mitunter sogar die Verpflichtung; vgl. Art. 241 AEUV) und verfügt darüber hinaus über punktuelle, „abgeleitete“ Rechtssetzungsbefugnisse (Art. 290 AEUV). Die Kommission führt den Haushaltsplan der Union aus und verwaltet die EU-Programme. Darüber hinaus überwacht sie die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs (hierzu 5.1.2). Schließlich vertritt die Kommission die EU in internationalen Organisationen. Hierzu besitzt sie einen Präsidenten mit Richtlinienkompetenz (seit 2014: Jean-Claude Juncker) sowie als ersten (von sieben) Vizepräsidenten den sog. Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der somit eine Doppelzuständigkeit hat (Art. 17 f. EUV; seit 2009: Federica Mogherini). Nach Art. 17 Abs. 7 EUV wird der Präsident auf Vorschlag vom EU-Parlament für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Auch die Gesamtheit der Kommissarinnen (aktuell: 9) und Kommissare bedarf der Zustimmung des Parlaments vor ihrer Ernennung durch den Europäischen Rat (https://ec.europa.eu/commission/index_de).

Die EU ist nicht zu verwechseln mit dem bereits 1949 statuierten Europarat (Conseil de lʼEurope) mit Sitz in Straßburg, dessen Aufgabe sich auf eine engere Zusammenarbeit seiner – über die EU hinausreichenden – derzeit 47 Mitglieder beschränkt. Hierbei fördert er den wirtschaftlichen wie sozialen Fortschritt sowie die europäischen Ideale, insb. die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – und die Europäische Sozialcharta, s. u.), deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR – überwacht wird (s. 1.1.5.2, ebenso dort zum EuGH, dem Gerichtshof der Europäischen Union, https://www.coe.int/de/).

Europarecht
Als Recht der Europäischen Union oder schlicht Europarecht bezeichnet man die Gesamtheit des Europäischen Gemeinschaftsrechts (EU-Recht) und der sonstigen im Bereich der EU geltenden Rechtsnormen (hierzu Borchardt 2015, 71ff.; Haltern 2017; Schulze et al. 2015). Durch die der EU übertragenen Rechtssetzungsbefugnisse und gefördert durch die Rechtsprechung des EuGH konnte sich eine eigene autonome Rechtsordnung entwickeln. Das EU-Recht wird in das sog. primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht unterteilt. Das EU-Primärrecht besteht aus den genannten (Gründungs-)Verträgen (heute EUV und AEUV, die zusammen mit der EU-Grundrechtecharta [s. u.] das Fundament der EU bilden) sowie den Änderungsverträgen (zuletzt Vertrag von Lissabon 2007) mit Anhängen und sog. Protokollen sowie den Beitrittsakten, die in Deutschland jeweils nach Ratifizierung durch den Gesetzgeber (Bundestag und Bundesrat) wie auch in den anderen Mitgliedsländern der EU in Kraft traten. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht sind die Rechtsnormen, die darauf basieren und von den Organen der EU (Ministerrat und Europäisches Parlament unter Mitwirkung der Kommission) erlassen werden. Art. 288 AEUV unterscheidet zwischen Verordnungen, Richtlinien, Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen.
EU-Verordnungen
EU-Verordnungen (ältere VO bzw. RL aus den Zeiten der EWG bzw. EG behalten ihre alte Bezeichnung) haben allgemeine Geltung und sind – wie das über die Programmsätze hinausreichende primäre Gemeinschaftsrecht – in allen ihren Teilen in jedem Mitgliedstaat unmittelbar verbindlich (Gesetzescharakter, vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Verordnungen werden in der Regel auf Vorschlag der Europäischen Kommission vom Rat der EU und dem Europäischen Parlament im sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen und im Amtsblatt der EU veröffentlicht.
Von besonderer sozialrechtlicher Bedeutung war die VO EWG 1408/71 -14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf ArbN und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die am 01.05.2010 durch die VO EG 883/2004 i.V.m. der VO EG 987/2009 abgelöst wurde. Zwar ist es allein Sache der Mitgliedstaaten, Art und Voraussetzungen der Sozialleistungsansprüche zu regeln, die VO EG 883/2004 stellt aber u. a. sicher, dass man bei einem Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat seinen Krankenversicherungsschutz und seine Rentenansprüche nicht verliert (Zusammenrechnung von Beschäftigungs- und Versicherungszeiten).
Zur Weiterentwicklung des koordinierenden Sozialrechts hat die EU-Kommission am 13.12.2016 einen „Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004“ vorgelegt (COM [2016] 815 final). Demnach sollen in der Verordnung 883/2004 u. a. die Rechtsprechung des EuGH zur Zulässigkeit von Ausschlüssen nicht erwerbstätiger Unions-Bürger von Leistungen der Sozialhilfe aufgenommen werden, ebenso Regelungen zur Koordinierung der Leistung bei Pflegebedürftigkeit und von Familienleistungen als Einkommensersatz, sowie die Möglichkeiten ausgedehnt werden, Arbeitslosengeld für längere Zeit auch im Ausland beziehen zu können. Der Diskussionsprozess um dieses Reformvorhaben wird sich voraussichtlich noch mehrere Jahre hinziehen. Zugleich wird er Aufschluss darüber geben, ob sich die Mitgliedstaaten angesichts der gegenwärtigen, u. a. durch den Brexit (s. o.) beflügelten Richtungsdiskussion auf eine Stärkung der EU als Sozialunion verständigen können oder nicht.
Die sog. Brüssel- bzw. Rom-Verordnungen I, IIa und III regeln die Zuständigkeit von Gerichten und Behörden in der EU. Die sog. Brüssel-I-VO vom 22.12.2000 (EuGVO, EG-VO Nr. 44/2001) regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte gegenüber einem Beklagten, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU hat, sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aus anderen Mitgliedstaaten. Die EuGVO wurde im Bereich des Ehe- und Kindschaftsrechts durch die Brüssel-IIa-Verordnung (EuEheVO) vom 27.11.2003 (in Deutschland seit dem 01.03.2005 in Kraft) ergänzt. Seit dem 21.06.2012 gilt die sog. Rom-III-Verordnung in 14 der Mitgliedstaaten (u. a. in Deutschland), nach der im Hinblick auf das anzuwendende Recht künftig stärker an den gewöhnlichen Aufenthalt und nicht vorrangig die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird (hierzu 1.1.6). Auf dem Gebiet der gemeinsamen europäischen Asylpolitik ist insb. auf die (politisch umstrittene) sog. Dublin-III-Verordnung von 2013 zu verweisen, die seit dem 01.01.2014 unmittelbar anzuwendendes Recht ist und nach der u. a. grds. derjenige EU-Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem zuerst ein Gebietskontakt bestand bzw. Asylantrag gestellt wurde (hierzu IV-3.2).
EU-Richtlinien
Im Unterschied zu den EU-Verordnungen umreißen die EU-Richtlinien zunächst nur einen gesetzlichen Rahmen und verpflichten die nationalen Gesetzgeber zu einem Transformationsakt, durch den das nationale Recht an die jeweilige Richtlinie angepasst wird (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Die EU-Richtlinien (früher EWG- bzw. EG-Richtlinien) richten sich deshalb zunächst nur an die Mitgliedstaaten, die bei ihrer Umsetzung in Abhängigkeit vom Inhalt einen gewissen Gestaltungsspielraum haben, wobei sie zur Umsetzung innerhalb einer bestimmten Frist – i. d. R. von 2 Jahren – verpflichtet sind. Neben dem Abbau von Handelshemmnissen haben die Richtlinien häufig eine verbraucherschützende Zielsetzung (vgl. z. B. Produkthaftungsgesetz, AGB gem. §§ 305 ff. BGB; Verbraucher- und Fernabsatzverträge gem. §§ 312 ff. BGB, hierzu II-1.3.1.1, oder Verbrauchsgüterkauf gem. §§ 474 ff. BGB, hierzu II-1.4.2.1) und etablieren europaweite Sicherheits- und Gesundheitsstandards (insb. in arbeitsrechtlicher Hinsicht, hierzu V-3). Für den Bereich der Sozialen Arbeit besonders bedeutsam waren/sind z. B.
■ 79/7/EWG vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes auf Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit;
■ 93/104/EG vom 23.11.1996: sog. Arbeitszeitrichtlinie (Auswirkungen auf den Schwerbehindertenzusatzurlaub aus § 125 Abs. 1 S. 1 SGB IX; BAG, 23.03.2010 – 9 AZR 128/09);
■ 97/81/EG vom 15.12.1997 (Teilzeitarbeit) und Richtlinie 2000/78/EG 27.11.2000 zum Schutz vor Diskriminierung wegen des Alters; vgl. hierzu EuGH, 19.01.2010 – C-555/07 und BVerwG, 25.03.2010 – 2 C 72.08);
■ 2000/43/EG vom 29.06.2000 sog. Antirassismus-Richtlinie sowie die Gender-Richtlinien 2002/73/EG und 2004/113/EG wurden durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom August 2006 (AGG) bislang nur teilweise umgesetzt (vgl. 2.1.2.4 u. IV-3.2);
■ 2004/38/EG vom 29.04.2004 über die Freizügigkeit von Unionsbürgern (s. u.);
■ 2008/52/EG vom 21.05.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen (hierzu 6.2);
■ 2011/36/EU vom 15.04.2011 zur Bekämpfung von Menschenhandel und zum Opferschutz;
■ 2013/11/EU vom 21.05.2013 über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten (hierzu I-6);
■ 2013/33/EU vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-Richtlinie, hierzu III-8.3)
■ 2014/54/EU vom 16.04.2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen (s. u.).
Heftig umstritten war die RL 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung (s. a. 2.2.5, III-1.2.3), durch die nationale Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten zur Speicherung von Telekommunikationsdaten zugunsten einer effektiven Strafverfolgung vereinheitlicht werden sollten. In Deutschland war diese Richtlinie aufgrund des Widerstands der Bundesjustizminister/-in bis ins Jahr 2014 zunächst nicht umgesetzt worden, weshalb Deutschland von der EU-Kommission wegen Nichtumsetzung unter Androhung einer Millionenstrafe vor dem EuGH verklagt wurde. Allerdings hat der EuGH aufgrund einer Vorlage der obersten Gerichte in Irland und Österreich im April 2014 in einem geradezu historischen Urteil die RL für ungültig erklärt, weil die anlasslose Vorratsdatenspeicherung die Grundrechte auf Datenschutz und Achtung der Privatsphäre verletzt und gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt (EuGH C-293/12 u. C-594/12 – 08.04.2014; s. a. I-5 u. III-1.2.3). Demzufolge wird auch die Verfassungsmäßigkeit des nunmehr vorliegenden deutschen Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10.12.2015, das im Wesentlichen Änderungen der StPO und des Telekommunikationsgesetzes betrifft, von Kritikern bezweifelt. Jedoch blieben Eilanträge gegen das Gesetz vor dem BVerfG erfolglos. Nach Auffassung des BVerfG stellen sich auch nach der Entscheidung des EuGH vom 21.12.2016 hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bewertung noch Fragen, die nicht zur Klärung im Eilrechtsschutzverfahren geeignet seien (BVerfG 26.03.2017 – 1 BvR 3156/15 und 1 BvR 141/15).






