Kurt Tucholsky – Gesammelte Werke – Prosa, Reportagen, Gedichte

- -
- 100%
- +
»Seht ihr, da hinten liegt der Friedhof! Doch, wir schaffen das noch bis zum Abendbrot – also!« Wir gingen rascher. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, dann wurden die Windstöße stärker, ein hauchzarter Regen fiel. Manchmal trug der Wind etwas wie Meeresatem herüber, von der See, von der Ostsee.
Nun waren wir angelangt, da war eine kleine Holztür, und über die niedrige Steinmauer ragten alte Bäume. Es war ein alter Friedhof; man sah das an den verwitterten, ein wenig zerfallenen Gräbern auf der einen Seite. Auf der andern standen die Gräber hübsch ordentlich in Reih und Glied … gut gepflegt. Es war ganz still; wir waren die einzigen, die die Toten heute nachmittag besuchten – die wen besuchten? Man besucht ja nur sich selber, wenn man zu den Toten geht.
»Welche Reihe …? Warte mal, das hat sie hier im Brief aufgeschrieben. Achtzehnte … nein, vierzehnte … eins, zwei … vier, fünf …« Wir suchten. »Hier«, sagte Billie.
Da war das Grab. So ein kleines Grab.
WILHELM COLLINGEBOREN … GESTORBEN …und ein paar windverwehte Blumen. Wir standen. Niemand sprach. Ob das nun der Auftritt von vorhin war oder die Tatsache, daß es so ein winzig kleines Grab war, dieser Gegensatz zwischen der Inschrift Wilhelm Collin und dem Hügelchen – das war doch in Wahrheit noch gar kein Wilhelm gewesen, sondern ein wehrloses Bündelchen Fleisch, das man hätte beschützen sollen … Eine Träne fing ich nicht mehr, sie rollte. »Heul nicht«, sagte die Prinzessin, die zwinkerte, »heul nicht! Die Sache ist viel zu ernst zum Weinen!« Ich schämte mich vor Billie, die uns mitleidsvoll ansah. Ihre Augen blickten warm. Sie sagte leise etwas zur Prinzessin, und als nun beide zu mir herübersahen, fühlte ich, daß es etwas Freundliches gewesen sein mußte. Ich vergaß, daß ich Billie begehrt hatte, und flüchtete zu der Prinzessin.
In Gripsholm meldeten wir Zürich an.
3»Da liegt sozusagen die Sittlichkeit mit der Moral im Streite«, sagte die Prinzessin, und wir lachten noch, als wir uns an den großen Tisch in unserm Zimmer setzten. Die Schloßfrau hatte Billie auseinandergesetzt, es wäre gar nicht wahr, daß »alle Schweden immer nackt badeten«, wie man so oft sagen hörte. Gewiß, manchmal, in den Klippen, wenn sie unter sich wären … aber im übrigen wären es Leute wie alle andern auch, wenig wild nach irgendeiner Richtung, es sei denn, daß sie gern Geld ausgäben, wenn einer zusähe.
Draußen fiel der Regen in perlenden Schnüren.
»Das ist aber ein fröhlicher Regen«, sagte Billie. Das war er auch. Er rauschte kräftig, oben am Himmel zogen schwarz-braune Wolken rasch dahin, vielleicht waren nur wir es, die so fröhlich waren, trotz alledem. Das war schön, hier in der trockenen Stube zu sitzen und zu sprechen. Was hatte Billie für ein Parfüm? »Billie, was haben Sie für ein Parfüm?« Die Prinzessin schnupperte. »Sie hat sich etwas zusammengegossen«, sagte sie. Billie wurde eine Spur rot – schien mir das nur so? »Ja, ich habe gepanscht. Ich mache mir da immer so etwas zurecht …«, aber sie sagte die Namen nicht.
»Billie, hilf mir mal – kannst du das? Guck mal!« Die Prinzessin löste seit gestern an einem schweren Silbenrätsel herum. »Ich habe hier: Hochland in Asien … doch, das habe ich. Aber hier: Orientalischer Männername … Wendriner? Nein, das kann ja wohl nicht stimmen – Katzenellenbogen …? Auch nicht … Fritzchen! Sag du!« – »Wie heißt er denn nun eigentlich?« fragte Billie entrüstet. »Mal sagst du Peter zu ihm und mal Daddy und jetzt wieder Fritzchen …!« – »Er heißt Ku-ert …«, sagte die Prinzessin. »Ku-ert … Dascha gah kein Nomen – wenn hei noch Fänenand oder Ullerich heiten deer, as Bürgermeister sinen!« Verachtung auf der ganzen Linie. Aber nun war Billies Bildungsdrang gereizt; die beiden Köpfe beugten sich über das Zeitungsblatt. Ich saß faul daneben und sah zu. Und da, so vor den beiden … Kikeriki – machte es in mir ganz leise, Kikeriki … Sie tuschelten und kuderten vor Lachen. Ich zog an der neuen Pfeife, die nun schon ein wenig angeraucht war, und saß mit einer Miene da, die gutmütige Männerüberlegenheit andeuten sollte. Eben hatte Billie etwas gesagt, was man bei einigermaßen ausschweifender Phantasie auch sehr zweideutig nehmen konnte, die Prinzessin sandte mir blitzschnell einen Blick herüber: Es war wie Einverständnis zwischen Verschworenen. Nachtverschworene … Am Tage wurde fast nie von der Nacht gesprochen – aber die Nacht war im Tag, und der Tag war in der Nacht. »Liebst du mich noch?« steht in den alten Geschichten. Erst dann – erst dann!
Sie warfen das Rätsel hin. »Wir wollen es nach dem Abendbrot noch einmal versuchen«, sagte Billie. »Schlaft ihr hier eigentlich gut ein? Ich muß mich sonst immer in Schlaf lesen – aber hier geht es so schnell …« – »Du mußt es machen wie die Baronin Firks«, sagte die Prinzessin. »Die Baronin Firks war natürlich aus Kurland, und die Kurländer, das sind die Apotheker Europas –: sie haben alle einen leichten Klaps. Und wenn die alte Dame nachts nicht einschlafen konnte, dann setzte sie sich auf ein Schaukelpferd und schaukelte so lange, bis … Ja? Was ist?« Es hatte geklopft. Ein Kopf in der Tür. »Das Telephon? Zürich!« Wir liefen alle drei.
Kleiner Kampf am Apparat. »Laß mich … kannste da nich mal weggehn … Harre Gott … Laß mich doch mal!« Ich.
»Hallo!« Nichts. Wie immer bei Ferngesprächen: erst nichts. Man hörte es in der Membrane leise surren. Diese Geräusche sind je nach den Ländern, in die man telephoniert, verschieden; aus Frankreich zum Beispiel läuft ein silberhelles Gewässer durch die Drähte, und man bekommt solche Sehnsucht nach Paris … Hier surrte es. Sie hatten wohl wegen der politischen Konferenzen neue Kupferdrähte nach der Schweiz … »Mariefred? Bitte melden Sie sich!« – Und dann deutlich, aber leise eine klagende Stimme. Frau Collin.
»Hier ist Frau Collin. Sie haben mir geschrieben? Wie geht es denn Ada?« – »Ich will Sie nicht beunruhigen – aber sie muß da heraus.« – »Ja, warum denn? Um Gottes –« – »Nein, mit der Gesundheit ist das Kind in Ordnung. Aber ich schreibe Ihnen heute abend noch einmal ausführlich – diese Frau Adriani ist eine unmögliche Erzieherin. Das Kind macht einen so verängstigten Eindruck, es …« Und ich packte aus. Ich schmetterte es alles aus mir heraus, die ganze Wut und das ganze Mitleid und die Ranküne wegen der Niederlage heute nachmittag und meinen Abscheu vor solchen Herrschweibern … alles packte ich aus. Und die Prinzessin wackelte wild hetzend mit der Faust. Frau Collin blieb einen Augenblick still. »Hallo?« – »Ja, was machen wir denn da …?« Die Prinzessin stieß mich und zischelte etwas. Ich wehrte mit dem Kopf ab: Laß!
»Ich schlage Ihnen vor, daß Sie uns einen Brief schreiben, mit dem wir das Kind abholen können. Schicken Sie uns bitte einen Scheck über das, was Sie dort mutmaßlich schuldig sind … wenn’s mehr ist, will ich das gern auslegen. Und schreiben Sie es nicht der Frau: sonst wird sie das Kind nicht gleich entlassen, sondern sie wird es noch quälen – schreiben Sie also uns. Ihre Schrift kennt die Frau Adriani ja. Also, einverstanden?«
Pause der Unentschlossenheit. Ich gab eine Berliner Referenz. »Ja, wenn Sie meinen … Ach … aber wo soll ich denn dann mit dem Kind hin?« – »Ich habe in der Schweiz zu tun – ich bringe Ada zu Ihnen, und wir werden schon anderswo etwas für sie finden; aber da muß sie heraus. Wirklich – das geht nicht. Einverstanden?«
Die Stimme klagte, klang aber ein wenig fester. »Es ist so nett, wie Sie mir helfen. Sie kennen mich doch gar nicht!« – »Ich habe das da gesehen, wissen Sie … das geht nicht. Also gemacht?« – »Jawohl. Wir wollen das so machen.« Und noch einiges verbindliche Hin und Her. Knack. Abgehängt. Aus. Die beiden tanzten einen wilden Tanz, einmal ums ganze Zimmer. Ich behielt den Hörer noch einen Augenblick in der Hand. »Gott sei Dank …«, sagte ich. – »Ob sie es nun auch tut?« fragte die Prinzessin, noch ein wenig atemlos. »Was hat sie gesagt?« fragte Billie. Nun war sie schon etwas mehr bei der Sache – gar nicht mehr so höflich-teilnehmend wie heute nachmittag. Feldzugskamerad Billie … Ich berichtete. Und dann tanzten wir alle drei.
»Dascha wunnerbor!« sagte Lydia. »Wann kann ihr Brief hier sein? Heute ist Dienstag. Mittwoch … Donnerstag … In drei Tagen, wie?« Wir schrien alle durcheinander und waren so vergnügt. In mir war so etwas wie: Wohltun schmeckt süß, Rache trägt Zinsen, und liebe deinen Nächsten wie der Hammer den Amboß. »Darf ich die jungen Damen auf die Weide treiben?« Wir gingen zum Essen.
»Billie!« sagte ich, »wenn das der alte Geheimrat Goethe sähe! Wasser in den Wein! Wo haben Sie denn diese abscheuliche Angewohnheit her! sagte er zu Grillparzer, als der das tat. Oder hat er es zu einem andern gesagt? Aber gesagt hat er es.« – »Ich vertrage nichts«, sagte Billie, und ihre Stimme klang, wie wenn ein silberner Ring in einen Becher fällt … »Verträgt Margot vielleicht mehr?« fragte die Prinzessin. »Margot …«, sagte Billie und lachte. »Ich habe sie mal gefragt, was sie wohl täte, wenn sie beschwipst wäre. Sie war es nämlich noch nie. Sie hat gesagt: Wenn ich betrunken bin, das stelle ich mir so vor – ich liege unter dem Tisch, habe den Hut schief auf und sage immerzu Miau!« Das wurde mit einem sanften Rotwein begossen; Billie schluckte tapfer, die Prinzessin sah mich an, schmeckte und sprach: »Ich mache mir ja nichts aus Rotwein. Aber wenn das der selige Herr Bordeaux wüßte …«, und dann sprachen wir wieder von Zürich und von dem kleinen Gegenstand, und Billie wurde munter, wohl weil sie uns Rotwein trinken sah. Die Prinzessin blickte sie wohlgefällig von der Seite an.
Ich gähnte verstohlen. »Na, schickst all een to Bett?« fragte die Prinzessin.
»Ich schreibe noch den Brief an die Frau. Löst ihr nur euer Rätsel!« Sie lösten. Ich schrieb.
Was die Schreibmaschine heute nur hatte! Manchmal hat sie ihre Nücken und Tücken, das Luder; dann verheddern sich die Hebel, nichts klappt, das Farbband bleibt hacken, gleich schlage ich mit der Faust … »Hö-he-he!« rief die Prinzessin herüber. Sie kannte das, und ich schrieb beschämt und ruhiger weiter. So, das war fertig. Vielleicht ist der Brief zu schwer … Haben wir hier keine Briefschaukel? »Ich bringe ihn noch auf die Post!«
Es regnete. Schön ist das, durch so einen frischen Regen zu gehn … Wie heißt der alte Spruch? Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur gute Kleider. Nun, es gibt schon schlechtes Wetter; es gibt mißratenes Wetter, es gibt leeres Wetter, und manchmal ist überhaupt kein Wetter. Der Regen befeuchtete mir die Lippen; ich schmeckte ihn und atmete tief: Es ist doch hier weiter gar nichts. Ferien, Schweden, die Prinzessin und Billie – aber dies ist einer jener Augenblicke, an die du dich später einmal erinnern wirst: Ja, damals, damals warst du glücklich. Und ich war es und dankbar dazu.
Zurück.
»Na, habt ihr gelöst?« – Nein, sie lösten noch und waren grade in eine erbitterte Streiterei geraten. »Vater der Kirchengeschichte …«, sie mußten da irgendeinen Unsinn gemacht haben, denn für dieses eine Wort hatten sie noch acht Silben übrig, darunter: e-di-son, und obgleich der ja nun viel in seinem Leben getan und seine ganze Zeit umgestaltet hat: Kirchengeschichte hatte er doch wohl nicht … »Löst das nachher!« sagte ich. »Wann nachher?« fragte Billie. »Da schlafen wir.« – »Billie schläft überhaupt heute bei mir«, sagte die Prinzessin. »Du kannst nebenan in der Kemenate schlafen!« – »Hurra!« riefen die beiden. »Macht es Ihnen etwas?« fragte mich Billie. »Aber …!« Und sie lief davon und holte ihre Sachen, jene Kleinigkeiten, die jede Frau braucht, um glücklich zu sein. »Du gefällst ihr, mein Sohn«, sagte die Prinzessin. »Ich kenne sie. Ist sie nicht wirklich nett?« Und die Prinzessin begann umzuräumen und Billies Zimmer nachzusehn, und es gab eine furchtbare Aufregung. »Wohin soll ich die Blumen stellen?« – »Stell sie auf den Toilettentisch!«
Es war kein alter Bordeaux – aber es war ein schwerer Bordeaux. Das Zimmer lag im abgeblendeten Schein der Lampen, es war so warm und heimlich, und wir kuschelten uns.
»Schon?« fragte ich. Die Damen wollten schlafen gehn. »Aber wenn ihr im Bett seid«, sagte ich, »dann laßt die Tür noch offen – damit ich höre, was ihr euch da erzählt!« Ich ging und zog mich aus. Dann klopfte ich. »Willst du …!« sagte die Stimme der Prinzessin. »Wird hier ehrsame Damens bei der Toilette stören! Mädchenschänder! Wüstling! Blaubart! Ein albernes Geschlecht –!« Wo aber war mein Eau de Cologne? Mein Eau de Cologne war da drin – so ging das nicht! Man ist doch ein feiner Mann. Ich klopfte wieder. Geraschel. »Ja?« Ich trat ein.
Sie lagen im Bett, Billie in meinem: sie hatte einen knallbunten Pyjama an, auf dem hundert Blumen blühten, jetzt sah sie aus, wie die wilde Lieblingsfrau eines Maharadschas … sie lächelte ruhig in ihr Rätselblatt. Sie war beinah schön. »Was willst du?« fragte die Prinzessin. »Mein Eau …« – »Haben wir all ausgebraucht!« sagte sie. »Nu wein man nicht – ich kauf dir morgen neues!« Ich brummte. »Habt ihr denn fertig gelöst?« – »Wenn wir dich brauchen, rufen wir dich … Gute Nacht darfst du auch sagen!« Ich ging an sie heran und sagte artig zu jeder gute Nacht, mit zwei tiefen Verbeugungen. »Billie, was haben Sie für ein schönes Parfüm!« Sie sagte nichts; ich wußte, was es war. Das Parfüm »arbeitete« auf ihrer Haut – es war nicht das Parfüm allein, es war sie. Und sie hatte für sich das richtige ausgewählt. Die Prinzessin bekam einen Kuß, einen ganz leise bedauernden Kuß. Dann ging ich. Die Tür blieb offen.
»Halbedelstein –«, hörte ich Billie sagen. »Halbedelstein … Laß mal: Saphir … nein. Rubin … nein. Opal … auch nicht. Lydia!« – »Topas!« rief ich aus meinem Zimmer. »Ja – Topas! Du bist ein kluges Kind!« sagte die Prinzessin. »Nun – nein, so geht das nicht – laß doch mal –« Jetzt rauften sie, die Betten rauschten, Papier knatterte … »Hiii –!« rief Billie in einem ganz hohen Ton. Etwas zerriß. »Du dumme Person!« sagte die Prinzessin. »Komm – jetzt schreiben wir das noch mal auf dies Papier … da stimmt doch was nicht! Wir haben eben falsch ausgestrichen …« – »Der Doktor Pergament kann Silbenrätsel ohne Bleistift lösen!« rief ich. Sie hörten gar nicht zu. Sie waren wohl sehr eifrig bei der Arbeit. Pause. Die Prinzessin: »Hauch … Hast du sowas gesehn? Was ist Hauch?« – »Atem!« sagten Billie und ich gleichzeitig. Es war wie ein Einverständnis. Wieder raschelten sie. »Das ist ja ganz falsch! Der Inbegriff alles sinnlich Wahrnehmbaren – sinnlich Wahrnehmbaren …« Jetzt waren sie offenbar am Ende ihres Lateins, denn nun wurde es ganz still – man hörte gar nichts mehr. »Ich weiß nicht …«, sagte die Prinzessin. »Das ist bestimmt ein Druckfehler!« – »Druckfehler bei Silbenrätseln gibt es nicht!« rief ich. – »Du halt deinen Schnabel, du alte Unke!« – »Laß doch mal …« – »Gib mal her …« – »Weißt du Rats?« Beide: »Wir wissen nichts.« – »Es muß ein Erwachsener kommen«, sagte ich. »Da laßt mich mal ran.« Und ich stand auf und ging hinein. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich zur Prinzessin. Einen Augenblick lang hatte der Stuhl in meiner Hand geschwankt; er wollte zu Billie, der Stuhl. »Also – gebt mal her!« Ich las, warf das Papier herunter, hob es wieder auf und probierte mit dem Bleistift auf einem neuen Blatt. Die beiden sahen spöttisch zu. »Na?« – »So schnell geht das nicht!« – »Er weiß ja auch nicht!« sagte Billie. »Wir wollen erst mal alle in den Rotwein steigen!« sagte ich. Das geschah.
»Sehr hübsch«, sagte die Prinzessin. »Rotweinflecke haben Hausfrauen gern, besonders auf Bettwäsche. Du altes Ferkel!« Das galt mir. »Die gehn doch raus«, maulte ich. »Salzflecke werden gereinigt, indem man Rotwein darüber gießt«, lehrte die Prinzessin. Und dann lagen sie wieder beide bäuchlings an ihrem Blatt und lösten. Und es ging nicht vorwärts. Billie hatte die Haare aus der Stirn gestrichen und sah wie ein Baby aus. Wie ein Babybild von Billie. Wie rund ihr Gesicht war, wie rund. »Ge … Geweihe –!« schrie Billie. »Geweihe! Für Jagdtrophäen! Siehst du, das haben wir vorhin nicht gewußt! Aber wohin gehört chrys – chrys …« – »Ich auch!« Nun lag ich halb auf dem Bett, bei der Prinzessin, und starrte angestrengt auf die Bleistiftschreiberei. »Chrysopras!« sagte ich plötzlich. »Chrysopras! Gebt mal her!« Die beiden schwiegen bewundernd, und ich genoß meine lexikalische Bildung. Wir horchten. Ein Windstoß fuhr gegen die Scheiben, draußen trommelte der Nachtregen.
»Kalt ist das …«, sagte ich. »Komm zu mir!« sagte die Prinzessin. »Du erlaubst doch, Billie?« Billie erlaubte. Ganz still lag ich neben der Prinzessin.
»Gestalt aus Shakespeares Sturm …« Allmählich rann die Wärme Lydias zu mir herüber. Mir lief etwas leise den Rücken hinunter. Billie rauchte und sah an die Decke. Ich legte meine Hand hinüber – sie nahm sie und streichelte mich sanft. Ihr Ring blitzte matt. Noch lagen wir beieinander wie junge Tiere – wohlig im Zusammensein und froh, daß wir beisammen waren: ich in der Mitte, wie geborgen. Billie fing an, in der Kehle zu knurren. »Was knurrst du da?« sagte Lydia. »Ich knurre«, sagte Billie. Gestalt aus Shakespeares Sturm … War es das Wort? Das Wort Sturm? Wenn Bienen andre Bienen zornig summen hören, werden sie selber zornig. War es das Wort Sturm? Oben in den Schulterblättern begann es, ich dehnte mich ein ganz klein wenig, und die Prinzessin sah mich an. »Was hast du?« Niemand sagte etwas. Billie knackte mit meinen Nägeln. Wir hatten das Blatt sinken lassen. Es war ganz still.
»Gib mal Billie einen Kuß!« sagte die Prinzessin halblaut. Mein Zwerchfell hob sich – ist das der Sitz der Seele? Ich richtete mich auf und küßte Billie. Erst ließ sie mich nur gewähren, dann war es, wie wenn sie aus mir tränke. Lange, lange … Dann küßte ich die Prinzessin. Das war wie Heimkehr aus fremden Ländern.
Sturm!
Als Zephir begann es – wir waren »außer uns«, denn jeder war beim andern. Es war ein Spiel, kindliche Neugier, die Freude an einer fremden Brust … Ich war doppelt, und ich verglich; drei Augenpaare sahen. Sie entfalteten den Fächer: Frau. Und Billie war eine andre Billie. Ich sah es mit Staunen.
Ihre Züge, diese immer ein wenig fremdartigen Züge, lösten sich; die Augen waren feucht, ihre Gespanntheit wich, und sie dehnte sich … Der Pyjama erblühte bunt. Nichts war verabredet, alles war wie gewohnt – als müßte es so sein. Und da verloren wir uns.
Es war, wie wenn jemand lange mit seinem Bobsleigh am Start gestanden hatte, und nun wurde losgelassen – da sauste der Schlitten zu Tal! Wir gaben uns jenem, der die Menschen niederdrückt und aufhebt, zum tiefsten und höchsten Punkt zugleich … ich wußte nichts mehr. Lust steigerte sich an Lust, dann wurde der Traum klarer, und ich versank in ihnen, sie in mir – wir flüchteten aus der Einsamkeit der Welt zueinander. Ein Gran Böses war dabei, ein Löffelchen Ironie, nichts Schmachtendes, sehr viel Wille, sehr viel Erfahrung und sehr viel Unschuld. Wir flüsterten; wir sprachen erst übereinander, dann über das, was wir taten, dann nichts mehr. Und keinen Augenblick ließ die Kraft nach, die uns zueinander trieb; keinen Augenblick gab es einen Sprung, es hielt an, eine starke Süße erfüllte uns ganz, nun waren wir bewußt geworden, ganz und gar bewußt. Vieles habe ich von dieser Stunde vergessen – aber eins weiß ich noch heute: wir liebten uns am meisten mit den Augen.
»Mach das Licht aus!« sagte Lydia. Das Licht erlosch, erst die große Krone im Zimmer, dann das Lämpchen auf dem Nachttisch.
Wir lagen ganz still. Am Fenster war ein schwacher Schein. Billies Herz klopfte, sie atmete stark, die Prinzessin neben mir rührte sich nicht. Aus den Haaren der Frauen stieg ein Duft auf und mischte sich mit etwas Schwachem, was die Blumen sein mochten oder das Parfüm. Sanft löste sich Billies Hand aus der meinen. »Geh«, sagte die Prinzessin, fast unhörbar.
Da stand ich nebenan im Zimmer Billies und sah vor mich hin. Kikeriki – machte es ganz leise in mir, aber das war gleich vorbei, und ein starkes Gefühl der Zärtlichkeit wehte zu denen da hinüber. Ich legte mich nieder.
Sprachen sie? Ich konnte es nicht hören. Ich stand wieder auf und kroch unter die Dusche. Eine süße Müdigkeit befiel mich – und ein fast zwanghafter Trieb, hinzugehn und ihnen Rosen auf die Decke … wo bekommt man denn jetzt nachts Rosen her … das ist ja – Jemand war an der Tür.
»Du kannst gute Nacht sagen!« sagte die Prinzessin. Ich ging hinein.
Billie sah mich lächelnd an; das Lächeln war sauber. Die Prinzessin lag neben ihr, so still. Zu jeder ging ich, und jede küßte ich leise auf den Mund. »Gute Nacht …« und »Gute Nacht …« Kräftig rauschten draußen die Bäume. Eine Sekunde stand ich noch am Bett.
»Wie ist denn das alles so plötzlich gekommen?« sagte die Prinzessin leise.
Fünftes Kapitel
Das war ein Wurf! sagte Hans –da warf er seine Frau zum Dachfenster hinaus.1Einer von den Tagen, wie sie sonst nur im Spätsommer vorkommen: bunt, gesättigt und windstill. Wir lagen am Seeufer.
Ein paar Meter vor uns schaukelte ein Boot, unser Badeboot – das Wasser gluckste leise gegen das Holz, auf und ab, auf und ab … Wenn man die Hand ins Wasser hielt, gab das ein winziges Kältegefühl, dann zog man sie wieder heraus, und dann trockneten die Tropfen in der Luft. Ich rauchte einen Grashalm, die Prinzessin hielt die Augen geschlossen. »Heute ist vorgestern«, sagte sie. Das war so ihre Art der Zeitrechnung; da wir übermorgen fortfahren wollten, so war heute vorgestern.
»Wo mag sie jetzt sein?« fragte ich. Die Prinzessin sah auf die Uhr: »Jetzt ist sie zwischen Malmö und Trälleborg«, sagte sie; »in einer Stunde steigt sie auf die Fähre.« Dann schwiegen wir wieder. Billie – dachte ich – Billie …
Sie war abgefahren: leise, heiter, froh – und es war nichts gewesen, es war nichts gewesen. Ich war glücklich; es hatte keinen Schatten gegeben. Gott sei Dank nein. Ich sah zur Prinzessin hinüber. Sie mußte den Blick gespürt haben; sie öffnete die Augen.
»Wo bleibt die Frau Collin? Watt seggst to det Ei? Hett de Katt leggt!«
Die Frau Collin hatte nicht geschrieben – und wir wollten doch fort. Wir mußten fort; unser Urlaub war abgelaufen. Noch einmal telephonieren? Schließlich und endlich … »Diese dämliche Person«, schimpfte ich vor mich hin. »Man muß doch das Gör da herauskriegen! Himmelhergottdonner …« – »Daddy, du repräsentierst ein Volk!« sagte die Prinzessin würdevoll, als ob uns die schwedischen Bäume hören könnten. »Du sollst des Anstands gedenk sein!« Ich sagte ein zweisilbiges Wort. Woraufhin mich die Prinzessin mit etwas Mälarsee anspritzte. Und da wollte ich sie in den See werfen. Und da lag ich drin.
Ich pustete sie mit Wasser voll wie ein Elefant, sie warf mir Hölzchen an den Kopf … dann legte sich das alles. Ich kroch heran, und wieder saßen wir friedlich zusammen.
»Was machen wir aber wirklich?« fragte ich triefend. »Warten? Wir können nun nicht mehr warten! Du mußt am Dienstag zu Hause sein, und auf mich lauern sie auch. Mal muß der Mensch doch wieder arbeiten! Hier vertue ich meine kostbare Zeit mit dir …« Sie hob drohend den Arm. Ich rückte ein Stückchen weg. »Ich meinte nur. Aber wollen wir telephonieren? Ja?«
»Nun wollen wir erst mal zu Ende baden«, sagte die Prinzessin. »Wenn wir nachher nach Gripsholm kommen, werde ich dir alles sagen. Holla – hopp!«
Und wir schwammen.
»Paß auf –«, pustete ich dazwischen, »sie wird es nicht tun, die Frau Collin. Wahrscheinlich hat sie sich das überlegt – ich hatte so den Eindruck, daß sie den kleinen Gegenstand gar nicht bei sich haben will – vielleicht führt sie ein uhrenhaftes Leben …« Die Prinzessin kniff mich ins Bein. »Oder sie traut uns nicht und denkt, wir werden das Kind entführen. Aber der Frau Adriani hat sie getraut. Na, du wirst es sehen! Diese Weiber! Aber das sage ich dir, Alte: wenn sie heute nicht schreibt! Nie wieder in meinem Leben kümmere ich mich um fremde Kinder. Um fremde nicht! Um deine auch nicht! Um meine auch nicht! Himmelkreuzund …« – »Daddy«, sagte die Prinzessin. »Solang as ich dir kenn, hältst du ümme weise Redens über das, wasse tun wirst, und mehrstenteils kommt nachher allens ganz anners. Aber dascha so bei die Männers. Bischa mallrig!« – »Ich werde …« – »Ja, du wirst. Wenn sie dir das Futurum wegnehmen, dann bleibt da aber nicht viel.« – »Person!« – »Selber!« Huburr der ganze See fing an zu schaukeln, weil wir eine wilde Seeschlacht veranstalteten. Dann schwammen wir ans Ufer.
Auf dem Wege zum Schloß: »Mein Alter hat gar nicht geschrieben … sie werden ihn doch nicht in Abbazia an ein öffentliches Haus verkauft haben?« – »Na, ob da Bedarf für ist …« – »Daddy, wo ist eigentlich der Dackel?« – »Dein Kofferdackel?« – »Ja.« – »Der steht doch … der steht unter meinem Bett. Nachts bellt er.« Wir gingen ins Haus.
Die Prinzessin pfiff wie ein Lockvogel. Was gab’s?
Der Brief war da – ein dicker Brief. Sie riß ihn auf, und ich nahm ihn ihr fort, dann flatterten die Bogen auf den Boden, wir sammelten sie auf und brachen in ein fröhliches Geschrei aus. Da war alles, alles, was wir brauchten.