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EU-Beschlüsse
Im Hinblick auf die Terminologie und zur Abgrenzung möchten wir auf den von der traditionellen deutschen Rechtssprache verschiedenen Gebrauch der Begriffe hinweisen. EU-Verordnungen sind keine „abgeleiteten“ Rechtsquellen wie die deutsche Rechtsverordnung (1.1.3.3), sondern haben originären Gesetzescharakter mit Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht. Auch die EU-Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) haben den Charakter von Rechtsnormen, sind verbindlich und nicht nur verwaltungsinterne Regelungen. Sie müssen allerdings durch ein Gesetz (im materiellen Sinn; nicht ausreichend ist eine Verwaltungsvorschrift) in nationales Recht umgesetzt werden. Wird diese Anpassung der EU-RL in nationales Recht versäumt, können sich aus den EU-Richtlinien unter bestimmten, vom EuGH näher konkretisierten Voraussetzungen auch unmittelbare Rechtswirkungen ergeben. Sogar eine Schadensersatzpflicht wegen mangelnder Umsetzung zum Schaden der Bürger kann die Folge sein. EU-Beschlüsse, z. B. bei Personal- oder anderen (z. B. wettbewerbsrechtlichen) Einzelfallentscheidungen, z. B. der EU-Kommission oder Sanktionen des EU-Ministerrats (z. B. im Defizitverfahren nach § 126 Abs. 9 und 11 AEUV) sind in allen ihren Teilen für die jeweiligen Adressaten verbindlich (vgl. Art. 288 Abs. 4 AEUV), sie entsprechen funktional dem deutschen Verwaltungsakt (hierzu III-1.3.1.2). Dagegen sind Empfehlungen und Stellungnahmen nicht verbindlich (vgl. Art. 288 Abs. 5 AEUV).
Supranationales Recht
Das Unionsrecht bildet eine eigenständige, originär europäische Rechtsordnung (sog. supranationales Recht; i.E. Borchardt 2015, 83). Das Europarecht beeinflusst die (nationale) Rechtspraxis nicht nur im öffentlichen Auftrags- und Subventionsrecht, Außenwirtschaftsrecht, dem Kartell- oder Verbraucherrecht; die europäischen Vorgaben wirken auch in Sachgebiete hinein, die traditionell dem nationalen Recht vorbehalten waren, z. B. Kaufrecht, Arbeitsrecht, Zivilprozessrecht oder die polizeiliche oder strafrechtliche Sozialkontrolle. Mithin ergibt sich ein Dualismus von Unionsrecht und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten; das Verhältnis der beiden zueinander ist nicht ganz einfach und z. T. auch zwischen EuGH und BVerfG umstritten (hierzu Ludwigs/Sikora 2016). Das Primärrecht und das auf der Grundlage des EU-Vertrages erlassene Sekundärrecht verdrängen, soweit sie unmittelbar gelten (also auch EU-Verordnungen), entgegenstehendes nationales Recht jeder Art und Form, also auch Verfassungsrecht (vgl. bereits EuGH 26/20 - 05.02.1963 van Gend & Loos; EuGH 6-64 - 15.07.1964 – Costa/ENEL). EU-Richtlinien formen das deutsche Recht, bei dessen Anwendung im Übrigen stets eine unionskonforme Auslegung geboten ist. Die Missachtung des EU-Rechts kann unter bestimmten Voraussetzungen zu Amtshaftungsansprüchen führen (Schulze et al. 2015, 38). Obwohl das Unionsrecht prinzipiell Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt, soll der Vorrang des Unionsrechts nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nicht absolut gelten, sondern nur „solange“ das Handeln der Unionsgewalt nicht offensichtlich und „hinreichend qualifiziert“ kompetenzwidrig ist („ultra vires“ – „ohne Vollmacht“) und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und der EU führt. Das BVerfG selbst beansprucht diesen Kontrollvorbehalt, wobei es sich allerdings selbst sehr enge Beschränkungen auferlegt (zur sog. Ultra-Vires-Kontrolle vgl. BVerfG 2 BvR 2661/06 - 06.07.2010). Damit hat das BVerfG seine Rechtsprechung der berühmten „Solange“-Entscheidungen von 1974 und 1986 konkretisiert, nach denen es eine Prüfungskompetenz von EU-Recht beansprucht hatte, „solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen… Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des GG adäquat ist“ (BVerfGE 37, 271, 185 – 2 BvL 52/71 - 29.05.1974; BVerfGE 73, 339, 375 – 2 BvR 197/83 - 22.10.1986). Nach „Lissabon“ scheint es den Vorrang des EU-Rechts mit Ausnahme extremer Kompetenzverletzungen zu akzeptieren, ja positiv zu befürworten, obwohl gerade die demokratische Legitimation des EU-Rechts vor allem mangels der weiterhin begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des EU-Parlaments (zur Wahl des EU-Kommissionspräsidenten durch das EU-Parlament nach Art. 17 Abs. 7 EUV, s. o.) immer noch umstritten ist (BVerfG 2 BvE 2/08 - 30.06.2009; vgl. zuletzt BVerfG 2 BvR 2728/13 - 21.06.2016 zum sog. „Outright Monetary Transactions“-Programm der EZB).
EU-Grundrechtecharta
Das entscheidende Kriterium ist also der Schutz der Grundrechte der EU-Bürger am Maßstab des Grundgesetzes (hierzu 2.2; sog. Vorbehalt der Verfassungsidentität, BVerfG 2 BvR 2735/14 - 15.12.2015 – Ablehnung der Auslieferung nach Italien trotz EU-Haftbefehl; hierzu Meyer 2016, 332). Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die EU-Grundrechtecharta von 2000 (hierzu Jarass 2010), die noch als Teil der ursprünglich geplanten EU-Verfassung gescheitert war (s. o.), aufgrund des Lissaboner Vertrages zwar nicht erweitert, aber doch zumindest in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung als unmittelbar geltendes EU-Recht anerkannt wurde (Art. 6 Abs. 1 EUV; eingeschränkter Geltungsbereich, sog. opt-out für Großbritannien, Polen und Irland). Nach Auffassung des EuGH gehörten die Grundrechte der Mitgliedstaaten ohnehin zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts (EuGH 21.09.1989 – 46/87, 227/88 - NJW 1989, 3080). Art. 53 der Grundrechtecharta weist zudem mit Blick auf das Schutzniveau darauf hin, dass keine Bestimmung der Grundrechtecharta im Sinne einer Verschlechterung der durch die nationalen Verfassungen begründeten rechtlichen Stellung der Bürger ausgelegt werden darf. Darüber hinaus hat sich die EU verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, s. 1.1.5.2) beizutreten, allerdings wurde der Beitritt bislang noch nicht vollzogen.
Recht auf Freizügigkeit
Teile des europäischen Rechts haben (nicht nur) für den Bereich der Sozialen Arbeit eine besondere Bedeutung. Die Angehörigen der EU-Staaten (sog. Unionsbürger, Art. 9 S. 2 EUV) haben im EU-Raum (also auch in Deutschland) im Wesentlichen dieselben Rechte, was sich insb. aus dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) und dem Recht auf Freizügigkeit ergibt. Unter Freizügigkeit wird dabei Unterschiedliches verstanden, insb. geht es um die ArbN-Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie um die Freiheit des Dienstleistungs- (Art. 56 AEUV) und Kapitalverkehrs (Art. 63 ff. AEUV). Der Freizügigkeitsgedanke, zunächst vor allem auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugunsten des zum 01.01.1993 errichteten einheitlichen europäischen Binnenmarktes ausgerichtet, führt im Alltagsleben vieler Unionsbürger zu erheblichen Erleichterungen und zu modernen Wanderungsbewegungen (zu rechtlichen Fragen der Migration s. III-7.2.1).
Der Binnenmarkt und seine Grundfreiheiten spielen auch eine erhebliche Rolle beim im März 2017 von Großbritannien angezeigten Austritt aus der EU („Brexit“). Einerseits waren die Einschränkungen der Zuwanderungskontrollen von Unionsbürgern aufgrund der ArbN-Freizügigkeit ein maßgebliches Argument zur Werbung für den Brexit, zudem muss im Rahmen der planmäßig zweijährigen Austrittsverhandlungen (Art. 50 Abs. 3 EUV) u. a. der dauerhafte Status der inzwischen in Großbritannien lebenden Unionsbürger ebenso geklärt werden wie derjenige von Briten in der EU. Andererseits will Großbritannien weiterhin einen möglichst ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt behalten. In Deutschland haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach § 2 Frei-zügG/EU das Recht auf Einreise und das Recht auf Aufenthalt. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten genügt insoweit allein ein gültiger Personalausweis bzw. Reisepass (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU).ArbN und Selbstständige können für die Dauer ihrer Berufstätigkeit bleiben, Arbeitsuchende sich jedoch nur bis zu sechs Monate im Land aufhalten, bei entsprechenden Nachweisen ggf. auch länger (§ 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU). Da für die Einreise kein Visum erforderlich ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU), ist der Ablauf dieser Frist allerdings schwer zu bestimmen und entsprechende Ausreiseverfügungen in der Praxis kaum umzusetzen. Nicht erwerbstätige Unionsbürger und begleitende Familienangehörige können über die drei Monate hinaus bleiben, sofern sie einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nachweisen können (§ 4 Frei-zügG/EU; zum Aufenthaltsrecht von sog. Drittstaatsbürgern s. III-8.2). Vom Erhalt existenzsichernder Sozialleistungen sind (auch) Unionsbürger ausgeschlossen, sofern sie im Inland nicht bereits berufstätig sind oder waren (§§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2b) und c) SGBII23 Abs. 3 SGBXII; s. dazu III-4.1.4 und III-4.2).Vor allem Unionsbürger aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten, die nicht Mitglieder des Europäischen Fürsorgeabkommens sind (s. 1.1.5.2), stellen für die Soziale Arbeit insb. in Ballungszentren eine große Herausforderung dar, weil sie in beachtlichen Größenordnungen in den Anlaufstellen der Wohnungslosenhilfe auftauchen, ohne häufig aber Ansprüche auf Integration in das deutsche Hilfesystem zu haben.
Schengener Abkommen
Ursprünglich nur völkerrechtlich verbindlich (s. 1.1.5.2), wurden mit den Schengener Abkommen (I von 1985, II von 1990) die stationären Personenkontrollen (also nicht die Zollkontrollen) an den Binnengrenzen abgeschafft und gleichzeitig an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten einheitliche Standards (einheitliche Einreisevoraussetzungen für Drittausländer, Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Polizei, elektronischer Fahndungsverbund) geschaffen. Dies führt einerseits zu Erleichterungen im Reiseverkehr der EU-Bürger, andererseits aber auch zu einer verstärkten Sicherung und Abschottung des EU-Gebiets vor der als bedrohlich angesehenen illegalen Einwanderung (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EUV). Mittlerweile ist der sog. Schengener Besitzstand in den meisten Mitgliedstaaten geltendes EU-Recht (nicht in Großbritannien und Irland; in Dänemark gilt „Schengen“ als völkerrechtliche Verpflichtung). Darüber hinaus sind dem Schengener Abkommen weitere Nicht-EU-Staaten beigetreten (z. B. Norwegen, Island und die Schweiz). Auswirkungen hat „Schengen“ insb. für das Ausländer/Zuwanderungsund Asylrecht (vgl. III-8) sowie das Strafverfahrensrecht (IV-1.3). Rahmenbeschlüsse, die auf der Grundlage der Bestimmungen des EU-Vertrages über die PJZS ergangen waren, verdrängen allerdings nationales Recht wohl nicht (str.; zum sog. Europäischen Haftbefehl vgl. BVerfG 18.07.2005 – 2 BvR 2236 / 04). Dieses wird allerdings z. T. aufgrund europäischer Vereinbarungen angepasst. So trat z. B. am 28.10.2010 das EuGeldG in Kraft, welches für Deutschland die grenzüberschreitende Vollstreckung insb. von Geldstrafen und Geldbußen in der Europäischen Union regelt und damit einen entsprechenden europäischen Rahmenbeschluss umsetzt.
Europäisches Sozialrecht
Obwohl die EU primär auf eine Wirtschafts- und Währungsunion ausgerichtet war und zu guten Teilen auch noch ist, ist sie als stabilisierender Faktor für Frieden, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte (vgl. auch Art. 2 und 3 EUV) nicht hoch genug einzuschätzen. Ziel der EU-Regelungen sind vor allem die Sicherung des freien Warenverkehrs (Art. 28 AEUV), des freien Wettbewerbs (Art. 101 AEUV) und das Diskriminierungsverbot im Hinblick auf EU-Bürger (Art. 18 AEUV). Das Sozialrecht bleibt dagegen im Wesentlichen die Domäne der Mitgliedstaaten. Mittlerweile kann man aber durchaus von einem Europäischen Sozialrecht sprechen (vgl. Eichenhofer 2013b; Fuchs 2012; Schrammel / Winkler 2010; Waltermann 2012, 41 ff.). Immerhin setzt sich die EU zum Ziel, soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen zu bekämpfen sowie soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes zu fördern (Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV). Die Eingliederung des Abkommens über die Sozialpolitik durch den Vertrag von Amsterdam (vgl. Art. 151 AEUV) hat die Sozialpolitik gestärkt, ohne dass dies allerdings die Primärzuständigkeit der nationalen Gesetzgeber aufgehoben hätte. Gemäß Art. 153 Abs. 4 AEUV sind wesentliche Bereiche der Sozialpolitik einer europäischen Rechtsangleichung immer noch entzogen, wozu insb. weite Bereiche der sozialen Sicherungssysteme gehören. Der Schwerpunkt des europäischen Sozialrechts liegt in der Koordination der sozialen Sicherungssysteme (Art. 48 AEUV, VO EG 883 / 04 und DVO EG 987 / 09; ehemals VO EWG 1408 / 71 – 14.06.1971, s. o.), ohne die der Binnenmarkt, insb. die ArbN-Freizügigkeit, nicht funktionieren würde. Anspruchsbegründende Regelungen finden sich im sozialrechtlichen Teil des EU-Rechts nicht (z. B. schließt Art. 3 Abs. 5 der VO EG 883 / 04 die Sozialhilfe ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich aus). Die EU gewährt also keine originären Sozialleistungsansprüche, vielmehr richten sich diese nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Zu beachten ist allerdings neben den Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Abkommen (z. B. EFA, s. nachfolgend 1.1.5.2) insoweit auch Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung (EWG) Nr. 1612 / 68, wonach legal zugewanderte ArbN die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießen wie inländische ArbN. Die EU besitzt darüber hinaus eine Förderungsund Unterstützungspflicht sowie teilweise eine Harmonisierungszuständigkeit (vgl. Art. 153 ff. AEUV). Die Rechtsprechung des EuGH deutet zudem auf eine Einschränkung des Territorialprinzips des § 30 SGB I hin: EU-Ausland).Aus den (Waren-, Dienstleistungs- und Unionsbürger-)Freizügigkeitsrechten hat der EuGH (s. 5.1.1.2) mittlerweile eine sog. passive Dienstleistungsfreiheit abgeleitet, also das Recht zum Erwerb von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland gegen Kostenerstattung durch die Sozialversicherung (z. B. Urteile v. 28.04.1998 – C 120 bzw. 158 / 95 bei Brillenkauf bzw. Zahnbehandlung) und damit mittelbar Rechtsansprüche für Empfänger insb. von Gesundheitsleistungen (Waltermann 2011, 44 ff.). Diese Rechtsprechung ist inzwischen auch schon im deutschen Sozialversicherungsrecht nachvollzogen worden (vgl. § 13 Abs. 4 SGB V,34 Abs. 1a SGB XI).
Der aufgrund Art. 162 AEUV eingerichtete Europäische Sozialfond (ESF) ist hingegen kein sozialrechtliches Instrument, sondern ein politisches Steuerungsmittel mit dem Ziel, innerhalb der Union die berufliche Verwendbarkeit und Mobilität der Arbeitskräfte sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme (insb. Finanzierung von Arbeitsmarktprogrammen) zu fördern.
Europäisches Vergaberecht
Nicht nur, aber eben gerade auch für den Sozialbereich relevant ist das europäische Vergaberecht, also die Regelungen, nach denen öffentliche Aufträge ab einem bestimmten Auftragswert (sog. Schwellenwert), der u. a. für soziale Dienstleistungen bei 750.000 € (ohne Mehrwertsteuer) liegt, nur nach vorheriger öffentlicher Ausschreibung vergeben werden dürfen. Das Vergaberecht beruht auf der RL 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe und wurde in Deutschland in den §§ 97 ff. des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und der Vergabeverordnung (VgV) umgesetzt (sog. Kartellvergaberecht). Grundprinzipen der europäischen Vergaberichtlinien sind die Transparenz, die Nichtdiskriminierung und die Chancengleichheit, damit öffentliche Auftraggeber möglichst wie Private am Markt auftreten und einen EU-weiten Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge eröffnen. Auch im Sozialbereich ist eine zunehmende Tendenz zur Ausschreibung sozialer Maßnahmen und Projekte festzustellen (insbes. im Bereich der Arbeitsförderung bei den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, z. B. nach § 45 Abs. 3 SGB III; vgl. exemplarisch für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe auch von Boetticher / Münder 2009, 23 ff. und 73 ff.). Problematisch ist dabei, dass bestimmte Grundprinzipien des Sozialrechts wie das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (§ 33 SGB I) sowie das Gebot der Pluralität des Leistungsangebotes und der Trägervielfalt (§ 17 SGB I) in Widerspruch zum vergaberechtlich grundsätzlich intendierten Exklusivitätsanspruch des Ausschreibungsgewinners für die Vertragslaufzeit stehen (von Boetticher / Münder 2009, 75). Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung bestand im Sozialbereich darin, dass die Ausschreibungsteilnahme von gemeinnützigen Trägern nicht zu gleichen Bedingungen möglich war. Denn die für die Preise des Leistungsangebotes durchaus relevanten steuerlichen Privilegien der Gemeinnützigkeit (§ 51 Abs. 2 AO i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 2 und § 2 Nr. 1 KStG) konnten bis zum Jahr 2009 nur von solchen Trägern in Anspruch genommen werden, die ihren Sitz oder zumindest ihre Geschäftsleitung in Deutschland hatten. Diese Ungleichbehandlung gegenüber (Non-Profit-)Anbietern aus einem anderen EU-Mitgliedstaat hat der EuGH als mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht vereinbar eingestuft (vgl. EuGH 14.09.2006 – C 386 / 04 – Stauffer / FA München – NJW 2006, 3765 ff.). Mit Wirkung vom 25.12.2008 wurde dieses Problem beseitigt, indem gemäß § 5 Abs. 2 Nr.2 KStG auch (Non-Profit-)Anbieter aus anderen EU-Mitgliedstaaten in Deutschland die Gemeinnützigkeitsanerkennung und die damit verbunden Vorteile beanspruchen können.
Europäisches Subventionsrecht
Darüber hinaus sind im Hinblick auf die Förderung freier Träger (vgl. z. B. §§ 74 f. SGB VIII, § 5 SGB XII) die Vorschriften über die Gewährung staatlicher Beihilfen zu beachten. Insbesondere untersagt Art. 107 Abs. 1 AEUV den Mitgliedstaaten generell, nur bestimmten Unternehmen – also auch freien, gemeinnützigen Trägern – staatliche Beihilfen (Subventionen) zu gewähren, wenn dadurch der Wettbewerb verzerrt und der grenzüberschreitende Handel bzw. Dienstleistungsverkehr beeinträchtigt werden. Im Einzelnen ist hier noch vieles umstritten, so z. B. was alles unter den Begriff der Beihilfen fällt – am EU-Recht kommt man aber in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht mehr vorbei (zu allen Fragen ausführlich Banafsche 2010, 162 ff.; von Boetticher / Münder 2009; Münder et al. 2013b, § 74 Rz. 4 –17).

http://eur-lex.europa.eu
https://europa.eu/european-union/index_de
1.1.5.2 Völkerrecht
Völkerrecht
Haager Abkommen
Im Unterschied zum supranationalen EU-Recht gehen völkerrechtliche Abkommen als sog. internationales Recht dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt vor. Vielmehr handelt es sich um Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen, die in der Regel innerstaatlich mittels eines Parlamentsgesetzes (Zustimmungsgesetz) ratifiziert und somit Bestandteil des innerstaatlichen Rechts werden. Einerseits handelt es sich um bi- oder multilaterale Abkommen, die dann nur im Verhältnis der entsprechenden Staaten zueinander (und damit auch etwa nur für deren jeweilige Staatsangehörige) Anwendung finden (z. B. das europäische Fürsorgeschutzabkommen). Andererseits gibt es Übereinkommen, die innerstaatlich unmittelbare Rechte und gegebenenfalls auch Pflichten für einzelne Personen begründen können. So wurde etwa das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH-Statut), das Straftaten gegen das Völkerrecht normiert, mit Gesetz vom 26.06.2002 in Deutschland ratifiziert (vgl. IV-2.1). Ein weiteres Beispiel ist auch das in Deutschland am 01.01.2011 in Kraft getretene Haager Kinderschutzübereinkommen 1996 (KSÜ; hierzu Schwarz 2011), welches nicht nur das anzuwendende Recht und die Zuständigkeit regelt, sondern die Bundesrepublik Deutschland zum Schutz aller unter 18 Jahre alten „Kinder“ verpflichtet, unabhängig davon, ob in den Vertragsstaaten ein anderes Alter der Volljährigkeit gilt (für über 18 Jahre alte Menschen, die wegen einer Beeinträchtigung oder psychischen Störung einer gesetzlichen Vertretung bedürfen, gilt das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen – ErwSÜ vom 13.01.2000) und unabhängig davon, ob die Kinder aus einem Vertragsland kommen oder nicht. Schutzmaßnahmen im Sinne des KSÜ sind neben familiengerichtlichen Maßnahmen (z. B. Bestellung eines Vormunds) alle Leistungen und Aufgaben insb. des SGB VIII (hierzu III-3), die im Interesse des Minderjährigen erforderlich sind (vgl. BGHZ 60, 68 ff.; Münder et al. 2013b, § 6 Rz. 13 ff.).
Weitere für die Soziale Arbeit wichtige Haager Übereinkommen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat, sind die Abkommen über
■ das auf Unterhaltsverpflichtungen anzuwendende Recht vom 02.03.1973,
■ die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf dem Gebiet der Unterhaltspflicht gegenüber Kindern vom 15.04.1958,
■ die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 02.10.1973,
■ die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (KiEntfÜ) vom 25.10.1980 (verpflichtet die Vertragsstaaten zur Rückführung eines Kindes bei Verletzung des Sorgerechts) sowie
■ den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (AsÜ) vom 29.05.1993.
Europäisches Fürsorgeschutzabkommen
Demgegenüber gilt die deutsch-schweizerische Fürsorgevereinbarung (vom 04.07.1952) bzw. das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 21.06.1999 (in Kraft seit 01.06.2002) nur für Schweizer Staatsangehörige. Das deutsch-österreichische Fürsorgeabkommen (vom 17.01.1966) gilt entsprechend nur für österreichische Bürger in Deutschland. Einen weiteren Anwendungsbereich hat das 1956 ratifizierte Europäische Fürsorgeschutzabkommen (EFA), das die Bundesrepublik Deutschland zu sog. Fürsorgemaßnahmen nur gegenüber Personen aus denjenigen Staaten verpflichtet, die ihrerseits diesem Abkommen beigetreten sind (Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien, Türkei), sofern sich diese Personen in erlaubter Weise in Deutschland aufhalten (so BVerwG 14.03.1985 – 5 C 145.83 – E 71, 139 ff.; zur Kritik daran Peter 2001, 180 f.).
Europäische Menschenrechtskonvention
Von Bedeutung ist vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die zunächst „nur“ einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, über dessen Einhaltung der Europäische Gerichtshof für Menschrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg wacht. Die EMRK ist in Deutschland im Jahr 1953 im Rang eines Bundesgesetzes (BVerfG 2 BvR 2365 / 09 – 04.05.2011) in Kraft getreten (verfahrensrechtliche Komponenten wurden neu geregelt durch das 11. Zusatzprotokoll v. 11.05.1994; ratifiziert am 24.07.1995, in Kraft seit 01.11.1998). Sie garantiert wesentliche zur Menschenwürde gehörende Grundrechte (u. a. Allgemeines Freiheitsrecht, Gewissens- und Religionsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Diskriminierungsverbot; s. u. 2.1.2.4). Wichtig ist vor allem die Sicherung wesentlicher Rechte im Strafverfahren (rechtliches Gehör und Verbot rückwirkender Strafdrohungen, Folterverbot), insb. prominent die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK (hierzu IV-3.1), die untrennbar mit der Menschenwürde verbunden sind. Für die Soziale Arbeit im Bereich der Jugend- und Familienhilfe (III-3) sowie im Hinblick auf den Datenschutz im gesamten Sozialrecht (hierzu III-1.2.3) ist auch Art. 8 EMRK mit dem dort garantierten Schutz des Privat- und Familienlebens von besonderer Bedeutung. So wurde etwa im Jahr 2004 in der Görgülü-Entscheidung des EGMR festgestellt, dass die Nichtgewährung des Umgangsrechts für den nichtehelichen Vater mit seinem Sohn einen Verstoß gegen Art. 8 ERMK darstellt. Das BVerfG hat als Reaktion hierauf betont, dass alle deutschen Behörden und Gerichte die Gewährleistungen der EMRK und die Entscheidungen des EGMR bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen haben (BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481 / 04).
UN-Menschenrechtsabkommen
Zum Völkerrecht gehören auch eine Reihe von Menschenrechtsabkommen, insb. die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (ICESCR, beide in Kraft seit 1976) sowie die diese Pakte ergänzenden (sog. Fakultativ-)Protokolle (von 1976 und 1989). Der Inhalt der Pakte knüpft im Wesentlichen an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) an, die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen formuliert wurde. Die darin verankerten Rechte sind nicht zuletzt durch die Tätigkeit von Amnesty International in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt worden.






